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Salzluft
Der kleine Junge stand am Ufer der See und fütterte die kreischenden Möwen mit den Resten eines frischen Bäckerbrötchens, dass seine Mutter ihm heute statt einer warmen Mahlzeit gegeben hatte. Frischer Wind zerzauste sein Haar und Salzluft umspielte seine Nase. Die nackten braunen Zehen vergrub er im reinen weißen Sand. Als seine Eltern nach ihm riefen, warf er noch ein Krümchen hinauf, zog sich ein Büschel Strandhafer als Schwert aus dem Boden und rannte, wild in der Luft herumfuchtelnd, auf und davon. Währenddessen fiel aus der Tasche seiner kurzen braunen Ledershorts ein kleines Plastiksegelboot heraus und landete zwischen den Bohlen eines ehemaligen Steges. Das Boot hatte einen roten Bauch und ein kleines weißes Segel aus Leinen war daran befestigt.
Die Nacht war kalt und stürmisch. Der Wind zerrte an dem kleinen Segel, bis die salzige Luft das Ihrige dazu beitrug und sich die zarten Fäden lösten. Der kleine weiße Fetzen tänzelte wie ein Blatt davon und landete auf einem schäumenden Wellenkamm. Ganz grau und durchnässt wurde er zum Ufer zurückgespült, landete inmitten von Steinen, Muscheln und Seetang, bis er erneut von einer Welle erfasst wurde und verschwand.
Als die Sonne wieder hoch am Himmel stand, lag das kleine Segelboot noch immer zwischen den Bohlen. Nun aber war es nackt und mit einem kleinen braunen Buchenblatt beklebt.
Bald schneite es und der Frost kam, auf der roten Farbe bildeten sich kleine Kristalle, als ob das kleine Boot mit Edelsteinen besetzt wäre. Als die Sonne das Eis wieder taute, nahm sie auch die Farbe mit. Das kleine sandige rosafarbende Ding war in dem weißen, mit Muscheln besetzten Strandstreifen kaum mehr auszumachen.
Eines Tages stand ein großer behaarter Fuß in den salzigen flachen Wellen, die an den Strand geschwappt wurden. Der Fuß war nass und die Sonne spiegelte sich in den winzigen Tropfen. Der Mann, dem der Fuß gehörte, hielt in seiner Hand die Hand eines circa sechsjährigen Jungen. Der Kleine schaute tapfer auf den silbrigen Streifen am Horizont. Tränen liefen seine Wangen hinunter. Der Vater legte seine Hand tröstend auf die weichen Haare seines Sohnes. „Sei nicht traurig“, sagte er. „Irgendwann vergisst Du, dass Du deshalb so traurig warst.“ „Niemals!“ sagte der Junge trotzig und trat wütend gegen eine alte Holzleiste, die drei Daumen breit aus dem weißen Sand ragte. Die Leiste kippte ein Stück nach hinten und legte dabei etwas Müll frei, der sich hier über lange Zeit gesammelt hatte. Gerade wollte der Junge ein etwas größeres Stück davon in die Wellen kicken, als ihm etwas daran interessant genug erschien, es aufzuheben. Das hellgraue Stück Irgendwas hatte die Form eines Bootes, ein Stift, der einmal der Mast gewesen sein könnte, hing schlaff zur Seite. Es war splitterig, kaputt und alt, ja, aber, wenn man es ein bisschen bearbeitete, konnte er sich daraus durchaus ein schönes Segelboot bauen. Plötzlich war er gar nicht mehr traurig! Er drängelte seinen Vater, endlich nach Hause zu gehen. Auf dem Weg durch die vom Strandhafer bewachsenen Dünen stellte er sich vor, wie er dem Boot einen neuen Mast und ein Segel baute. Den Rumpf müsste er ein bisschen abfeilen und dann streichen. Vielleicht könnte er ein bisschen rote Farbe von Papas Autolack stibitzen. Der würde Augen machen, wenn er das fertige Prachtstück zu Gesicht bekommt. Der Junge konnte nicht ahnen, wie Recht er damit haben sollte!