Sündenbock
Eine Mischung aus Faszination und Ekel erfüllte Thomas, als er das morbide Schauspiel betrachtete. Nur vereinzelt erkannte er menschliche Formen in jener grotesken Masse aus Fleisch und Stahl. Die schmorenden Reste einstiger Existenzen. Männer und Frauen, Rentner und Kinder, die Flammen machten keine Unterschiede.
Noch war unklar, wie es zu diesem Unglück kommen konnte. Thomas fragte sich, wie es passieren konnte, dass zwei vollbesetzte Züge ineinander rasten, ohne dass es jemandem auffiel. War es ein Fehler in den Computersystemen der Leitzentrale, oder ganz einfach menschliches Versagen? Die Ermittler würden sicher schon bald eine Erklärung für dieses Unglück präsentieren. Der öffentliche Druck war zu groß, als dass man den Vorfall einfach totschweigen und zur Tagesordnung hätte übergehen konnte. Man würde einen Sündenbock brauchen, jemanden, dessen Kopf die Masse fordern konnte, auf den die Hinterbliebenen ihre Wut und ihre Trauer projizieren konnten. Zweifelhaft nur, ob dieser Sündenbock auch der wahre Schuldige sein würde.
Für ihn jedoch war diese Katastrophe ein Geschenk des Himmels. Ein Glücksfall, vergleichbar nur mit einem Sechser im Lotto.
Thomas war gerade auf dem Heimweg von Wiesbaden gewesen, wo er einen langweiligen Bericht aus dem hessischen Landtag gedreht hatte. Mit viel Glück würde ein fünfzehn Sekunden Clip in der Hessenschau daraus werden, wahrscheinlicher jedoch war, dass der Bericht für immer in den Archiven des Senders verschwand. Müde und frustriert saß er hinterm Steuer seines Wagens, als jener apokalyptische Lärm seinen Reporterinstinkt weckte.
Noch vor den ersten Rettungskräften hatte er die Unglücksstelle erreicht. Phantastische, grauenerregende Bilder hatte er aufnehmen können, bevor ihn die Polizei vom unmittelbarem Ort des Geschehens entfernt hatte. Brennende Körper, die sich aus dem Wagons zu retten versuchten, lebende Leichen, die sich ihres Todes noch nicht bewusst waren und verzweifelt versuchten ihre Eingeweide wieder in die offene Bauchhöhle zu stopfen. Das Material war einfach phantastisch. Sollten die anderen, mittlerweile eingetroffenen, Teams doch ihre langweiligen 08/15-Reportagen drehen. Er hatte etwas Besseres, Exklusiveres. Dieses Material würde ihn reich machen, er würde für den Rest seines Lebens ausgesorgt haben.
Wie so oft in den letzten Jahren hatte Thomas den Ort, der sein Leben so radikal verändert hatte, aufgesucht. Mit Bitterkeit dachte er an jenen sonnigen Frühjahrstag zurück. An jenen Tag, der sein Leben zerstört hatte. Kein Sender hatte seine Bilder kaufen wollen, seine Frau hatte ihn verlassen und es war nur seinem Anwalt zu verdanken, dass er mit einer Bewährungsstrafe davongekommen war. Unterlassene Hilfeleistung und Behinderung der Rettungsarbeiten hatten sie es genannt.
Man hatte einen Sündenbock gefunden. Keinen den man für das Unglück verantwortlich machen konnte, aber einen auf den sich Wut und Hass projizieren ließen. Und weil man ja einen Sündenbock gefunden hatte, war es auch nicht verwunderlich, dass die Ursache des Unglücks bis heute unbekannt war.
Nachdenklich schritt er die Wiese entlang, dachte an die grauenhaften Szenen, die sich hier vor drei Jahren abgespielt hatten, die sein beruflicher Durchbruch hatten werden sollen und die letztendlich sein Leben zerstört hatten.
Nur ein Gefühl.
Es war nur ein Gefühl, das jene Tropfen, die Essenz dessen, was einst lebte, zu widernatürlicher Aktivität anregte. Ein Gefühl, der Nähe einer wohlbekannten Existenz. Einer Existenz, auf die sich der Hass fokussierte. Hass in seiner reinsten, nicht an körperliche Hüllen gebundenen Form. Nicht das erste Mal spürten die Essenzen die Anwesenheit des Verhassten, doch lange hatte ihr Hass schweigen müssen, zu schwach waren sie bisher in ihrer neuen Zustandsform gewesen.
Zunächst langsam, dann immer schneller, kam Aktivität in das, was nicht mehr leben kann. Einzelne Tröpfchen fanden und vereinigten sich, bildeten Größeres und durchstreiften das Erdreich auf der Suche nach denen, die ebenfalls Rache ersehnten.
Kein Stein bewegte sich, kein Aufbrechen der Erde. Thomas konnte nicht an die Information glauben, die seine Augen dem Gehirn vermittelten. Das Wesen, was dort aus der Erde zu steigen schien, war mit nichts vergleichbar. Keine menschliche Sprache wäre fähig, jenes Etwas zu beschreiben. Eine Welle puren Hasses überschwemmte Thomas, riss selbst jene menschliche Panik fort, die ihn erfasst hatte. Unfähig sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, hatte sein Körper nur eine Möglichkeit der Todesangst Ausdruck zu verleihen: Die Entleerung von Darm und Blase. Den Geruch der eigenen Exkremente nahm er nicht mehr war. Mit unmenschlicher Geschwindigkeit erreicht das Wesen ihn. Groteske Gebilde, dämonische Entsprechungen von Gliedmaßen, packten ihn, zerrten an seinem Körper, der verzweifelt um Zusammenhalt rang und schließlich doch unterlag. Arme und Beine verloren den Kontakt zum Torso und blutige Fetzen menschlichen Fleisches verteilten sich auf der Wiese.
Der Verhasste war tot. Langsam beruhigten sich die Essenzen, kehrten in ihre, von der Natur geforderte Passivität zurück. Ihr Zusammenhalt verlor sich. Was blieb war nur ein kollektives Gefühl von Zufriedenheit. Zufriedenheit über die Rache an jenem, der so vielen von ihnen die Hilfe verwehrt hatte.