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Sau tot
Das Ledergeschäft ist leer. Keine Kundschaft. Wie auch. Bei den Preisen verlief sich selten einmal jemand hierher. Die ausgefallenen Taschen hängen dicht an dicht, mit gewollter Üppigkeit, auf den Verkaufsständern. Überfluss und Dekadenz. Selbst vom Verkaufspersonal ist nicht mal eine Spur zu sehen.
Der charakteristische Geruch von Haut und Leder wird mit jedem Schritt, den ich weiter in den Laden komme, stärker. Als ich die vier Stufen zum Büro hinaufsteige, kommt mir ein anderer, unbestimmter Geruch in die Nase …
Blut? ...
Ja, Blut.
Ich erinnere mich, erinnere mich plötzlich ganz genau. Ein Film läuft in meinem Kopf. Dieser Geruch. Er bringt Bilder, längst vergessen geglaubt, zurück:
Das Bolzenschussgerät. Die mächtige Sau kippt zur Seite wie ein gefällter Baum.
Der Schnitt des Metzgers, gekonnt und zielgerichtet, lässt eine neue, kraftvolle Quelle entstehen …
Emsig, unter streng geknotetem Kopftuch das Haar gebändigt, ist die Mutter zur Stelle. Mit riesiger Schüssel und dem Monstrum von Quirl, der nur zur Hausschlachtung benutzt wird.
Sie fängt das ausströmende Leben auf. Einfach so. Mit einer Schüssel.
Die sich stetig füllt. Es dauert nicht lang.
Mir kommt es vor wie die Unendlichkeit, bis der Blutstrom fast ganz versiegt.
Am Ende des Lebens, die Hinterbeine der Sau zucken nur noch verhalten, übernehme ich Schüssel und Quirl.
Alle müssen helfen. Alle sind eingebunden.
Zugehörigkeit. Gemeinschaft. Geben und Nehmen.
„Halt die Mulle noch eweng unter den Schnitt, nix weglaufen lassen! Und quirlen, quirlen, quirlen, Mädel!“ Ich weiß nichts von Gerinnung, tue einfach, was mir gesagt wird. Ich will, ich werde alles richtig machen.
Und der gleiche Geruch, genau dieser frische, warme, süßliche Geruch aus Kindertagen, der mischte sich jetzt und hier mit dem Duft von edlen Ledern.
„Martin!“, keine Antwort. „Martin, bist du im Büro?“ Der Weg ist mir geläufig, es zieht mich regelmäßig in dieses Geschäft. Wie eine Sucht ist das. Nicht nach überteuerten Lederbeutelchen, nein.
Liebe, Zugehörigkeit, Gemeinschaft. Geben und Nehmen.
Schon seltsam. Glaube ich da bei Martin wirklich noch dran?
Von den Stufen zu der podestartig erhöhten „Designergalerie“ kann ich schon sehen, dass die Bürotür einen Spalt weit geöffnet ist. Er hat sich wohl in die Akten vergraben. Als ich die Tür zum Hineingehen weiter öffne, trifft mich dann dieser, vorher schon unterschwellig wahrgenommene Geruch mit ganzer Kraft.
Blut!
Unwillkürlich stolpere ich zurück und versuche, den entsetzlichen Anblick, der sich mir da bietet, zu fassen: Martin ... Ganz eigenartig zusammengesunken sitzt er an seinem Schreibtisch aus Chrom und Glas. Die Hände drückt er sich auf den Hals, starrt wie versteinert auf rote Rinnsale. Die haben, zwischen seinen Fingern hervorsickernd, ihren Weg über bloße Unterarme gefunden und tropfen von den Ellbogen aus auf einen, bis dahin makellos weißen Spannteppich.
Mitten im Raum, statuenhaft, vollkommen unbeweglich, steht diese sehr junge Frau. Ihre durch Tränen verwischte Wimperntusche kann das rundliche, puppenhafte Gesicht nicht entstellen. Sie ist schön. Aber sie hat sich auch in eine teure, viel zu enge Kombination aus Schlangenleder gezwängt. Eine Presswurst auf Beinen, mit Damaszenerdolch in der Rechten. Für gewöhnlich liegt die kostbare Waffe auf dem blitzblanken Schreibtisch und dient Martin als Brieföffner.
So viel Blut … Es ist alles so unwirklich … Ich sehe, ich rieche das Blut, aber ich kann das Alles nicht glauben.
„Du lieber Himmel, er verblutet doch! Haben sie noch alle Tassen im Schrank? Warum? Warum haben sie das getan?“
Nach ein paar hastigen Schritten in ihre Richtung bleibe ich, respektvoll den blutigen Dolch musternd, doch lieber auf Abstand.
„Die Scheidungspapiere …“, antwortet die schlangenlederne Salzsäule kraftlos, „lagen heute einfach so auf dem Tischchen im Flur …“.
„Sie sind seine Frau?“
Als hätte sie mich nicht gehört, redet sie weiter: „ Das war so … so überraschend, ich habe es überhaupt nicht begriffen …wollte doch nur reden …“
Ich bin sprachlos. Und nicht wegen des Blutes.
Davon hat Martin sicherlich schon ziemlich viel verloren. Aber das sieht, wie ich mir jetzt klarmache, alles dramatischer aus, als es in Wirklichkeit ist. Meines Liebsten kraftlose Starre, seine Unfähigkeit zum Handeln sind nichts Neues. Wenn auch nur der Anblick von Blut ins Spiel kommt, wird er schließlich jedes Mal einfach nur bleich und klappt weg. Für die Mengen, die er zurzeit begutachten darf, hält er sich eigentlich ganz passabel. Und ich kann es schlichtweg nicht fassen: Der Saukerl ist verheiratet und ich völlig ahnungslos … Wie dämlich oder beschäftigt kann man eigentlich sein? Kalte Wut steigt in mir auf. Der röchelnde, vor sich hin tropfende Martin hat mich beschissen. Lächelnd, galant, schmeichelnd, stürmisch, leidenschaftlich. Er hat mich leidenschaftlich beschissen. Seine Tochter, zehn Jahre ist Jule jetzt, lebt bei den Großeltern auf dem Lande. Ich habe die fünftausend Euronen in der Tasche, die das Finanzamt von ihm will. Und mache jetzt, völlig unvorbereitet, mit seiner Exfrau in spe Bekanntschaft, die ihren Redefluss nicht mehr eindämmen kann: Verheiratet seit zwei Jahren. Ihr Vater, alter Geldadel, lange krank, vor einer Woche gestorben. Riesige Erbschaft. Kein Ehevertrag. Einzelticket nach Buenos Aires …
In meinem Kopf schlagen die Gedanken Purzelbäume. Er hat sich also absetzen wollen! Nicht, ohne auch mein Konto leer geräumt zu haben … Ein Blick zu Martin, und ich weiß, dass schnelle Hilfe sein Leben sicher noch retten kann …
Handeln, ich muss etwas tun! Jetzt! Sofort!
„Pass mal auf, Mädchen. Du gehst jetzt auf schnellstem Weg nach Hause. Schmeiß deine viel zu enge Kombination samt Handschuhen in die Heizungsanlage!“
„Ja “, meint sie schnüffelnd „ zu dick bin ich ihm auf einmal auch. Wenn ich ihre Figur hätte …vielleicht …“
„Quatsch! Mach einfach, was ich sage, wenn du nicht gern längere Zeit kostenfrei wohnen möchtest! Mach, dass du wegkommst! Ich rufe die Polizei … wenn es vorbei ist.“
Martin sieht seiner hinauseilenden Frau mit großen Augen hinterher und schaut mich dann erleichtert, fast dankbar und hoffnungsvoll an. Er muss panische Angst gehabt haben, der Ärmste. Dass sie wieder zustechen, ihm Schlimmeres antun könnte …
So bin ich nicht, das weiß er, kennt mich schließlich in- und auswendig. Ich würde ihm nichts tun ...
Wozu auch? Alles Nötige war schon getan.
Zurück aufs Land werde ich gehen. Die jetzt sehr erfreulichen Erbansprüche meiner Tochter, die werde ich geltend machen ...
Ja, zurück!
Zugehörigkeit, Gemeinschaft. Geben und Nehmen.
Jetzt, „Es dauert nicht lang“, muss ich nur noch ein wenig warten …