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Schützende Hände
Er kam zu spät und würde das Unglück nicht mehr verhindern können. Trotzdem bot Kaluga alle Kraft auf, die er in sich trug, und hetzte zu dem Jungen, der ahnungslos die Straße entlang spazierte. Der Lastwagen war nur noch etwa hundert Meter hinter ihm und donnerte in Schlangenlinien über den Asphalt. Kaluga hätte seine speziellen Kräfte gar nicht einsetzen müssen um zu wissen, dass der Fahrer des Wagens völlig besoffen und im Begriff war, die Kontrolle über das Gefährt zu verlieren, während Peter Nowitzky leise und mit hoher, brüchiger Fistelstimme singend, von der Schule nach Hause ging. Um keine Sekunde zu verlieren, achtete Kaluga nicht auf den Wagen, sondern konzentrierte sich völlig auf den Jungen. Er hörte das Knallen mehrerer Reifen, das Geräusch schleifenden Blechs und warf sich nur noch nach vorne, von reinem Instinkt gelenkt.
Seine Hände fällten Peter, sodass dieser mit einem überraschten Schrei zu Boden stürzte. Kaluga rollte über den Neunjährigen hinweg und blieb stehen. Er wagte kaum sich umzudrehen, musste es aber tun. Er musste wissen, ob er wider Erwarten das Leben des Jungen hatte retten können. Irgendein metallisches Teil krachte neben ihm auf den Gehsteig. Er zuckte nicht einmal zusammen und starrte Peter an, der am ganzen Leibe zitterte, jedoch unverletzt schien. Langsam schritt Kaluga auf ihn zu, und mit jedem Schritt wurde sein Lächeln breiter. Er hatte ihn gerettet! Zwar wusste er nicht, wie er das zustande gebracht hatte. Aber der Junge lebte. Rasch sammelte sich eine Menschentraube um das Geschehen. Eine ältere Frau tröstete das verschreckte Kind, während mehrere Passanten gleichzeitig Polizei und Rettungsdienste anriefen. Der Fahrer des Wagens würde wohl irgendwo hinter den Sträuchern liegen. Durch die Windschutzscheibe geschleudert, wenig mehr denn ein blutiger Klumpen aus Fleisch und Knochen, sein Dasein verschwendet. Sein Schicksal kümmerte Kaluga nicht. Er hatte unter Aufbietung aller Kräfte und Fähigkeiten ein junges Leben gerettet.
Er war ein guter Schutzengel, dachte er und lächelte zufrieden, als ihm jemand von hinten brutal mehrere Schläge versetzte. Kaluga stolperte, fing sich wieder und kam auf die Beine, ehe er weitere Hiebe einstecken musste.
„Blöder Volltrottel! Hornochse! Versager!“, schrie Ernesto und schoss wütend wie ein Stier auf ihn zu. Kaluga wich zurück und hob schützend die Arme. Nicht, dass er und der andere Schutzengel jemals dicke Freunde gewesen wären. Aber sein Verhalten war dennoch völlig rätselhaft für Kaluga und er fragte ihn, weshalb er dermaßen erzürnt sei.
Wortlos packte ihn Ernesto und zerrte ihn an Peter vorbei hinter die schulterhohen Thujen. Dann stieß er ihn zu Boden. Kaluga blieb direkt neben einem leblosen Körper liegen, an dem sich ein Notarzt vergeblich zu schaffen machte. Es war nicht der Unglücksfahrer, sondern eine junge Frau.
„Das war meine Schutzbefohlene“, sagte Ernesto mit ruhiger Stimme.
Wortlos starrte ihn Kaluga an.
„Meine Schutzbefohlene, die ein reiches, erfülltes Leben vor sich gehabt hätte.“
Kaluga schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht! Was hat das mit mir zu tun? Ich habe Peter gerettet, wie es vorgesehen war.“
Sein Gegenüber riss ihn hoch und zerrte ihn ganz nah vor das Gesicht. „Das war aber nicht vorgesehen, du Schande der Schutzengel-Gilde! Der Junge sollte sterben und die Frau leben. Du hast es versaut, du Beutel voll Hundekot!“
„Woher sollte ich das wissen?“, verteidigte sich Kaluga und entriss sich Ernestos Griff.
„Weil es so vorgesehen war, Holzkopf! Es ist unsere Aufgabe, dies zu wissen.“
Kaluga schluckte hart und dachte nach. Deshalb also war er nicht an Ort und Stelle gewesen! Weil er gar keinen Auftrag gehabt hatte, Peters Leben zu retten.
Er war erledigt, schoss ihm in quälenden Endlosschleifen durch den Kopf.
Ernesto würde erklären müssen, warum seine Schutzbefohlene gestorben war, und natürlich alle Schuld auf ihn umwälzen. Womit er nicht einmal Unrecht hatte. Und Kaluga wusste, was dies bedeutete: Ewige Verdammnis. Ihn schauderte am ganzen feinstofflichen Körper. Das hatte er nicht verdient! Er hatte es doch im Gegenteil nur gut gemeint und ein wenig übereifrig agiert. Und dafür sollte er bestraft werden? Ernesto blickte traurig zu der Leiche hinunter. Bevor er sich seiner Handlung auch nur richtig bewusst wurde, fiel Kaluga über seinen Kollegen her. Er streckte ihn zu Boden, riss den Brustkorb auf und wühlte nach dem Seelenlicht. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite und mühelos tötete er den Schutzengel auf die einzig mögliche Weise. Er absorbierte Ernestos Seelenlicht und ließ eine leere Hülle zurück. Von allen Menschen unbemerkt hatte sich das Drama abgespielt, das Kaluga selbst erst allmählich zu begreifen schien. „Was habe ich getan?“
Er blickte in das ausdruckslose, in namenlosem Entsetzen erstarrte Gesicht des Ermordeten. Niemals zuvor hatte es etwas Ähnliches gegeben. Dispute und Zwistigkeiten waren unter den Beschützern durchaus an der Tagesordnung. Doch Mord?
„Es ist kein Mord“, sinnierte er. „Denn Ernesto lebt in mir weiter. Ich habe ihn wie einen Gast in meinen Körper aufgenommen.“
Tatsächlich brodelten fremde Gedanken in ihm hoch. Oder bildete er sich das nur ein? Die Erfahrungswerte für einen solchen Fall fehlten ihm. Vielleicht wurde er verrückt. Kaluga lachte: Ein wahnsinniger Schutzengel! Wenn das kein guter Witz war, dann sollte ihm Petrus persönlich einen besseren erzählen. Aber der hatte nur schöngeistige Witzchen auf Lager, die ihm nur ein Gähnen abrangen.
Er zwang sich, ernst zu bleiben und über die Tragweite seiner Handlung nachzudenken. Niemand hatte ihn gesehen, und mit ein wenig Glück würde auch kein anderer Engel über Ernestos Leiche stolpern. Man würde ihn suchen und vielleicht sogar davon ausgehen, dass er zur Konkurrenz übergelaufen war und Menschen zu Boshaftigkeiten aufstachelte. Aber es gab ein anderes Problem, das er noch lösen musste.
Geduldig wartete er den richtigen Zeitpunkt ab. Es stimmte, was die Menschen sagten: Wenn man erst einmal damit angefangen hatte, konnte man kaum noch damit aufhören. Ernestos Stimme flehte ihn an, seinem verwerflichen Tun abzuschwören. Doch das war unmöglich. Wenn irgendjemand ihm auf die Schliche käme, wartete der Weg nach unten auf ihn. Nach ganz unten. Und er verspürte nicht die geringste Lust, auf ewig in siedenden Fäkalien gebraten zu werden, bis seine Haut schmolz und das Fleisch wie Käse in einem Fondue-Topf zerlief. Wenn die Gerüchte wahr sprachen, war das noch eine der angenehmeren Qualen, die in der Hölle auf missratene Seelen wie ihn warteten. Satan war ein unglaublich kreativer Psychopath! Nein, er würde ganz bestimmt nicht diesen Weg wählen. Es war auch nicht nötig, wenn er die Kleinigkeit ausmerzte. Den Fehler, den er begangen hatte und den er mit eigenen Händen begradigen würde.
Kaluga lächelte, als der junge Peter Nowitzky vor der roten Fußgängerampel stehen blieb und darauf wartete, dass die Autos ihn passierten.