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Rotverschmiert

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27.12.2020
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Rotverschmiert

Sonne. Zum ersten Mal seit langem Sonne. Ich spürte die Wärme endlich wieder auf meiner Haut. In meiner linken Hand ein Koffer, in der rechten die Entlassungspapiere. Nach zehn Jahren verließ ich die Klinik endlich. Der heutige Tag war der schönste seit Langem. Ich schritt auf das Taxi zu, aus welchem mir der Fahrer bereits ungeduldig zurief, dass ich einsteigen solle. Ich lud den Koffer ein und stieg in das Auto. Der Fahrer brachte mich zu meinem neuen Zuhause.
„Und wovon haben sie dich geheilt? Haste wen ermordet, weil es dir die Stimmen gesagt haben?“, fragte er plötzlich.
„Das hat Sie einen Scheiß zu interessieren.“
„Oh, haben dir die Stimmen auch gesagt, dass du niemandem davon erzählen solltest? Dann bin ich mal lieber still“, entgegnete er mir mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.
„Halten Sie den Mund!“
Verdammt, ich sollte ruhig bleiben; er würde sofort umdrehen, wenn ich ihm einen Grund gäbe das zu tun.
„Paranoia“, fügte ich hinzu. „Ich war nicht verrückt oder so was. Nur etwas paranoid. Lag wohl in den Genen.“
„Manche Leute wären wohl besser als Fleck auf dem Laken geendet.“
Er lachte. Dreckiger Wichser.
Ich sah das Haus, wir waren fast da. Es war viel größer als ich es in Erinnerung hatte. Er fuhr auf den Parkplatz, ich stieg aus und ging auf die große Tür zu. Zum Glück übernahm die Klinik die Fahrtkosten.
Das alte Haus war groß und dunkel von innen. Schmutz hatte sich auf dem Dielenboden angesammelt und überall hingen Spinnenweben. Es war mein Elternhaus, wo meine Großeltern, Eltern und ich aufgewachsen waren. Als es mit meinen Großeltern zu Ende ging waren sie ins untere Stockwerk gezogen. Die Treppen schafften sie nicht mehr. Eines Abends hatten wir von unten einen Schrei gehört. Dort angekommen war Großmutter uns mit Tränen in den Augen entgegengekommen. Sie hatte uns in das Wohnzimmer geführt, wo Großvater tot im Sessel saß. Die Augen offen, die noch brennende Zigarette zwischen den Fingern. Das Bild meines Großvaters hatte mich vollkommen verstört. Wie er dort gesessen hatte, so lebendig und doch so leblos. Es wirkte irgendwie surreal den Sessel wiederzufinden, als ich durch das Haus ging. Direkt neben dem Sessel lag ein Medikamentenglas. Darauf gedruckt der Name meiner Großmutter. Die Medizin hatte sie bekommen, damit sie nach Großvaters Tod wieder schlafen konnte. Im Glas waren noch einige Tabletten. Großmutter war nur wenig später gestorben. Ich wusste nicht mehr warum. Ich erinnerte mich an Weniges aus dieser Zeit, aber das Bild meines Großvaters war mir klar im Kopf erhalten. Die untere Etage war nach ihrem Tod leer geblieben. Mutter meinte der Tod hätte diesen Ort verschmutzt, sie wollte lieber in der oberen Etage bleiben. Sie hatte die untere Etage danach nie wieder betreten.
Ich stieg die verstaubte Treppe hinauf und trat in unser ehemaliges Wohnzimmer. Es sah immer noch alles so aus wie damals. Mit jedem Möbelstück schossen mir Erinnerungen in den Kopf. Lachen, Spielen, Weinen, Kindheit. Es wirkte so lebendig, als wäre es gestern erst passiert. Ich sah zur Küche. Sie war dunkel, so als hätte man das Rollo heruntergelassen. Ich trat hinein und schaute mich um. Ich sah den großen Fleck auf dem Boden, die schmutzige Spüle, die Handtücher die steif vor Schmutz auf dem Tisch lagen. Ein stechende Schmerz in meinem Kopf. Meine Mutter. Ich sah sie vor mir, wie sie mit rotverschmierten Händen in der Blutlache auf dem Boden lag. Die Erinnerung an sie war schmerzhaft. Schnell verließ ich die Küche, auf der Suche nach irgendetwas Gutem, das das grausame Bild aus meinem Kopf vertrieb. Ich schüttelte mich, versuchte den Gedanken daran zu verdrängen. Ich wollte nicht, dass mich das Bild in meinem Kopf überwältigte und mich der Klinik wieder ein Stück näher brachte. Doch meine Knie wurden weich und ich sackte auf dem Boden zusammen. Meine Mutter. Ich erinnerte mich nicht, weshalb sie blutend dort gelegen hatte, ich erinnerte mich nicht, weshalb sie gestorben war, ich wusste nur, dass ihr Tod mich in die Klinik gebracht hatte und selbst dabei wusste ich nicht, weshalb eigentlich. Man hatte in der Klinik nur Paranoia diagnostiziert, der Rest war aus meinem Kopf verschwunden. Die Ärzte hatten gesagt das Trauma sei daran Schuld und die Erinnerungen würden möglicherweise irgendwann zurückkommen. In den letzten zehn Jahren waren sie es nicht.
Mit leerem Blick starrte ich kniend die Wand an. Ich hatte nicht erwartet, dass es so schlimm sein würde heimzukommen.
Die erste Nacht in dem riesigen Haus war grauenvoll. Die Erinnerung an den Tod schwang in jedem Luftzug mit. Ich bekam kaum ein Auge zu. Es knarrten die Dielen, die Treppe, jede Tür. Ich stand morgens völlig übermüdet auf und versuchte mir in der verdreckten Küche einen Kaffee zu machen. Die Leute aus der Klinik hatten dafür gesorgt, dass ich etwas zu Essen im Haus hatte. Ich mischte das Kaffeepulver in kaltes Wasser und trank es, da der Wasserkocher nicht funktionierte. Es schmeckte abscheulich, aber ich würde den Tag ohne einen Kaffee wohl nicht überstehen. Die Tasse landete in der dreckigen Spüle, ich musste wohl heute anfangen das Haus bewohnbar zu machen. Also putzen was das Zeug hielt. Mit Mühe und ein wenig Glück konnte ich die untere Etage irgendwann vermieten. Ich nahm mir einen Eimer, einen Lappen, Putzmittel und den Wischer aus dem Schrank. Aus dem Wasserhahn kam kein heißes Wasser, also musste ich mit kaltem vorliebnehmen. Der Dreck im Wohnzimmer ließ sich leicht beseitigen, zwar sah es nicht aus wie neu, nachdem ich fertig war, aber wenigstens wieder halbwegs human.
Bei der Küche war es ganz anders. Der Dreck war hartnäckig und ich kam kaum voran. Diese Küche ließ in mir immer wieder das Bild meiner Mutter aufblitzen, sodass ich ständig hinausgehen musste.
Ich war schon seit Stunden damit beschäftigt die Küche zu putzen, als ich von unten eine Stimme hörte.
„Hallo? Ist jemand zuhause?“
Ich ging schnell zur Treppe und schaute hinunter. Ein Mann stand dort und starrte mich an.
„Wohnen Sie hier?“
„Ja ich wohne hier, das ist mein Elternhaus.“
„Dann sind Sie… Oh ich fass es nicht. Wie erwachsen Sie geworden sind. Und so hübsch!“
Ich war sichtlich verwirrt, der Mann kannte mich, mir hingegen war er vollkommen fremd.
„Ich schätze mal Sie kannten meine Mutter oder meine Großeltern?“, sagte ich.
„Ja wir kannten uns. Ihr Verlust tut mir wirklich überaus leid, ich habe Ihnen ja nie mein Beileid aussprechen können. Es war sicher sehr schwer für Sie.“
„War es. Darf ich fragen wer Sie sind?“
„Ach niemand wichtiges, nur ein Bekannter Ihrer Großeltern. Ich sah nur, dass die Fenster wieder sauber waren, deshalb wollte ich nachschauen, wer sich in diesem alten Haus bitte um saubere Fenster schert. Keine Sorge, ich verschwinde sofort wieder.“
„Schon gut, Sie dürfen ruhig bleiben. Ich würde Ihnen ja einen Kaffee anbieten, aber der Wasserkocher hat den Geist aufgegeben.“
„Nein, nein. Machen Sie sich bloß keine Umstände wegen mir, Sie haben ja noch einiges zu tun. Frohes Schaffen!“, sagte er und verschwand durch die Tür.
Ein seltsamer Kerl, seine Stimme hatte mich komischerweise an Großmutter erinnert. Er hatte gesagt er sei ein Bekannter meiner Familie gewesen, mit Sicherheit war ich ihm als Kind schon einmal begegnet. Aber er hatte recht, die Arbeit rief. Ich ging in die Küche, nahm Lappen und Eimer und fing an weiter zu putzen. Nach ein paar Stunden harter Arbeit war die obere Etage war wieder bewohnbar. Am nächsten Tag müsste ich ein paar Leute anrufen, um die Leitungen im Bad und in der Küche zu kontrollieren. Außerdem musste irgendjemand dafür sorgen, dass diese verdammten Treppen aufhörten zu knarren. Es brachte mich um den Verstand.
Tatsächlich fand ich am nächsten Morgen im Telefonbuch eine Firma, die scheinbar alle Schäden am Haus reparieren würde. Es dauerte keine Stunde bis es unten klopfte. Ich eilte die Treppe hinunter und öffnete den Handwerkern die Tür. Mir war plötzlich seltsam zumute. Der Mann gestern war einfach in das Haus gekommen, obwohl die Tür abgeschlossen gewesen war. Es war mir nicht aufgefallen, da in der Klinik ständig Leute in mein Zimmer gekommen waren, aber jetzt wo ich die Tür für sie öffnen musste bemerkte ich es. Wie zur Hölle war dieser Mann hereingekommen?
Nachdem ich den Handwerkern alles gezeigt hatte, machten sie sich an die Arbeit und sagten mir, dass ich in der Zwischenzeit ruhig Besorgungen erledigen konnte. Ich ließ ihnen meinen Schlüssel da und verließ das Haus. Vor mir verlief eine große Straße; ich sah orientierungslos nach links und rechts. Die Erinnerungen an früher waren lückenhaft, nicht mal den Weg in die Stadt wusste ich mehr. Vermutlich musste ich nach rechts, zumindest sah ich dort etwas entfernt ein Restaurant oder ein Café. In der Hoffnung wirklich die Innenstadt zu finden, lief ich die Straße hinunter. Das Restaurant kam näher und zwischendurch sah ich immer mehr Geschäfte und Cafés. Im Supermarkt kaufte ich ein paar Lebensmittel ein. Dann ging ich noch in ein Elektronik-Geschäft und kaufte einen neuen Wasserkocher. Zuletzt setzte ich mich in eines der Cafés und bestellte einen Kaffee und ein Stück Torte. Der Kaffee vom Morgen machte sich bemerkbar und drückte auf meine Blase. Eine Kellnerin wies mir den Weg zur Toilette und ich huschte dorthin. Das Tortenstück und der Kaffee standen schon an meinem Tisch als ich zurückkam. Ich setzte mich und begann die Torte zu essen. Zuerst aß ich die Erdbeere, welche ganz oben auf ihr prangte. Als ich zubiss, knackte etwas zwischen meinen Zähnen. Ein größerer Kern war in der Erdbeere. Ich verschluckte mich an ihm, hustete, der Kern aber blieb in meinem Hals und so schluckte ich ihn herunter. Ich aß meine Torte, trank den Kaffee auf und bezahlte an der Theke. Dort waren auch die Torten ausgestellt. Mein Stück Torte war wohl das Einzige mit einer Erdbeere gewesen.
Danach machte ich mich auf den Heimweg. Ich klopfte an die Tür, damit mir die Arbeiter öffneten und mir halfen die Sachen hinaufzutragen. Erstaunt lief ich die Treppe hinauf. Kein Knarren mehr, völlige Stille. Sie hatten gute Arbeit geleistet. Auch der Rest des Hauses sah gut aus. Sie sagten mir, dass sie noch einige Tage bräuchten und besprachen mit mir noch die Kosten, welche aufkommen würden. Dann gingen sie wieder an die Arbeit. Ich suchte nach den Bankunterlagen meiner Mutter und machte mich erneut auf den Weg in die Stadt als ich sie gefunden hatte. Bei der Bank informierte ich mich über ihren Kontostand und war froh, dass ich Zugriff darauf hatte. Überrascht stellte ich fest, dass ich noch genug Geld hatte, um sogar ohne Job eine Weile auszukommen. Ich überwies das Geld für die Arbeiter schon vorab und machte mich wieder auf den Weg nach Hause. Sie waren schnell vorangekommen und nach einigen Tagen war wirklich alles repariert.
Mit der Zeit gewöhnte ich mich an das Haus. Es war angenehm ruhig, nicht wie in der Klinik. Aber oft war es zu ruhig, zehn Jahre lang hatte ich mich daran gewöhnt nie Ruhe zu haben und jetzt war sie da. Aber es ging schnell, ich lebte mich gut ein. Auch die Panik überkam mich in der Küche nur noch selten, doch bei jedem Mal kam die Angst vor der Klinik noch hinzu. Zehn Jahre gefangen in einem Haus voller Irrer hatten mich einsam werden lassen.
Die Panik überfiel mich ohne Grund extrem stark an einem ganz normalen Tag. Die Angst vor der Klinik überwältigte mich zusätzlich. Ich stand in der Küche, Wasser kochte, der Dampf vernebelte mir die Sicht. Ein stechender Schmerz in meinem Bauch, als würde mich etwas von innen zerreißen. Hinfallen, aufprallen, Schwärze. Als ich zu mir kam hatte ich wieder das furchtbare Bild meiner Mutter im Kopf. Blutverschmiert lag sie auf dem Boden, nie hatte ich erkennen können warum sie blutete, jetzt sah ich es. Ein Riss in ihrem Bauch, rote Äste, rote Blätter ragten heraus. Mein Herz fing an wie wild zu schlagen, Schweiß lief mir über den Rücken. Was war das? Es konnte keine Erinnerung sein, das war absurd. In meinem Kopf verformte sich das Bild, die Äste fingen an sich zu bewegen, die Blätter raschelten, schüttelten das Blut von sich. Sie kamen auf mich zu, mit ihrem verschwimmenden, lächelnden Grün. Das Bild in meinem Kopf schleuderte mich in die Ecke und schrie mir ins Gesicht. Mein Atem ging schwer und ich zitterte. Ich fühlte mich verspottet von dem absurden Bild. Es war nicht real und doch jagte es mir eine Riesenangst ein. Ein weiterer stechender Schmerz in meinem Bauch. Irgendetwas stimmte nicht. Ein grauer Schleier legte sich über meine Sicht. Dann verschwamm alles.
Ich wachte auf dem Boden der Küche auf. Das Bild, welches mich in die Knie gezwungen hatte, war immer noch in meinem Kopf. Es fraß sich förmlich fest. Auch wenn es nur eine seltsame Vorstellung war, es jagte mir Angst ein, es wirkte einfach zu lebendig, zu wirklich. Kaum zwei Minuten nachdem ich wieder auf den Beinen war, zwang mich ein weiterer stechender Schmerz zu Boden. Ich griff in meine Hosentasche und holte mein Handy heraus. Keuchend nannte ich dem Notdienst meine Adresse, dann wurde wieder alles schwarz.
Ich erwachte in einem Krankenhauszimmer. Es roch klinisch, aber nicht steril, eher eine Mischung aus Tod und Medikamenten. Und ein bisschen nach Pisse. So als hätte man bei seiner Großmutter den Medikamenten-Schrank geöffnet. Ich sah nach links, in der Erwartung gleich jemanden zu sehen der seit Stunden darauf gewartet hatte, dass ich wieder aufwachte, doch dort saß niemand. Warum auch? Wer kümmerte sich schon um mich? Ein Arzt kam einen Moment später herein. Er nahm das Klemmbrett von meinem Bett und sah erst mich an, dann das Klemmbrett. Eindringlich studierte er die Informationen auf dem Zettel. Er stellte sich vor, ein komischer, aber doch recht sympathischer Mann. Irgendwas an ihm kam mir bekannt vor.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte er beiläufig.
„Gut, schätze ich. Was ist passiert? Ich weiß, dass ich im Haus zusammengebrochen bin.“
„Das wüssten wir auch gerne, körperlich könnte es Ihnen nicht besser gehen. Wir vermuten es war nur der Kreislauf.“
Seine Stimme.
„Nein, es war wegen Schmerzen, nicht wegen dem Kreislauf.“
„Haben Sie so etwas schon einmal gehabt?“
Er schien meine Bemerkung zu ignorieren.
„Nein, nein nicht so. Ich weiß ganz sicher, dass ich wegen Schmerzen das Bewusstsein verloren habe. Stechende Schmerzen im Bauch.“
Er sah mich verwirrt an.
„Schmerzen im Bauch. Glauben Sie nicht, wir hätten etwas gefunden, was diese Schmerzen hätte auslösen können?“
„Vielleicht, vielleicht ist es aber auch…“ In meinem Kopf erschien das Bild meiner Mutter. Der Gedanke an die raschelnden, blutverschmierten Blätter ließ mich kurz daran zweifeln, ob es tatsächlich nur ein erfundenes Bild war.
„Ich bin keine Ärztin, keine Ahnung.“, fügte ich hinzu.
„Sind Sie nicht. Richtig. Wie dem auch sei, haben Sie noch immer Schmerzen?“
„Ja, aber nicht mehr so stark.“
„Ich verschreibe Ihnen ein Schmerzmittel. Über Nacht behalten wir Sie noch hier, wenn Ihr Zustand so bleibt, dann dürfen Sie morgen gehen.“
Irgendetwas an diesem Mann war seltsam, ich wusste nicht was. Vielleicht war es sein Geruch, vielleicht seine Ausstrahlung, vielleicht seine Stimme. Irgendetwas.
„Äh, ja. Danke.“, sagte ich. Er warf mir noch einen skeptischen Blick zu, dann verließ er den Raum.
Die Medikamente wirkten schnell, die Schmerzen verschwanden nach einer guten halben Stunde und mir ging es wieder besser. Als der Arzt noch einmal zu mir hereinkam und überprüfte wie mein Zustand war, klang er sehr zuversichtlich, dass ich am nächsten Tag das Krankenhaus verlassen dürfte. Ich mochte das Krankenhaus nicht, es erinnerte mich sehr an die Klinik. Zumindest vom Geruch her. Die Nacht war furchtbar, ich fand keine Ruhe. Ich hatte mich in den Wochen in meinem Elternhaus so sehr an die Stille gewöhnt, dass ich bei jedem leisesten Geräusch aufwachte. Etwa eine Stunde bevor der Assistenzarzt nach mir sehen würde, schlief ich ein. Er weckte mich.
„Guten Morgen, wie war die Nacht? Haben Sie gut geschlafen?“
„Ich habe kein Auge zu gemacht.“
„Ah ja.“, sagte er, als hätte es ihn nicht interessiert. „Und wie geht es Ihnen?“
„Ganz gut soweit, etwas müde.“
Er maß meinen Blutdruck und schaute mich seltsam an.
„Ihr Blutdruck sagt etwas anderes.“
Ich sah ihn verwundert an.
„Sie bilden sich vielleicht doch nichts ein. Ich werde den Oberarzt dazuholen.“
Eine halbe Stunde später kamen er und der Oberarzt in das Zimmer hereingestürzt. Es war der Arzt, welcher mich am Tag zuvor behandelt hatte.
„Sie sind ein klinisches Wunder.“, sagte er. Er spielte wohl auf meinen Blutdruck an.
„Wir werden ein paar Untersuchungen machen, sind Sie damit einverstanden?“
Was blieb mir anderes übrig? Ich ließ also die Untersuchungen über mich ergehen. Der Oberarzt erklärte mir, dass sie auf einige Testergebnisse ein paar Tage warten müssten. Solange müsste ich im Krankenhaus bleiben. Verdammt. Ich würde es hier nicht aushalten.
Der Arzt drückte mir eine Tablettendose in die Hand und erklärte mir wann ich welche nehmen sollte. Die darauffolgenden Tage waren durchzogen von Müdigkeit und beschissenem Essen. Alle paar Stunden sah der Assistenzarzt nach mir, einmal täglich der Oberarzt. Bei ihm hatte ich immer dieses seltsame Gefühl ihn zu kennen.
Als er gerade den Raum betrat formte sich eine Szene vor meinen Augen. Meine Großmutter, wie sie zu Hause in der Küche stand und ihre Tabletten schluckte. Ich war verwirrt.
„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“
Ein Bild ersetzte die Szene, meine Mutter in unserer Küche, mit aufgerissenem Bauch, blutverschmiert.
„Alles in Ordnung?“
Noch ein Bild. Noch eins. Noch eins. Die Bilder schossen in meinen Kopf, zeigten mir meine Großmutter, seltsam gekrümmt als würde sie von etwas in dieser Position gehalten. Zeigten mir ihren aufgerissenen Bauch und Äste, unendlich viele Äste. In ihr, aus ihr herauswachsend, mit Blättern in einem so saftigen Grün, dass man denken könnte, sie wären gemalt. Großmutters Grab, einen Baum der darauf wuchs. Ich hatte Angst, es wirkte so real. Das Bild wechselte, jetzt sah ich meine Mutter, ähnlich verkrümmt, mit aufgerissenem Bauch. Hinzu kam jetzt auch noch eine Stimme. Die Stimme eines Mannes. Sie war ruhig und sanft in meiner Erinnerung und dennoch ließ sie mir einen Schauer über den Rücken laufen. Meine Mutter öffnete in meinen Gedanken die Augen, schaute mich entsetzt an, so als wäre nicht sie sondern ich diejenige, die so verkrümmt dort lag. Sie sagte mir mit weit aufgerissenen Augen, dass ich niemandem vertrauen sollte. Und dass er sie getötet hätte. Dann legte sich ein Rauschen über das Geschehen und ich sah nur noch zitternde Äste, die immer näher kamen. Ich konnte mir das doch nicht nur einbilden. Die Bilder waren zu real. Es musste wahr sein. Doch wenn es wirklich Erinnerungen waren, dann hatte man sie damals in der Klinik aus meinem Kopf verbannt. Man hatte mir sicher so lange eingeredet, dass es nicht real gewesen war, dass ich es verdrängt hatte. Wieder diese Stimme. Der Mann murmelte etwas unverständliches. Seine Stimme schwebte in meinem Kopf. Und ich kannte sie.
„Was ist los? Haben Sie Schmerzen?“, unterbrach der Oberarzt meine Gedanken.
Die Stimme murmelte etwas. Es war dieselbe Stimme. Ich zuckte zusammen und sprang förmlich aus dem Krankenhausbett, Hauptsache weg von ihm. Er machte mir Angst, es gab ihn schon in meinen frühesten Erinnerungen.
„Bleiben Sie weg von mir!“, schrie ich. Dieser Mann war unser Arzt gewesen, ich sah ihn vor mir, wie er Großmutter Tabletten gab.
„Ich bitte Sie, was ist los mit Ihnen?“
Er nickte in Richtung Tür.
Der Mann im Haus. Das war er gewesen. Er war der „Bekannte“ meiner Familie.
„Sie waren das. Sie sind wegen Ihnen gestorben.“
Er kam einen Schritt näher.
„Wer ist durch mich gestorben? Was reden Sie da?“
Er warf einen Blick zur Tür.
Ich konnte nicht sehen, was an der Tür vor sich ging - das zweite Bett war im Weg.
„Halten Sie sich fern von mir. Ich möchte…“
Jemand fasste mich am Arm und drückte mich zurück auf das Bett. Er befestigte meine Arme und Beine daran.
„Was soll das? Machen sie mich sofort los!“
Ich versuchte die Ketten irgendwie zu lösen.
„Wir nehmen Ihnen die wieder ab, wenn Sie sich beruhigt haben. Bis dahin kontaktieren wir Ihre ehemalige Therapeutin.“
Scheiße.
„Nein bitte, bitte. Alles nur nicht wieder zurück in die Klinik. Oh Gott bitte. Ich bin schon ruhig, ich … Ich habe niemandem etwas getan, bitte machen sie mich los. Ich verspreche Ihnen, ich bleibe ruhig, nur bitte, ich will nicht zurück in die Klinik.“
Ich war schon einmal wegen diesem Scheißkerl in der Klinik gewesen. Zehn verdammte Jahre. Mein ganzes Leben hatte er verschwendet, er hatte mich in diese Klinik getrieben und mir mein ganzes verdammtes Leben genommen. Ich war einsam gewesen – hatte weder Nähe noch Liebe verspürt. Die Klinik hatte mehr von einem Gefängnis als einer Heilanstalt gehabt, wo der ganze Nächstenliebequatsch oberste Priorität hatte, zumindest nach außen hin.
„Ich mache Sie los, wenn ich es für richtig halte.“
Mit diesen Worten verschwand er aus meinem Zimmer.
Stunden später flog die Tür auf und er trat herein. Sein finsterer Blick machte mir unfassbare Angst.
„Nun gut. Ich mache Sie los. Kommt so etwas noch einmal vor, bleiben Sie den Rest der Tage ans Bett gefesselt mit einer Bettpfanne und sonst nichts. Überlegen Sie sich gut, was Sie tun.“,sagte er und klang dabei geradezu bedrohlich.
„Ich werde nichts tun. Ich verspreche es.“, sagte ich in dem Wissen, dass ich mich noch diese Nacht nicht daran halten würde. Die Schmerzen nahmen trotz des Schmerzmittels nicht ab und ich wurde das Gefühl nicht los, dass diese Tabletten vollkommen nutzlos waren. In der Hoffnung, dass die vierte Tablette helfen würde, nahm ich noch eine. In dem Moment kam wieder das Bild meiner Mutter in meinen Kopf. Ihr Tod. Ihre Leiche, aufgerissen von Ästen und Blättern. Ihr Körper, scheinbar durchzogen von Wurzeln und deshalb seltsam gekrümmt. Es war real. Meine Mutter war so gestorben und dieser Bastard von Arzt war Schuld.
Die Nacht rückte näher und ich stieg aus dem Bett. Auf dem Flur war niemand zu sehen und ich schlich in Richtung Verwaltungstrakt. Ich musste herausfinden wer er war. Die Tür war zum Glück nicht verschlossen. Ich schlich herein und schloss sie hinter mir. Die Aktenschränke nahmen den gesamten Raum ein, aber ich würde seine Akte schon finden. Ein Schrank trug die Aufschrift „Angestellte“. Ich wühlte im Schrank durch die Akten, sah immer nur nach den Fotos, da ich seinen Namen vergessen hatte. Ich fand die Akte mit seinem Foto und blätterte sie durch. Es stand nichts Persönliches über ihn drin. Kein Geburtsjahr, kein Jahr in welchem er eingestellt wurde. Absolut nichts. Ungläubig blätterte ich noch einmal durch die Akte. Alles was dort drin stand waren seine Bewertungen und sein Zeugnis. Nicht einmal dieses trug ein Datum. Lediglich seinen Namen und seine erzielten Noten und Abschlüsse. Das konnte nicht sein. Welches Krankenhaus würde so jemanden einstellen? Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Körper.
Ich schlich wieder aus dem Zimmer, zurück in meines. Ich hatte Angst vor diesem Mann. Und ich wollte wissen, ob ich die Einzige war, die Angst vor ihm hatte.
Ich ging am nächsten Tag aus meinem Zimmer und warf einen Blick in das nebenan. Dort drin war nur ein Patient. Es war ein Mann mittleren Alters. Er hatte auf mich recht sympathisch gewirkt.
„Er ist seit Jahren mein Arzt. Privat habe ich ihn allerdings noch nie kennenlernen dürfen. Man trifft ihn aber auch nirgendwo. Es scheint, als lebe er nur für seinen Beruf.“
„Seit wann ist er schon hier?“, fragte ich.
„Schon immer. Ich weiß, dass er schon der Arzt meiner Mutter war. Für sein Alter hat er sich gut gehalten.“
„Kommt er ihnen komisch vor? Ich meine, hat er sich mal seltsam in ihrer Gegenwart benommen oder haben sie ein ungutes Gefühl bei ihm?“
Ich hoffte, dass es ihr genau so ging wie mir; dass er ihr genauso seltsam vorkam wie mir.
„Ja, er ist seltsam.Ich kenne ihn nicht gut und ich mag ihn nicht besonders, aber er ist ein guter Arzt. Allerdings hab ich das Gefühl die Luft verändert sich, wenn er da ist. Meine Freunde haben mir das auch gesagt, als sie mich hier besuchen kamen. Sie sind direkt gegangen als er das Zimmer betrat.“
Dieser Mann war ein Phantom. Niemand kannte ihn wirklich. Keine Anhaltspunkte, absolut nichts. Langsam verzweifelte ich. Mein Gefühl sagte mir, dass er verantwortlich für den Tod meiner Großmutter und Mutter war, doch ich konnte es nicht beweisen. In meinem Kopf waren nur diese Bilder. Und seine Stimme.
Ich war gerade einmal zehn Minuten in meinem Zimmer, als er mit zwei Pflegern hereinkam.
„Ihre Testergebnisse sind da, zumindest ein paar. Sie sind krank, das steht fest. Allerdings ließ sich bei keinem der Tests lokalisieren woher dieses Krank-sein kommt. Wir müssen Sie weiterhin hier behalten. Wenn Sie gesund werden wollen, ist das die einzige Chance, die Sie haben.“
Mein Blick genügte, um zu zeigen, was ich in diesem Moment dachte.
„Es tut mir leid; ich weiß Sie sind froh gerade aus der Klinik entlassen zu sein, aber verstehen Sie doch, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig.“, auf seinen Lippen lag ein seltsam krummes Lächeln.
In meinem Kopf flackerten wieder einzelne Bilder meiner Mutter auf, wie die Wurzeln ihren Körper aufrichteten und durchbohrten. Äste, die vereinzelt sogar aus ihrem Rücken wuchsen. Ich sah ihren verzweifelten Blick zu ihren Tabletten, dann wandte sie sich ernst zu mir und sagte: Er hat mich getötet.
Ich nickte dem Oberarzt zu und er verließ den Raum. Mein Atem ging schnell; ich spürte das Adrenalin durch meine Adern fließen. Dieser Mann hatte meine Mutter getötet. Und jetzt war mir klar wie.
Ich griff in den Nachttisch neben mir und nahm die Tablettendose heraus. Mit zitternden Fingern öffnete ich sie und nahm eine Tablette heraus. Ich biss die äußere Hülle der Tablette kaputt und erstarrte. Ich hatte Recht gehabt. Ich hatte mir nichts eingebildet. Es war der Arzt gewesen.
Aus der aufgebissenen Hülle der Tablette starrte mich unschuldig ein kleiner Apfelkern an. Ich nahm die Tablettendose, rannte ins Bad und kippte den gesamten Inhalt in die Toilette. Die ganze Zeit hatte man mich in diesem Krankenhaus weiter krank gemacht. Man hatte mich umgebracht. Noch nicht vollständig, aber der Prozess war schon in vollem Gange. Ich musste hier weg. Ich stürmte aus meinem Zimmer zu den Räumen, aus welchen die Pfleger immer die Tabletten holten und ging hinter einem der Pfleger in den Raum hinein. Ich riss die Dosen mit den Medikamenten aus den Regalen und warf mit ihnen um mich, die Pfleger riefen nach Hilfe und eilten aus dem Raum. Ich warf die Dosen mit den Tabletten aus dem Fenster, zertrümmerte die Glasbehälter auf dem Boden. Niemand würde diese falschen Tabletten schlucken. Ich rannte los, bevor die Pfleger mit Verstärkung zurückkamen. Nach Hause. So schnell wie möglich. Es würde nicht lange dauern bis sie die Klinik verständigen würden. Schon nach kurzer Zeit brannten meine Beine vom Rennen, in meinem Bauch spürte ich ein starkes Ziehen, gemischt mit einem Stechen. Aber ich rannte weiter. An mir flogen die Häuserwände vorbei, und Erinnerungen, Äste, Blut, Blätter, Mutter, Großmutter, Tabletten. Er. Ich fiel zu Boden, überwältigt von Schmerzen in meinem Bauch. Vor meinem inneren Auge tauchte das Café auf, die Torte, die Erdbeere, der Kern. Einen Tag nach meiner Entlassung hatte man mich umgebracht. Plötzlich sah ich eine Pflegerin von damals vor mir, sie sah mich an und sagte, dass ich hier sicher sei. Einsamkeit. Alle Gefühle aus meiner Vergangenheit stiegen gleichzeitig in mir hoch und ließen mich für einen Moment vollkommen reglos auf dem Boden liegen. Dann erlangte ich wieder die Kontrolle über meinen Körper, stand auf und rannte weiter. Immer wieder in die Knie gezwungen von Zusammenbrüchen, Schmerzen und einem Überschuss an Gefühlen erreichte ich mein Elternhaus eine halbe Stunde später. Die Tür stand offen und ich lief zunächst ins Untergeschoss zum Wohnzimmer meiner Großeltern. Alles war wie damals; Mutter hatte nichts weggeräumt. Auf dem kleinen Tisch stand noch immer die Tablettendose meiner Großmutter. Ich nahm sie hoch und kippte die Tabletten aus. Eine von ihnen biss ich auf. Ein kleiner Kern. Er hatte Großmutter getötet. Er hatte meine Mutter getötet. Er hatte mich getötet. Ich sackte auf dem Boden zusammen. Er hatte mich getötet. Bald.
Die Scheinwerfer der Autos strahlten nur wenig später durch die verdreckten Fenster der unteren Etage. Ich wollte schreien oder wegrennen, doch mir kamen noch einmal die Worte der Pflegerin in den Sinn. Du bist hier sicher, hatte sie gesagt. Das war ich. Ich wehrte mich nicht, ließ sie mich mitnehmen. Ich wäre dort sicher, sicher vor dem Oberarzt. Auch wenn mir das nichts mehr bringen würde. Ich starb. Aber lieber in Frieden in einer gewohnten Umgebung als bei meinem Mörder. Im Auto überwältigte mich ein weiterer, stechender Schmerz in meinem Bauch. Dann wurde alles schwarz.
Ich öffnete meine Augen in meinem alten Zimmer der Klinik. Ich drückte den Knopf neben meinem Bett, um einen Pfleger zu rufen. Nach kurzem Warten kam eine Pflegerin herein.
„Wie geht es Ihnen? Haben Sie Schmerzen?“
„Alles in Ordnung, die Schmerzen sind erträglich.“
Das waren sie wirklich. In der Klinik ertrug ich alles. Vielleicht war die Klinik gar nicht so schlimm wie sie mir immer vorgekommen war. Vielleicht hatte mich die Einsamkeit hier beschützt. Vielleicht hatte die Klinik mich beschützt. Vor ihm. Und das zehn Jahre lang. Vielleicht hasste ich die Klinik doch nicht so sehr, vielleicht war ich jetzt sogar froh hier zu sein.
Ein weiterer stechender Schmerz in meinem Bauch. Das Stechen war grausam. Der sonstige Schmerz war mehr oder weniger ein Drücken, aber dieses Stechen war unerträglich. Es fühlte sich an wie ein innerliches Reißen. Es kam nun in regelmäßigen Abständen wieder. Ich glaubte zu wissen was passieren würde. Ich hatte geglaubt, ich würde keine Angst haben. Aber jetzt hatte ich furchtbare Angst. Das Bett war schweißnass. Ich bewegte mich nicht einen Millimeter, jede Bewegung löste ein Stechen aus. Ein Stechen raubte mir den Atem, das nächste nahm mir das Bewusstsein. Wieder wurde alles schwarz. Als ich dieses Mal die Augen öffnete sah ich in sein lächelndes Gesicht. Er stand über mir. Er war hier, er war in der Klinik.
„Endlich.“, sagte er.
Ich öffnete den Mund um zu schreien, doch es kam kein Ton heraus. Stumm schrie ich ihm ins Gesicht. Sein Lächeln verspottete mich. Dann kam ein weiteres Stechen, ein Reißen. Ein Gefühl als hätte jemand gerade meinen Bauch aufgerissen. Mein Mund öffnete sich wieder zu einem stummen Schrei. Mein Blick sprang vom Gesicht des Arztes nun zu meinem Bauch. Ich sah nur Blut. Blut und ein seltsam geformtes Ding. Der Schmerz war überwältigend, die Angst noch mehr. Die Sinne vernebelt durch Schmerz, Angst und dem Entgleiten meines Bewusstseins, blickte ich weiter auf meinen Bauch. Ein Gebilde aus Ästen und Blättern, fädiges Blut, welches die einzelnen Äste miteinander verwebte. Spöttisches Grün. Ein Schwanken der Äste, drohend, kalt. Ein seltsames Gefühl zog sich durch jede Faser meines Körpers. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, war erstarrt. Ich spürte wie die Wurzeln sich vorsichtig durch meinen Körper tasteten und sich um alles schlungen, was sie dabei fanden. Mein Körper begann sich von selbst zu bewegen, die Wurzeln begannen meinen Körper zu bewegen. Mein Arm verrenkte sich, knackte. Ich keuchte vor Schmerz. Ich hatte gedacht, ich sei darauf vorbereitet. Ich hatte mich geirrt. Wieder nahm mein Mund Anlauf zu einem stummen Schrei, doch dieses Mal schrie ich wirklich. Der Arzt zuckte zusammen. Mein Schrei durchdrang jede Wand dieses Gebäudes. Er sah mich an, ging zur Seite, nahm sich einen Stuhl, setzte sich und beobachtete mich. Meine Verwirrung darüber hielt nicht lange an, denn mein anderer Arm fing an sich zu verbiegen. Sein Blick klebte an meinem Arm, er sah interessiert zu, notierte sich etwas. Ein weiteres lautes Knacken, gefolgt von meinem Schrei. Mein Körper krümmte sich in eine unnatürliche Form, die Äste kamen mir immer näher, die Blätter schüttelten sich und das Blut spritzte von ihnen. Ich schrie. Holte Luft. Schrie. Die Wurzeln drangen durch jede Faser meines Körpers und schlungen sich um jeden Knochen. Dann verschwamm alles. Schwärze mischte sich mit dem Geruch von Blut und dem kratzenden Geräusch des Stiftes, mit welchem der Arzt seine Notizen machte. In meinem Kopf tauchten Bilder meiner Mutter auf, dieses Mal waren es glückliche Erinnerungen. Solange bis ich im Hintergrund den Arzt sah. Er drückte einen Finger auf die Lippen und verschwand plötzlich aus der Erinnerung. Die Realität begann sich mit dem Tod zu mischen. Das Letzte was ich vor der vollkommenen Schwärze vor Augen hatte, war das verschwommene Grün der Blätter. Es lachte. Dann nichts mehr, solang bis ich selbst nichts wurde und vollkommen verschwand.

 

Hallo Menschenblind,

auch von mir ein herzliches Willkommen.
Wie Rob F finde ich auch, dass du Absätze einfügen solltest, damit das Leserauge besser geführt werden kann.

Ich habe kurz in deiner Audioversion reingehört und fand sie ansprechend. Allerdings frage ich mich, inwieweit du an Textarbeit bei den Wortkriegern interessiert bist, du es hier nicht nur als weitere Veröffentlichungsplattform betrachtest – denn das allein ist Wortkrieger nicht – und bin daher am Anfang zunächst etwas zurückhaltender beim Kommentieren.

Beim Überfliegen ist mir folgendes aufgefallen:

„Ach niemand wichtiges, nur ein Bekannter Ihrer Großeltern.
Er hatte gesagt er sei ein Bekannter meiner Familie gewesen, mit Sicherheit war ich ihm als Kind schon einmal begegnet.
Wieso wiederholst du das, was er gesagt hat? (Bekannter)

Nach ein paar Stunden harter Arbeit war die obere Etage war wieder bewohnbar.
ein "war" zuviel

Zuerst aß ich die Erdbeere, welche ganz oben auf ihr prangte. Als ich zubiss, knackte etwas zwischen meinen Zähnen. Ein größerer Kern war in der Erdbeere. Ich verschluckte mich an ihm, hustete, der Kern aber blieb in meinem Hals und so schluckte ich ihn herunter. Ich aß meine Torte, trank den Kaffee auf und bezahlte an der Theke. Dort waren auch die Torten ausgestellt. Mein Stück Torte war wohl das Einzige mit einer Erdbeere gewesen.
Wofür sind die Details wichtig?

„Es tut mir leid; ich weiß Sie sind froh gerade aus der Klinik entlassen zu sein, aber verstehen Sie doch, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig.“, auf seinen Lippen lag ein seltsam krummes Lächeln.
... übrig." Auf seinen ...

„Endlich.“, sagte er.
"Endlich", sagte er.

Viel Spaß hier beim Schreiben und Lesen und Kommentieren anderer Texte.

Liebe Grüße,
GoMusic

 

Liebe @Menschenblind ,

ich kommentiere trotzdem einmal ausführlich. Deine Geschichte hat eine gute Grundidee, erinnerte mich an „Die Vegetarierin“ oder die Verfilmung von „Auslöschung“. Ich hätte mir auch noch tiefergehende Entwicklungen vorstellen können, aber Du hast „Horror“ getagt und wie eine klassische Horrorgeschichte endet es mit Irrealem. Das ist okay für mich.
Allerdings baut sich die Spannung nur unzureichend auf. Das liegt m. E. an langen erklärenden Passagen, die den eigentlichen Antagonisten, den Arzt, außen vorlassen. Er bleibt sehr abstrakt. In einem kurzen Gespräch erfährt man, dass er nicht altert, aber er bleibt zum Leser auf Distanz. Mir fehlt da das „Katz-und-Maus-Spiel“. Dabei gibt Deine Idee so schöne Ansätze. Deine Prota könnte vielmehr an ihrem Verstand zweifeln. Der Arzt viel aktiver sein und ihr öfters näher kommen, den Leser verwirren mit zweideutigen Handlungen. Du vertust da Potenzial.

Du solltest den Text auch noch einmal nach Zeichensetzung durchsehen. Was ich gefunden habe, führe ich auf.


Als es mit meinen Großeltern zu Ende ging, waren sie ins untere Stockwerk gezogen. Die
Den Fehler machst Du oft. Nur, wenn „als“ vergleichend genutzt wird, kommt kein Komma hin.
Dort angekommen, war Großmutter uns mit Tränen in den Augen entgegengekommen.

Es wirkte irgendwie surreal den Sessel wiederzufinden, als ich durch das Haus ging. Direkt neben dem Sessel lag ein Medikamentenglas.
Wortwiederholung.
Großmutter war nur wenig später gestorben. Ich
Das kam mir komisch vor, dass da noch jahrelang die Tabletten stehen. Später erklärst Du es mit dem Rückzug der Mutter in das erste OG. Trotzdem seltsam.
Ich sah den großen Fleck auf dem Boden, die schmutzige Spüle, die Handtücher, die steif vor Schmutz auf dem Tisch lagen.

Ein stechender Schmerz in meinem Kopf

Schnell verließ ich die Küche auf der Suche nach irgendetwas Gutem, das das grausame Bild aus meinem Kopf vertrieb

Ich hatte nicht erwartet, dass es so schlimm sein würde, heimzukommen.

Ich mischte das Kaffeepulver in kaltes Wasser und trank es, da der Wasserkocher nicht funktionierte.
Dieser „da“-Satz ist stilistisch unschön. So erklärend.
Die Tasse landete in der dreckigen Spüle, ich musste wohl heute anfangen, das Haus bewohnbar zu machen

Also putzen, was das Zeug hielt

aber jetzt, wo ich die Tür für sie öffnen musste, bemerkte ich es.

Das Tortenstück und der Kaffee standen schon an meinem Tisch, als ich zurückkam.

hinunter. Das Restaurant kam näher und zwischendurch sah ich immer mehr Geschäfte und Cafés. Im Supermarkt kaufte ich ein paar Lebensmittel ein. Dann ging ich noch in ein Elektronik-Geschäft und kaufte einen neuen Wasserkocher. Zuletzt setzte ich mich in eines der Cafés und bestellte einen Kaffee und ein Stück Torte. Der Kaffee vom Morgen machte sich bemerkbar und drückte auf meine Blase. Eine Kellnerin wies mir den Weg zur Toilette und ich huschte dorthin. Das Tortenstück und der Kaffee standen schon an meinem Tisch als ich zurückkam. Ich setzte mich und begann die Torte zu essen. Zuerst aß ich die Erdbeere, welche ganz oben auf ihr prangte
Diese Beschreibungen kannst Du getrost weglassen. Wichtig ist ja nur der Kern und nicht der Stadtbummel. Die Erdbeere finde ich auch unglücklich gewählt. Die hat ja keinen Kern. Vielleicht eine Kirsche?
Ich suchte nach den Bankunterlagen meiner Mutter und machte mich erneut auf den Weg in die Stadt, als ich sie gefunden hatte
Das hätte sie auch in einem Rutsch machen können. Das liest sich als Handlungswiederholung.
Kaum zwei Minuten, nachdem ich wieder auf den Beinen war, zwang mich ein weiterer stechender Schmerz zu Boden. Ich griff

Schmerzen im Bauch. Glauben Sie nicht, wir hätten etwas gefunden, was diese Schmerzen hätte auslösen können?“
Na ja, so einfach ist das nicht. Vor allem, weil sie bisher nicht von konkreten Schmerzen berichten konnte. Ein Arzt würde das erst einmal ernster nehmen.
Der Arzt drückte mir eine Tablettendose in die Hand und erklärte mir, wann ich welche nehmen sollte. Die

Meine Mutter öffnete in meinen Gedanken die Augen, schaute mich entsetzt an, so als wäre nicht sie, sondern ich diejenige, die so verkrümmt dort lag. Sie

Verwaltungstrakt. Ich musste herausfinden, wer er war.

Sie sind direkt gegangen, als er das Zimmer betrat.“

Allerdings ließ sich bei keinem der Tests lokalisieren, woher dieses Kranksein kommt.

An mir flogen die Häuserwände vorbei (und) Erinnerungen, Äste, Blut, Blätter, Mutter, Großmutter, Tabletten.

Ich glaubte zu wissen, was passieren würde.

Als ich dieses Mal die Augen öffnete, sah ich in sein lächelndes Gesicht

Mein Körper begann, sich von selbst zu bewegen, die Wurzeln begannen, meinen Körper zu bewegen
Der Satz ist mit den Wiederholungen auch stilistisch unschön. Dass der Körper sich bewegt, ist ja normal. Die Spannung liegt im bewegt werden.

So viel von mir. Vielleicht kannst Du etwas damit anfangen. Das Video habe ich nur angefangen. Was ich gesehen habe, war aber sehr ansprechend produziert. Deine Lesestimme ist auch angenehm ruhig.

Viele Grüße
Mae

 

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