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Russische Seele

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25.01.2008
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Russische Seele

Gemächlich war Anne die Treppe zum Billardcafé, einem riesigen Saal mit zahlreichen Spieltischen aller Art, hoch gestiegen. Sie hatte mit der Hüfte hin und her geschaukelt. Am Empfang stand Thommy, um ihr wie jedem seiner Gäste jene Chipkarte zu überreichen, auf die gespielt, gegessen und getrunken wurde. Abgerechnet wurde ganz am Ende.
Sie hielt sich sehr gerade. Mit einer sparsamen aber geschickten Bewegung steckte sie die Karte in das Portemonnaie, dass sie aus einer kaum sichtbaren Tasche der Nahtseite ihres Kleides hervorgeholt hatte. Unter dem Stoff dieses hochgeschlossenen Kleides aus Chinaseide bebte es, als ihr Blick auf das sanft beleuchtete Terrarium fiel. Die Scheiben waren so blank und spiegelfrei, dass sie einen Augenblick lang glaubte, den Schlangen direkt ins Angesicht zu sehen und sich die Finger an den Stacheln der Kakteen zu stechen. Thommy bot ihr an, den Mantel gleich bei ihm zu lassen. Die Seide raschelt und ihre lackschwarzen Haare verloren sich in der Dunkelheit des Stoffes. Am unteren Rand zeichnete sich eine rosafarbene Blütenstickerei ab.
Sie holte sich die Kugeln und einen Queue und schlenderte zu einem Tisch in der hintersten Ecke. Von der Fernsehwand klangen Freudenrufe herüber. Ein Fußballspiel wurde übertragen. Sie lächelte milde. Sie umrundete mehrmals ihren Tisch und verteilt sich die Kugeln. Dann umrundete sie den Tisch, um die beste Position für ihre Etüde zu finden. Sie hatte noch das schwarze und das weiße Exemplar in der Hand und ließ sie auf ihrer Handfläche wie Qigongkugeln umeinander kreisen. Vom nahen Turm der Marktkirche vernahm sie das volle Glockenspiel.
Energisch und zielsicher spielte sie ihre Figuren herunter. Thommy brachte ihr ein Bananehefeweizen. „Respekt“, hörte sie jemandem mit russischem Akzent sagen.
Sie reagierte nicht, sah die Klitschkobrüder vor ihrem inneren Auge stehen. Dann stand sie auf, drehte sich um, trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen ihren Tisch. Gleich würde Thommy angerannt kommen und sagen, sie sollte sich doch nicht so auf de Rahmen aufstützen! Da stand ein wirklich schöner Mann vor ihr. Er überragte sie trotz ihrer Absätze noch um einige Zentimeter. Er war gepflegt und trug mit großer Selbstverständlichkeit einen leichten, wunderbar sitzenden Anzug. Ein blütenweißes Hemd schimmerte schmal durch die legere Offenheit.
„Kommen sie oft hierher? Sie spielen wirklich hervorragend.“ Ein Anflug eines Ärgers huscht über ihr Gesicht. Sie hatte sich nicht besonders konzentriert zeigen wollen. So war ihr die präzise Lässigkeit schon zum ersten Minuspunk geraten, denn er hatte sie ganz richtig eingeschätzt. Seine Eröffnung war Durchschnitt, das hörte sie öfter. In seiner Art aber lag etwas, dass mehr als nur Floskel, mehr als nur Kompliment war. „Gelegentlich. Haben sie Lust auf ein Spiel?“ Er war um den Tisch herumgekommen und stand nun ganz dicht vor ihr. „Was kann ich dabei gewinnen?“ Sein Atem roch frisch, leicht nach Pfefferminze. Sie wand sich an ihm vorbei, um wieder frei zu sein. Das schien ihr alles doch sehr riskant. Der Mann flirtete nicht, er betrachtete dieses Zusammenkommen auf gesellschaftlichem Parkett nicht als Amüsement, dass nach gewissen Regeln verläuft, nicht als ein Spiel, dessen Gewinn nur ein virtueller war und von dem die meisten Deutschen wussten, dass sie ihn nicht einzuklagen hatten, dass ihr Gewinn bereits im Spiel mit der jungen Frau lag. Andererseits wäre auch sein Einsatz ein realer.
Der Russe winkte Thommy heran. „Zweimal Russische Seele.“ Er zögerte. „Bitte.“ Die Vokale sprach er sehr geschlossen und leicht in die Länge gezogen. Anne war um den Tisch gegangen und wollte Anstalten machen, die Kugeln zu sortieren. „Moment!“ Er sah kurz zu einer Gruppe Männer, aus der sich sofort einer heraus löste, herüberkam, ihr die Kugeln aus der Hand nahm, wobei er darauf achtete, sie nicht zu berühren, und alles für ein Spiel bereit machte. Zum Schluss holte er einen Queue an der Theke, der dort eigens für seinen Chef zurück gelegt zu sein schien.
„Trink, schöne Anne, trink.“ Der Russe prostete ihr zu. Anne dachte angestrengt nach. Es würde ihr wahrscheinlich gar nichts ausmachen, mit diesem anziehenden Mann mit den fremdländischen Manieren die Nacht zu verbringen. „Worum spielen wir?“ er wiegte leicht den Kopf hin und her. Schaute an ihr hoch und runter.
Sie schwieg verstockt. Seine Art brachte sie ins Grübeln. Das war schon mal kein gutes Zeichen. Fing eine Frau erst einmal an über einen Mann nachzudenken und konstruierte sie um ihn ein Geheimnis, so hatte sie schon viel vom Terrain der Selbstsicherheit verloren.
„Ich habe einen Vorschlag. Wir spielen darum, wer die Einsätze festlegen darf. Zwei Spiele. Gewinnst du, bestimmst du deinen oder meinen Einsatz. Du kannst mit deinem anfangen und im zweiten Spiel, wenn du es gewinnst, meinen festsetzen. Gewinne ich, so liegt die Entscheidung bei mir. Gewinnst du beim ersten Mal und ich beim zweiten, hast du noch die Wahl, wessen Einsatz du festsetzen willst. usw.“ Anne nickte. Gerade hatte sie ihr Glas Russische Seele vollständig gelehrt und sie begriff den Vorschlag des Russen mit seltener Luzidität.
Sie begannen das Spiel. Die Kugeln klackerten. Der Russe suchte ihre Nähe, strich hinter ihrem Rücken entlang und war doch nie so nah, dass er sie berührt hätte. Touchiert, dachte sie, touchiert wäre in diesem Fall der bessere Ausdruck. Ihre Hände waren feucht und ihre Gedanken waren bei all jenen ihrer Bekannten, die in irgendwelchen Parallelwelten auf dem Computer oder in Live-Rollenspielen gefangen waren. Sie brauchten für ihren Leib nichts befürchten. Sie brauchten nur für den Leib ihrer Figur fürchten. Vielleicht ging ihnen deren Verlust wirklich nahe, hatten sie doch viel Erfindungsgeist und Gestaltungswille eingebracht. Vielleicht hatten sie ja auch wirklich eine Woche Magenkrämpfe. Und doch war der Leib, für den sie litten, dann bereits gestorben, so dass ihr Schmerz nurmehr ein Schatten einer ausgelagerten, fern und distanzierten Figur blieb.
„Sie sind wieder dran.“ Sie zielte und traf, sie hatte gewonnen. Auch in der Wirklichkeit gab es Spiele, und deren Reiz bestand in der viel glaubhafteren Illusion, kein Spiel zu sein. Aber das hier und jetzt, dass war kein Spiel, keine Illusion der Wirklichkeit. Hier ging es am Ende um Einsätze. „Sie können das gar nicht bezahlen“, sagte sie. „Ich gewinne sowieso“, antwortete er. „Zehntausend Euro.“ Er nickte langsam. Er war einverstanden.
Thommy brachte noch eine Runde Russische Seele. Sie verlor das nächste Spiel. „Ich will“, sagte er, „dass du selbst deinen Einsatz bestimmst. Ich will, dass du mir freiwillig gibst, was ich will.“ Er klang heiser. „Ich gebe dir noch eine Runde um dich zu entscheiden.“
Ein weiteres Spiel begann. Sie spielte ausgezeichnet, doch plötzlich geriet ihr fließender Schwung ins Stocken. Ihre Planung war nicht ganz aufgegangen. Er las in ihren Gedanken: „Wie im richtigen Leben.“ Sie wollte experimentell vorgehen, schließlich ging es noch um nichts. Da fing er laut an darüber nachzudenken, wie er das Problem angehen würde. Mit dem Queue kurz über den Tisch zeichnete er Bewegungen und Richtungen nach. Sie erhob Einwände bei bestimmten Varianten und gab ihm gelegentlich Recht. Schließlich fanden sie einen durchführbaren Stoß und Anne gewann. „Bravo!“ rief der Russe aus. Dann schaute er sie fragend an. „Geben sie mir noch ein Spiel, um darüber nachzudenken.“ Diesmal zog sich das Spiel wahrlich in die Länge, denn sie diskutierten jeden Zug ausführlich, bevor sie ihn ausführten. So geschah es auch mit einem noch weiteren Spiel. Und immer umfangreicher wurde der Schatz an Kenntnissen, den der Russe auch über andere Spieler, über die Geschichte des Spiels selber vor ihr ausbreitete. Anne trank viel Russische Seele und die letzten beiden Spiele gewann der Russe. Punktemäßig, dachte sie trunken, nur punktemäßig.
Am Ende hatten sie immer weniger gespielt und umso mehr geredet. „Wir gehen zu mir. Da können wir uns weiter unterhalten“, sagte er plötzlich. Er zog sie mit einem Arm dicht an sich heran, in dem anderen hielt er majestätisch den Billardqueue. Anne konnte nicht unterscheiden, ob die sinnliche Anziehung aus seiner maskulinen Körperlichkeit resultierte oder aus dem anregenden Gespräch der letzten beiden Stunden oder überhaupt nur aus ihrer Trunkenheit.
Schlagartig, mit dieser Überlegung, war die Euphorie verflogen und es blieb der erschöpfte Taumel. Thommy brachte ihren Mantel und der Russe begleitete sie hinunter, wo ein Taxi stand. Er hatte ihre Ernüchterung bemerkt. Er schlug ihr dennoch vor, bei ihm zu übernachten, nur übernachten, morgen früh könnte sie ja nach dem Frühstück in aller Ruhe nach Hause gehen. Sie willigte ein. Sie war schon sehr müde und schwankte. Er setzte sie auf dem Sessel ab, um ihr die Couch zum Schlafen vorzubereiten. Mehr bekam sie nicht mehr mit.
Am nächsten morgen, sie war ganz und gar ausgezogen worden, lagen auf dem Tisch neben der Couch Skizzenblätter. Er hatte sie gezeichnet wie sie Billard spielt, wie sie redet, wie sie trinkt und lacht, wie sie die Treppe hoch geht und wie sie die Treppe hinunter schwankt. Und er hat ihren schlafenden, nackten Körper mit weichen Bleistiftstrichen abgebildet.

 
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Grüße, oh Benaster!

Sie hatte mit der Hüfte hin und her geschaukelt.
Die Information, so ohne jeden Zusammenhang eingeschoben, wirkt komisch.

Sie hielt sich sehr gerade.
Hier das Gleiche.

Die Seide raschelt
raschelte

Vom nahen Turm der Marktkirche vernahm sie das volle Glockenspiel.
Es ist zwar nicht übel, gelegentlich Details einzustreuen, aber dieses scheint mir weder stimmungsfördernd, noch sonst irgendwie gerechtfertigt.

und sagen, sie sollte sich doch nicht so auf de Rahmen aufstützen!
den

Ein Hauch eines Ärgers huscht über ihr Gesicht.
"eines Ärgers" klingt komisch, da es ja nicht mehrere abgegrenzte Ärger gibt, die man unterscheiden konnte. Besser: Ein Anflug von Ärger.

Seine Art brachte sie ins grübeln.
"Grübeln" hier groß.

„Ich gewinne sowieso“, antwortete er
Dahinter fehlt der Punkt.

Am Ende hatten sie immer weniger spielten und immer mehr geredetet.
geredet

ob die sinnliche Hingezogenheit aus seiner maskulinen Körperlichkeit beruhte
auf; Aber die Konstruktion klingt eh sehr gestelzt. Mach doch einfach einen "maskulinen Körper" draus.


Ja, also, hm... Ich weiß nicht recht. Die Geschichte ist nicht schlecht geschrieben, aber am Ende hat sie mir nichts gegeben. Ich weiß nicht recht, wie ich das Ende auffassen soll, beziehungsweise, was es aussagen soll. Auch gelang es mir nicht, ein Verständnis für die einzelnen Personen zu entwickeln.
Hinzu kommt noch, dass die Geschichte fast eine Seite braucht, bis sie in Fahrt kommt, bis die Laufrichtung feststeht - und eine Seite ist bei einer kurzen Geschichte eine Menge.

An sich könnte ich mich mit deiner Art zu schreiben anfreunden, aber diese Geschichte hat mir nicht besonders gut gefallen. Vielleicht solper ich hier ja mal wieder über eine Geschichte von dir.


Gruß,
Abdul

 
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Lieber Abdul, hab Dank dafür, dass Du dir trotz Anflugs eines Mißfallens an der Geschichte die Mühe gemacht hast, sie orthographisch und stilistisch zu betasten. Hab auch korrigiert, danke. Das Schwanken der Hüften (wenn auch tatsächlich doof formuliert), das Rascheln der Seide und das volle Glockenspiel scheinen mir persönlich doch sehr wichtig.
Gruß Naso

 

Lieber Claudio,

jetzt war ich neugierig. Natürlich. Das blühende Leben. Hüften schwingend, nahezu erotisch, ein Spiel ums Ganze - was auch immer das sein soll. Eine gute Ausgangsbasis. Girl meets boy - klappt eigentlich immer als Plot. Hier gemischt mit einem Schuss Titanic: die Skizzen als erotischer Höhepunkt. Warum nicht. Ist das die Russische Seele? Nun gut, Tolstoi und Co waren auch nicht allwissend.

Mein Hauptkritikpunkt: ich glaube die Erzähl-Perspektive der Anne keinen Augenblick lang. Ihre Art zu denken scheint mir typisch männlich. Nicht zuletzt sprengst du den Rahmen ihres Blickwinkels selbst ständig, indem du versuchst, erotische Details ins Spiel zu bringen. Oder ist das Auto-Erotik?

Einen Moment dachte ich bei deiner Spielbeschreibung an Alfred Hitchcock, das Tennisspiel in Der Fremde im Zug. Allerdings sehnsüchtig: der Zuschauer weiß, um welch großen Einsatz es geht und fiebert mit. Jeder Ballwechsel wird existenziell. Bei dir hingegen eiern die beiden Protagonisten um den Einsatz herum, und wenn du vom Spiel erzählst, bleibst du allgemein, ohne Chance, das Ganze nachzuvollziehen.

Mag ja sein, dass dies das bunte Leben ist. Mich hat es nicht überzeugt.

Gruß,
Ennka

 

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