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Schönis

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13.05.2001
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Schönis

Schönis

Sie hockt an einer Mauer, alt, vertrocknet und vergessen. Ihr Gesicht versteckt sie in den Händen. Reglos und verloren findet sie sich nicht im Spektakel um sie herum wieder. Dunkle oder bunte, aber stets schmutzige Bettler bieten ihr Leid feil. Eine Frau hält ein großes Baby von acht Jahren in ihren Armen, wiegt es, wischt sein Gesicht mit ihrem Rock ab und bettelt wehleidig um Geld. Das Kind lutscht am Finger und starrt in den blauen Himmel. Ein Mann brüllt Passanten an, eine Zeitung gegen die Obrigkeit zu erwerben. Sein schwarzer Köter übt sich in trauriger Eleganz, während die cholerische Kraft seines Herrchens bei den Menschen auf Nichtbeachtung stößt. Ein Bettlermarkt. Ein Mann starrt. Auf den Boden. Oder auf seine Mütze. Der Mützenbeschwörer. Noch ist er nicht aufgetaut, denn die Beute ist mager. Er muss noch zu Höchstform auflaufen. Eine junge Frau macht den ersten Schritt und reicht ihm Brot. Wärme breitet sich aus, und bevor er ins Schwitzen gerät, bewegt er sich, nimmt dankend an und isst. Warten ist für das Geld, handeln für die Geschenke. Ich packe meine Kamera und einen Schwarz-Weiß-Film aus.
Sie hockt immer noch da. Ohne zu betteln, ohne sich zu rühren, vergessen selbst vom Leid. Ob geschnitzte Holzfiguren, verlorene Gliedmaßen oder Geldbeschwörung, das sind gute Bilder. Leid, gespielt oder gelebt, braucht keine Farben.

Drei Frauen gehen schwatzend zum Markt. Sie schieben Kleinkinder vor sich her, lachen nicht aus der Tiefe ihres Herzens und schimpfen laut. Zwei Mütter und die Tante. Auberginen und rote Beete wollen sie haben, und natürlich darf man nicht vergessen bei der Dicken mit den billigen Hemden vorbeizuschauen. Die Sonne scheint und die Kinder baden ihre Gesichter in ihr. Die Vergessene hält immer noch ihre Hände vor ihr Gesicht, hockt da und sammelt Staub. Die Tante erblickt sie. Als ob man in Deutschland so leben müsse! Die zwei Mütter pflichten ihr bei und sprechen aus Erfahrung. Nicht nur als Sozialhilfeempfängerinnen wissen sie, was man muss und was nicht. Sie ziehen laut her und lassen nichts ungesagt, was einmal gesagt werden müsse. Ach ja, da ist die Dicke! Schnell vergessen die Drei die Einsame.

Es klingelt. Jemand öffnet die Tür. Sie tritt in das Wohnzimmer ein, und das Lachen und leere Geschwätz werden unterbrochen. Stille. Ob Mutter, Tanten oder Onkel. Ich sehe den Schrecken, den Ekel aufflammen, schnell wird er verdrängt. Er wird verdrängt. Friede! Salam! Du neue Frau meines Bruders, meines Schwagers, meines Onkels! Alle begrüßen sie und heißen sie willkommen. Küssen ihren Schmutz, zucken zurück vor dem Geruch. Sie ist betrunken. Mein Onkel tritt ein und stellt seine neue Frau vor. Sie hat zu viel getrunken, sie kann kaum noch stehen, helft ihr! Kein Zögern, kein Schimpf, Scham und Tätigkeit. Ins Bad wird sie genommen, ausgezogen, gewaschen und gepflegt. Ich beobachte alles, bin verwundert von ihren Reaktionen, von dieser Hilfsbereitschaft. Zerstörer sind sie sonst. Geier. Ihr Schmutz fließt durch den Abfluss ab, makellos weiße Haut enthüllt sich. Ich beobachte sie. Sie blüht auf, ihr Haar schimmert durch, fängt an zu glänzen. Die Kruste der Straße schrubben sie von ihr ab, schließen sie in ihre Arme und setzen Verbote auf. Wärme breitet sich aus, wird heißer und heißer, erstickend heiß. Ich höre ihr zu. Wirklich interessiert. Vielleicht erwartungsvoll. Doch im Mondschein hat sie mein Onkel geheiratet, und im Mondschein ist sie schön. Gewesen. Jetzt leuchten ihre Augen, ihre Wangen sind gerötet, ihr Haar duftet und ihre Stimme schwingt. Erst vorsichtig, dann immer lauter. Mit ihren. Sie lachen, ziehen her und lassen kein gutes Haar an der alten Frau meines Onkels. Ich gehe ins Bad und schaue in die Wanne, berühre die Schmutzreste und reibe meine Finger, reibe meine Hände mit dem Schmutz ein. Ist denn auch das nur Schein? Ich packe meine Kamera aus und mache Fotos. Pfützenfotos. Die Welt mit einem Film überzogen. Das Interesse an der neuen Frau verliere ich vollkommen.

Sie entwickelt Rundungen, an den Hüften, an der Brust und am Bauch. Sie legt drei Eier, denen zwei Kinder entschlüpfen. Ein Mädchen und ein Junge. Mein Onkel liebt sie, so wie er die Einfachheit liebt. Mein Onkel hütet die Kinder, so wie er seine Fische hütet. Mein Onkel ist fromm. Er glaubt daran, dass sich Menschen verändern. Dass es das Gute gibt, und dass sie sich zum Guten verändern. Das ganze Leben ist für seine Familie ein Weg zum Guten, ein Aufstieg. Wer fällt, ist verloren, und den muss man vergessen. Deswegen wundern mich ihre Reaktionen nicht, als ihr Bett leer ist. Leer, zerwühlt, und die Luft ist stickig. Die Kinder sind groß genug, mein Onkel allein gelassen. Sie ist aufgebrochen ohne Nachricht, ohne auf Wiedersehen. So wie es ihr in den Sinn gekommen ist. Die Tante hat es gleich gewusst. So eine von der Straße! Eine Zigeunerin! Eine Dreckige! Großes Dröhnen und Getue.

Es ist Mai. Und mein Onkel heiratet eine alte Jungfer. Sie finden sie gut. Sie hütet das Haus, die Kinder, meinen Onkel. Sie lebt in einer Welt voller Kleinigkeiten. Die Staubfängerin ist in die Weite gezogen. Der Horizont ist der Hintergrund, der manchmal in den Vordergrund tritt. Wenn er Sehnsucht weckt.

 

Klasse :thumbsup:

Hallo zaza,

nachdem ich die Lesung in Gelsenkirchen und damit auch eine zaza-Geschichte verpasst habe, war ich gespannt auf eine neue Geschichte von Dir. Nach all den Andeutungen, Du würdest seltsame, kryptische, zumindest kaum zu verstehende Geschichten schreiben, habe ich mich auf alles Mögliche gefasst gemacht. Aber doch nicht auf so etwas...

Für mich ist das eine Geschichte, bei der ich das Gefühl habe, die Autorin hat sich nicht nur Gedanken über ihr Thema gemacht, sondern auch darüber, wie dieses Thema in Worte zu fassen ist. Diese Geschichte ist von Anfang bis Ende durchkomponiert. Da hat jeder Satz, jedes Wort seine Bedeutung, steht an der genau vorgesehenen Stelle. Schön.

Zum Inhalt: Wenn dieser Satz

Das Interesse an ihr verliere ich vollkommen.
nicht gewesen wäre, die Erzählerin wäre zu Gutmenschartig geraten, ich hätte das Interesse an ihr verloren. So aber wird sie greifbar in ihrem ambivalenten Verhalten.

Besonders gut gefallen hat mir die bewusste Verwendung all der Farben im ersten Abschnitt und der anschließende Hinweis,

Leid, gespielt oder gelebt, braucht keine Farben.

Gestolpert bin ich nur an einer Stelle:
Er muss noch in Höchstform auflaufen.
Müsste es nicht heißen: zu Höchstform auflaufen?

Gruß
George

 

Halllo zaza,

meine Lieblingsstelle

Ich gehe ins Bad und schaue in die Wanne, berühre die Schmutzreste und reibe meine Finger, reibe meine Hände mit dem Schmutz ein. Ist denn auch das nur Schein? Ich packe meine Kamera aus und mache Fotos. Pfützenfotos. Die Welt mit einem Film überzogen.

Sie zergeht, wie zarter Schmelz auf der Zunge, köstlich :)
LG
Goldene Dame

 

Hallo Zaza,

die Geschichte gefällt mir wirklich sehr. Der Glanz als falsches Zeichen der Oberflächlichkeit, sogar der Schmutz lässt sich abwaschen, ist nicht echt in einer Welt, die als verlogen empfunden wird. Darin stranden und leben Leute ein Leben, das nur für die Erbarmen kennt, die Schritt halten können.

Deine Bilder sind poetisch, deine Sprache leise und unaufdringlich und die Welt wird plastisch.

Trotzdem bin ich an zwei Stellen aus dem gleichen Grund gestolpert.

Ich packe meine Kamera und einen Schwarz-Weiß-Film aus. Sie hockt immer noch da.
Hier war ich nicht sicher, ob du tatsächlich wolltest, dass die Kamera noch da hockt.
Im nächsten Absatz führst du die Einsame genau so innerhalb der Zeile ein. Vielleicht reicht es, einen Zeilenumbruch voran zu setzen.

Lieben Gruß, sim

 

Danke für eure Kommentare! Ja, da bleibt mir eigentlich nicht viel zu sagen, weil ihr ja kaum was kritisiert habt. Die Story ist mal wieder durch einen Traum inspiriert. Freut mich, dass euch die Sprache gefällt.

Nach all den Andeutungen, Du würdest seltsame, kryptische, zumindest kaum zu verstehende Geschichten schreiben, habe ich mich auf alles Mögliche gefasst gemacht.

Naja, ich sage mal so: Ich halte nichts von jeglichen Einordnungen in irgendwelche Schubladen, und es ist schön, dass Du Dich nicht von solchen "Andeutungen" vom Lesen abschrecken lassen hast. Und was als seltsam oder kryptisch empfunden wird, kann man sowieso nicht verallgemeinern.

Danke!

 

Hallo Zaza,

was soll ich sagen: deine Geschichte hat mich sehr tief beeindruckt. Wirklich. Deine Sprache ist (wie immer) wunderschön und passt hervorragend zum Inhalt. Oberflächlichkeit, sehr tief geschildert, hat mir sehr gut gefallen.

Danke für's Lesen-Lassen.

Gruß,

Ronja

:cat:

 

Hi Zaza,

kann mich meinen Vorrednern nur anschließen... Sehr gute Geschichte, wunderbarer Stil und gut durchdacht. Klasse!

 

Harkhov Syndrom schrieb:
blaa blaa sieht denn niemand dass sie zu viele adjektive verwendet?
für mich passten sie. Ich kann mit solchen "Regeln" eh nichts anfangen. ;)

 

Nun ja, dann frag doch nicht so: Sieht denn niemand...? So als ob es eine Tatsache wäre. Da es Dein eigenes Empfinden ist, soll es Dir erlaubt sein, es so zu empfinden. Die bewusste Anhäufung von Adjektiven im ersten Teil passt meiner Empfindung nach zum "Bettlermarkt". Sie beobachtet, und eine ganze Reihe von Reize treffen auf ihr Auge, und das hab ich versucht komprimiert darzustellen.
Da ich aber viele meiner alten Texte genau aus dem Grund "zu viele Adjektive" nicht mehr lesen kann, schließe ich nicht aus, dass ich in ca. 5 Monaten geläutert bin und selbst eine andere Darstellungsform vorziehe. Naja, zu gegebener Zeit werde ich dann natürlich auch die Beichte ablegen.

Hm, zu den positiven Kommentaren bleibt nicht viel zu sagen. Freut mich, dass meine Sprache so bestechend wirkt, haha.

Vielen Dank!

 

Hallo Zaza!

Leider wieder ein positiver Komentar, zu dem Du nicht viel sagen kannst. ;) Ich lese alle Deine Geschichten, finde sie grundsätzlich interessant, aber oft zu kryptisch. ;) Bei dieser hier, wie erst bei wenigen anderen zuvor, trifft der Stil mit einem mir-verstänlichen und zugänglichen Inhalt zusammen und es war ein wirklicher Genuss, sie zu lesen. In der ersten Hälfte lässt Du uns eintauchen in Farben, Athmosphäre, dass man sich mittendrin fühlt, in der zweiten Hälfte lässt Du uns an die Menschen näher herankommen. Eigenltich wollte ich noch meine Lieblingsstelle zitieren, aber das hat die Goldene Dame schon gemacht. ;)

schöne Grüße
Anne

 

Jetzt hab ichs irgendwie verpennt, Dir zu antworten. Danke! Die Geschichte ist wieder einmal aus einem Traum entstanden. Es ist schon eine Herausforderung, den Traumgestalten Wortverpackung zu geben. Ich würde zu dem Satz tendieren, dass Worte nicht an Bilder heranreichen. Manchmal ist man doch aber zufrieden mit dem Ergebnis und versteht dann auf einmal seinen Traum. Das ist schon ein interessanter Vorgang.

 

Hallo Zaza,

ich habe selten eine so wortgewaltige Geschiche gelesen. Jedes Wort steht genau am richtigen Platz, alles liest sich beinahe poetisch... und die Aussage hinter deinem Text gefällt mir auch ausgesprochen gut. Die Oberflächlichkeit der Gesellschaft hast du so sehr schön eingefangen, ohne sie explizit zu erwähnen.

Mein allergrößtes Kompliment für diese Geschichte!

LG
Bella

 

Hallo Zaza,

Wow, klingt fast wie ein Gedicht. Imposant, wie du die starken, von dir gewählten Worte zu einer Kurzgeschichte werden lässt, die den Leser völlig in ihren Bann zieht. Ich habe hier selten etwas so ausdruckstarkes gelesen und weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sonst noch zu deinem „Werk“ sagen soll. Da schreit roher Neid aus mir, wenn ich so was lese. TOP!

Einen lieben Gruß...
morti

 

Hallo Zaza!

Schluchz, eine rührselige Geschichte. Aber halt: ist Paula Köhlmeier wieder von den Toten auferstanden? (eine junge Autorin aus Österreich, die bei einem tragischen Bergunglück ums Leben kam) Solch ein authentischer, lakonischer Gegenwartsstil wie der ihrige, in dem du schreibst. Ein toller Armenmilieuseinfang in der Einleitung.
Nur das "Ich" fand ich etwas störend und auch irritierend - wer ist das eigentlich? Und mit dem Titel weiß ich nichts anzufangen.

Lg vom kleinen :silly:

 

Danke für Deinen Kommentar. Sorry, dass ich Dir erst so spät antworte. Habe es verpennt.
Die Autorin kenne ich zwar nicht, nehme Deinen Kommentar aber vielleicht als Anlass sie kennen zu lernen.
Schönheit und Geheimnis ergibt Schönis. Ok, natürlich ungeschickt, da ich des Geheimnisses Wortstamm gestrichen habe. Hinterher ist man immer schlauer. Mir gefiel der Klang der Neubildung.

 

Hallo Zaza
... wunderbar. Worte wie ein Morgenstern, dann wieder wie eine süße Daunenfeder reizen meinen Lesergaumen. Ich mag das, wenn Farben, Gerüche und Laute sich in den Worten spiegeln. Kraftvoll, spöttisch und leise mit Widerhaken. Nicht ganz nachvollziehbar und doch kristallklar. Wie gesagt: wunderbar.
Liebe Grüße
Detlev

 

Beeindruckend
in Prosa gebettete Lyrik
ein tragischer Genuss, wortgewaltig, Sinne spitzend, mitnehmend...

:thumbsup:

grüßlichst
weltenläufer

 

schließen sie in ihre Arme und setzen Verbote auf
Gutgutgut !

Hallo Zaza,

imposante Wortsammlung, die Adjektive hast Du drin gelassen was mir gefällt, die Geschichte erinnert mich an ein Gemälde, gelungen !

Wobei der Titel mich lange abhielt sie zu lesen, da ich Schönis als Schönis wahrnahm, halt eine Kurzform von Schönlingen. Sein Geheimnis hat sich mir bis zu Deinem Kommentar nicht offenbart.

Grüße,
C. Seltsem

 

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