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Schach der Götter
Markus Böhme
Schach der Götter
„Meine Freundin ist verschwunden.“
Der junge Mann in der weißen Uniform blickte zu ihm auf und legte eine Hand auf das Lenkrad.
„Entfernen Sie sich bitte vom Wagen, Sir“, sagte er schließlich.
Christopher Tipper wollte sich nicht vom Wagen entfernen. Er war acht Blocks die Connecticut Avenue hinauf gelaufen und völlig außer Atem. Mit durchnässtem Hemd und loser Krawatte stand er nun vor dem Beamten und wiederholte: „Meine Freundin ist verschwunden. Bitte helfen Sie mir.“
„Ich kann Ihnen nicht helfen, Sir. Bitte wenden Sie sich an die Polizei.“
„Sind Sie denn nicht von der Polizei?“, fragte Tipper und deutete mit zittrigen Fingern auf die Signallichter am Dach des Wagens.
„Ich bin vom Secret Service, Sir. Bitte entfernen Sie sich vom Wagen, Sie machen sich strafbar.“
Tipper fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Dann rufen Sie wenigstens die Polizei für mich.“
„Haben Sie denn kein Handy?“
Tipper schüttelte den Kopf.
Ich hatte eines, dachte er. Aber jetzt nicht mehr.
***
„In dem Fall können wir keine Vermisstenanzeige aufgeben, tut mir Leid.“
Der Cop lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
„Was? Sie ist immerhin nicht mehr da.“ Tipper war nervös.
„Tut mir Leid, eine Person kann erst nach vierundzwanzig Stunden vermisst gemeldet werden. Sie sagten, Sie haben Ihre Freundin heute Morgen das letzte Mal gesehen. Das sind noch nichtmal zehn Stunden, Sir.“
„Zehn Stunden! Was würden Sie machen, wenn Sie nach Hause kämen und Ihre Frau nicht mehr da wäre, obwohl sie da sein sollte? Würden Sie vierundzwanzig verdammte Stunden warten, bis Sie etwas unternehmen?“
Der Beamte zögerte kurz, dann griff nach einem Kugelschreiber. „Wo haben Sie Ihre Freudnin denn das letzte Mal gesehen?“
„In ihrem Apartment. Connecticut Avenue.“
„Und da ist sie jetzt nicht mehr?“
„Das weiß ich nicht.“
„Was soll das heißen, Sie wissen es nicht? Immerhin sagten Sie vorhin, Sie sind von dort gekommen.“ Der Polizist deutete auf den Notizblock, der von ihm auf dem Schreibtisch lag.
„Ich weiß es nicht, weil das Apartment auch verschwunden ist.“
***
Vier Jahre später
„Und weißt du, was das beste ist? Wenn ich es fertig gebaut habe, werde ich es zerstören. Ich werde es verbrennen. Feuer löscht alles aus, weißt du. Feuer tötet, was anders nicht zu töten ist. Ich werde das ganze verdammte Aceton aus dem Labor stehlen, werde jedes Streichholz darin ertränken, jedes Haus, jede Straße, jedes dieser kleinen Menschlein hier...“.
Derryl zeigte mit dem Finger auf einzelne Streichhölzer, die er auf den Straßen seines riesigen Stadt-Modells aus Hölzchen angeklebt hatte.
„...und danach werde ich die Reibfläche dieser Schachtel hier an der Spitze des Empire State Buildings entlangreiben. Die Flammen werden sich von dort aus nach unten fressen, in einem Nu wird das ganze Gebäude in Brand stehen. Danach die Midtown, die untere Stadt, der Central Park hier...“
Er deutete auf baumartige Strukturen in der Mitte seines Modells, die er aus mehreren Hölzchen in mühsamster Handarbeit zusammengefügt hatte.
„...wird in Flammen aufgehen. Die spielenden Kinder auf den Wiesen werden brennen, die Haare der Mütter werde Feuer fangen und eins zwei drei steht die ganze Stadt in Flammen. New York wird brennen, es wird brennen wie eine ölgetränkte Fackel, es wird leuchten wie die Sonne, es wird zur Korona des Atlantiks, zum Luxor des Ostens, zum Ofen des Todes. Selbst über Europa wird sich der Himmel verdunkeln, denn Qualm und Rauch werden endlos, die Flammen unersättlich sein.“
„Genug für heute, Derryl.“
Derryl blickte vom Tisch auf und erschrak. Dr. Ryan stand über ihm und warf einen Schatten auf sein New York Modell.
„Es ist Zeit für die Therapie“, sagte sie lächelnd und half Derryl aufzustehen. Er war zwar erst sechsundsechzig, saß aber bereits seit achtzehn Jahren in der Anstalt , was sichtliche Spuren hinterlassen hatte.
„Na gut, mein Freund“, sagte er zu dem anderen Mann, der noch am Tisch saß. „Dann lasse ich dich mal alleine. Du weißt ja: nichts anrühren.“
„Das würde er nie wagen, das wissen Sie doch, Derryl. Kommen Sie.“ Dr. Ryan lächelte immer noch, als sie den alten Mann aus dem Aufenthaltsraum geleitete. Bevor sie die Tür erreicht hatten, drehte sie sich noch einmal um.
„Ach, Christopher“, sagte sie und sah den verbliebenen Patienten an. „Bevor ich’s vergesse, Sie bekommen heute Nachmittag Besuch. Für nach dem Essen hat sich ein Polizeibeamte angemeldet, der mit Ihnen sprechen möchte.“
***
„Christopher Tipper?“ Der Beamte war groß, dünn und hatte bereits graues Haar. Tipper schätzte ihn auf Ende Fünfzig, vielleicht sogar schon sechzig.
„Was wollen Sie von mir?“ Sie saßen in einem hellen Raum, den die Sonne mit Licht durchflutete, und als Tipper seinen Kopf in Richtung Fenster drehte, musste er die Augen zukneifen.
„Mr. Tipper, es tut mir Leid Sie hier stören zu müssen. Mein Name ist Officer Weymar. Ich habe ein paar Fragen an Sie.“
„Fragen“, sagte Tipper. „Fragen sind Gedanken und Vermutungen, die weder bestätigt, noch verworfen werden können. Fragen zu haben, bedeutet, etwas nicht zu wissen. Fragen zu haben bedeutet, keine Antworten erhalten zu haben. Glauben Sie mir Officer Weymar, niemand weiß das besser als ich.“
Er hatte den Kopf immer noch Richtung Fenster gehalten, als der Polizeibeamte, Weymar, wieder zu sprechen begann. „Ich dachte, Mr. Tipper, dass Sie mir vielleicht einige Antworten geben könnten.“
„Antworten.“ Tipper lachte und sah dem Cop ins Gesicht. „Was kann ich Ihnen schon beantworten?“
Weymar räusperte sich.
„Sehen Sie, es gibt da etwas, das geschehen ist, etwas, das...“ Er hielt inne, räusperte sich erneut, und sprach schließlich weiter.
„Vor acht Monaten gabelte einer unserer Straßenpolizisten eine junge Frau auf, die am Straßenrand stand und hysterisch schrie. Sie war durcheinander und sprach wirres Zeug,. Sagte, sie hätte Teufel verloren, Teufel sei nicht mehr hier und dass er verschwunden sei. Erst als der Officer die Leine in ihrer Hand sah, wusste er, dass Teufel ihr Hund war. Sie hatte ihren Hund verloren, behauptete Sie.“
Tipper sah gebannt in das faltige Gesicht des Cops.
„Wo war das?“, fragte er, aber er kannte die Antwort bereits.
„Connecticut Avenue, Northwest Washington, DC.“
***
„Später, als ich die Dame am Revier vernommen habe, hatte ich sie bereits innerlich als, verzeihen Sie, geistig abnorm eingestuft. Die Dame behauptete, sie ginge jeden Tag mit ihrem Hund – Teufel – von ihrer Wohnung am Dupont Circle rauf in den National Zoo, damit er sich austoben konnte. An jenem Tag im November rempelte sie ein angeblich gutausehender Mann im Anzug an. Dieser hatte ein Verzeihung gemurmelt und war weiter gegangen. Die Frau hatte sich umgedreht, ihm nachgesehen, und als sie sich wieder nach vorne wandte, hielt sie die Hundeleine ohne ihren Hund in der Hand.“
Weymar faltete die Hände auseiandner und legte sie flach auf den Tisch.
„Doch die Leine war nicht abgerissen. Auch hatte sie sich nicht geöffnet, im Gegenteil: Am Ende der Hundeleine war das geschlossene Halsband befestigt – nur der Inhalt fehlte.“
Tipper blickte zum Fenster. „Soll ich Ihnen dabei behilflich sein, einen Hund zu finden?“
Weymar schlug die Hände auf den Tisch und erhob sich aus seinem Stuhl. „Sie wissen ganz genau, warum ich zu Ihnen komme, Mr. Tipper.“
Tipper hatte den Blick immer noch zum Fenster gerichtet.
„Im Oktober vor vier Jahren hatten Sie von einem Secret Service Wagen am International Court aus die Polizei rufen lassen. Sie behaupteten, Ihre Freundin sei verschwunden, und noch dazu Ihr Apartment mit all Ihren Habseligkeiten. Und das, obwohl meine Kollegen damals herausgefunden hatten, dass es weder Ihr Apartment noch Ihre Freundin je gegeben hatte.“
***
„Und weiter? Klassischer Fall von geistesgestört, schizophren. Habe meine eigene Welt erschaffen, wie in den ganzen beschissenen Filmen, die in den letzten Jahren gedreht wurden: Identität, Hide & Seek, Das Geheime Fenster und wie sie alle heißen. Das ist doch ein alter Hut. Haben Sie die Filme nicht gesehen, Officer Weymar?“
Weymar hatte die Hände in die Taschen gesteckt und stand nun neben dem Tisch.
„Sie wissen genau wie ich, dass es nicht so ist. Die Ärzte mögen dafür vielleicht keine andere Erklärung haben, und die lahmarschigen Bullen da draußen in den Straßen von DC auch nicht. Aber ich weiß, Sie sind nicht krank. Es ist wirklich geschehen, vor vier Jahren, habe ich Recht?“
Tippers Gedanken schweiften, und als er den Blick vom Fenster nahm, war Weymar ganz nahe bei ihm – er hatte sich am Tisch aufgestützt und war jetzt über ihm.
„Was bringt Sie zu dieser Annahme, Officer Weymar?“
„In DC muss – wie auch in 43 weiteren Bundesstaaten – ein Hund der Stadt gemeldet werden. Es gibt eine große Datenbank mit allen Hunden des Staates, inkl. Name, Besitzer, Wohnort, gegebenenfalls Versicherungseinträge, etc.“
„Lassen Sie mich raten“, sagte Tipper. „Den Hund hat’s nie gegeben.“
„Natürlich nicht. Zwei ähnliche Ereignisse im Abstand von vier Jahren, an fast exakt derselben Stelle, an der damals angeblich das Apartment Ihrer Freundin stand, an derselben Straße derselben Stadt. Jeweils verschwindet etwas spurlos. In einem Fall ein Hund, im anderen ein gesamtes Haus inmitten anderer Häuser, mitsamt Ihrer Freundin und all ihren Habseligkeiten. Zusätzlich verschwinden alle Beweise, die es geben konnte, dass eines dieser Dinge je existiert hätte: Fotos? Verschwunden. Einträge in Akten? Verschwunden. Pläne, Besitzer, Vermieter des Hauses? Verschwunden. Geburtsurkunde, Schulzeugnisse, Versicherungspolizzen Ihrer Freundin? Verschwunden. Mitmenschen? Wissen nichts. Verdammt, Ihre angebliche Schwiegermutter hat behauptet, sie hätte nie eine Tochter gehabt. Der Ehemann der vermeintlichen Hundebesitzerin wusste nichts von Teufel, der laut ihrer Aussage bereits zwei Jahre alt war.“
Weymar atmete tief ein und wieder aus. „Ich weiß nicht, wie’s Ihnen geht, Mr. Tipper, aber ich glaube kaum, dass es sich hier um puren Zufall handelt.“
„Wie kann es kein Zufall sein?“, fragte Tipper. „Die Ärzte. Es ist bewiesen, dass ich meine eigene Welt erschaffen habe. Dass ich geistesgestört bin, wie Sie es zu nennen pflegen. Wie kann es auch anders sein? Ich habe selbst keine Erklärung dafür. Ich weiß nicht, was damals geschehen ist und was nicht.“
„Schon mal was von selbsterfüllender Prophezeihung gehört?“ Weymar entfernte sich nun wieder ein Stück von Tipper. „Wenn man fest davon überzeugt ist, dass der Mann gegenüber an der Bar schwul ist, wird man alle Anzeichen entdecken, die es angeblich beweisen.“
„Ich weiß was eine selbsterfüllende Prophezeiung ist. Sagen Sie mir lieber, was Sie denken.“
Weymar räusperte sich erneut, dann sprach er mit klarer Stimme.
***
„Wie gesagt, ich glaube nicht an den Zufall. Als ich den Fall zu den Akten legen wollte, gab ich die Daten in den Computer ein. Der Tatort, der keiner war, lautet 2816 Connecticut Avenue. Das Computerprogramm zeigt bei Eingabe der Adresse automatisch Querverweise auf – Fälle, die gespeichert sind und an der selben Adresse stattfanden. So bin ich auf Ihren Fall gestoßen.“
Weymar ging jetzt mit hinter dem Rücken verschränkten Händen im Besucherzimmer umher.
„Sie, Mr. Tipper, hatten damals angegeben, die Adresse des Apartments Ihrer Freundin wäre 2816 ½ gewesen, richtig?“
Tipper nickte. „Korrekt.“
„Solche Adressen sind durchaus üblich, doch nicht in der Connecticut Avenue – auf 2816 folgt 2818. Es gab nie ein 2816 ½. Sie begaben sich in psychologische Behandlung und sind dann, freiwillig, hier nach Rose Gardens gekommen, um professionelle Hilfe und eine Aussicht auf Heilung Ihrer angeblichen Geisteskrankheit zu bekommen. Als ich mich mit dem Fall von Frau Burns, der Hundebesitzerin, und dem Ihren weiter auseinandersetzte, glaubte ich immer mehr an einen Zusammenhang, nicht nur wegen der Adresse.“
„Wissen Sie, was eine selbsterfüllende Prophezeihung ist, Officer Weymar?“, fragte Tipper.
Weymar lächelte. „Hören Sie lieber zu, Mr. Tipper.“
Er fuhr fort: „Der Psychologe diagnostizierte keine schwere Geisteskrankheit bei Frau Burns – immerhin war es nur ein Hund. Sie hatte einige Therapiestunden und glaubt mittlerweile, dass Sie einen leichten „Gehirnaussetzer“ gehabt hat. Sie versucht, nicht an den imaginären Hund zu denken und lebt heute wieder glücklich. Doch mir ließ es keine Ruhe.“
„Was haben Sie unternommen?“
„Ich habe geforscht. Nach ähnlichen Fällen gesucht. Hunderte Jahre in die Vergangenheit, habe die National Archives aufgesucht, mir Tausende Mikrofilme angesehen und die halbe Library of Congress ausgelesen. Und ich wurde fündig.“
Tipper ertappte sich dabei, dass er seine Lippen bewegte, während Weymar sprach. „Sie haben weitere Fälle entdeckt?“
„Dutzende.“
Tipper schloss die Augen. Er war vielleicht gar nicht verrückt. Er war nicht krank. Es gab weitere Fälle.
Weymar fuhr fort: “1999 verschwand vor den Augen eines zwölfjährigen Jungen dessen kleine Schwester. Die Familie hatte nie eine Tochter gehabt, und doch bestand der Junge darauf, sie am Strand von Atlantic City verschwinden gesehen zu haben. Am selben Strand wurden in den letzten vierzig Jahren mehr als 1,9 Millionen Diebstähle gemeldet – ich habe etwa zwanzig davon geprüft, und bei keinem einzigen wurde ein Täter gesichtet oder gar das Gestohlene wiedererlangt. Ich behaupte, es wurde nichts gestohlen: alles ist verschwunden. Im Independece Park in Philadelphia verschwanden seit 1900 drei Personen. Natürlich hat es keine davon je gegeben, und dennoch behaupten drei Zeugen, sie hätten jeweils einen Menschen verschwinden sehen. In der Connecticut Avenue gab es mit den beiden Ihnen bekannten auch drei Fälle: Im Jahre 1814, stellen Sie sich das vor, ist an 1200 Connecticut Avenue vor den Augen einer alten Frau eine Postkutsche verschwunden. Sie hatte sogar die Kutschennummer angeben können, doch hatte die Kutsche nie existiert. Ich behaupte: sie hat existiert.“
„Wie kommen Sie darauf? Und was wollen Sie damit sagen? 1200 Connecticut Avenue ist ja wohl nicht 2816. Und Atlantic City ist ebenfalls nicht in DC.“
Weymar drehte die Augen über. „Ich habe nachgeforscht – 1200 im jahre 1854 befand sich exakt an der Stelle, die im Jahre 2006 mit 2816 beziffert ist. Und damit möchte ich sagen: Es gibt Plätze auf Erden, an denen so etwas möglich ist. Es gibt Orte, an denen Dinge verschwinden können. Und sie verschwinden nicht ohne Grund, Mr. Tipper.“
***
„Sie kennen den Grund, warum 2816 ½ Connecticut Avenue verschwunden ist?“ Tipper war nervös.
„Ich kenne ihn. Um Ihnen den Grund aber nennen zu können, Mr. Tipper, muss ich eines wissen. Erschrecken Sie nicht, wenn ich Sie jetzt frage: Wie möchten Sie sterben?“
Tipper sah Weymar in die Augen.
„Muss ich denn schon sterben?“, fragte er.
„Bitte beantworten Sie meine Frage.“
Tippers Blick schweifte zum Fenster ab. Die Sonne stand schon etwas tiefer, war aber immer noch hell und brannte durch das Glas. Wie möchte ich sterben?
„Schweigend“, sagte er schließlich und Weymar nickte.
„Sehen Sie, Mr. Tipper, und genau das wollen alle Menschen. Ich meine, wer möchte schon schreiend sterben? Beantworten Sie mir bitte eine zweite Frage, danach werde ich alles Verbleibende erzählen.“
Tipper nickte.
„Glauben Sie an Gott?“
„Ja.“
Tipper wunderte sich selbst, wie schnell er die Frage bejaht hatte. Es stimmte, er glaubte an Gott. Nun, die meisten Amerikaner taten das, doch für ihn war es noch mehr als Glaube – es war eine Art Anker auf hoher See. „Glaube ist ein Anker auf hoher See.“
„Dann verstehen wir uns, Mr. Tipper, und dann werden Sie an meinen Worten auch nicht zweifeln.“
Weymar schluckte, räusperte sich zum wiederholten Male und begann dann, sein Wissen preiszugeben.
„Unser Gott, der Gott der Westlichen Welt, ist ein guter Gott. Er versucht, den Menschen ein Leben lang möglichst alles zu geben, was er zu bieten hat. Doch der Gott der Westlichen Welt führt Krieg. Er führt Krieg gegen den Rest der Welt, und der Rest der Welt führt Krieg gegen ihn. Er ist grausam zu anderen Völkern dieser Erde, wie andere Götter grausam zu uns sind. Die Götter führen Krieg, und die Menschen müssen es ausbaden. Stellen Sie es sich wie ein Schachspiel vor – die Spieler hinter dem Brett kämpfen, doch die Figuren sind die Leidtragenden. Schwarz möchte Weiß vernichten, und umgekehrt. Versetzen Sie sich mal in die Lage von Spieler Weiß, Mr. Tipper. Was sind Ihre Ziele?“
Tipper blickte Weymar fragend an, dann antwortete er: „Das sagten Sie doch bereits: Spieler schwarz zu vernichten, ist das Ziel.“
„Nicht Spieler schwarz, Mr. Tipper. Die schwarzen Figuren. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Was ist noch ein Ziel von Spieler Weiß? Ein Nebenziel, wenn man’s so will.“
„Die eigenen Figuren zu erhalten?“
Weymar schrie auf und riss die Arme in die Höhe: „Ganz genau!“
„Ich verstehe nicht. Was hat das mit dem Verschwinden von Personen und Gegenständen zu tun?“ fragte Tipper.
„Wenn Gott bereits weiß, das etwas Schlimmes geschehen wird, wird er, sofern er es erkennt, zu verhindern versuchen.“
„Sie meinen, dass...?“ Tipper stotterte.
„Dass die Schwester der Zwölfjährigen Jungen mit dreißig Jahren ihre Familie getötet hätte, ja. Dass die Postkutsche ein kleines Kind namens Abraham Lincoln überfahren hätte, ja. Dass der Hund von Frau Burns in zwei Jahren einen Autounfall verursacht hätte, bei dem acht Leute ums Leben gekommen wären, ja. Dass das Wohnhaus Ihrer Freundin derart mit Blei vergiftet war, dass sie im jahr 2015 einen hirnkranken Sohn geboren hätte, der im Jahr 2050 den Heathrow Airport in London gesprengt hätte, JAAA!“
„Das können Sie nicht wissen.“ Tipper schwankte.
„Nein, das kann ich nicht. Das sind nur Annahmen. Beispiele, die Ihnen verdeutlichen sollen, was Gott hier macht. Gott nimmt Korrekturen vor, kleine Korrekturen, die nötig sind, um große Leiden zu verhindern. Es gelingt nicht immer, aber es gelingt manchmal. Der Anschlag am 11. September 2001 war ein Punkt für Schwarz, aber Weiß hat sehr viel anderes verhindert, da bin ich mir sicher.“
„Das erklärt immer noch nicht, warum...“
„Warum es nur an manchen Orten passiert? Ich habe es Ihnen bereits erklärt: Es funktioniert nur an manchen Orten. An unaufälligen Plätzen der Gesellschaft. Im Antlitz der Sonne. Vor allen Leuten. Am Times Square. Im Bermuda Dreieck. Im Indepence Park. An der verdammten Connecticut Avenue.“
Weymar trimuphierte.
Tipper lächelte, ohne es zu bemerken. Es klang alles so einleuchtend. Er war nicht krank, war es nie gewesen. Er war gesund, er hatte Recht behalten und durfte einer jener wenigen Menschen sein, die Zeugen von Korrekturen des weißen Spielers im Schachspiel der Götter waren.
Blieb nur noch eine Frage: Woher wusste Weymar das alles?
Noch bevor er den Gedanken aussprechen konnte, fiel Weymars Schatten auf ihn. Er stand zwischen dem Fenster und Tipper, umgeben von einer glühenden Kontur aus Sonnenlicht. Weymar flüsterte: „Wir kennen jetzt ein Geheimnis Gottes, Mr. Tipper.“
Er kam näher. „Das Problem dabei ist: niemand darf ein Geheimnis Gottes kennen.“
Weymar öffnete sein Sakko und zog ein eine große Plastikflasche aus dem Inneren. Tipper wunderte sich noch, wie er eine derart große Flasche die ganze Zeit über in seinem Anzug verstecken konnte, da hatte Weymar sie bereits geöffnet.
„Schach Matt!“ schrie der irre Polizist plötzlich und goss sich selbst den Inhalt der Flasche über den Kopf, auf den Tisch und auf den Boden. Eine Sekunde später sah Tipper die verbleibende Flüssigkeit durch die Luft spritzen, dann durchtränkte sie auch Tippers Gewand und färbte es dunkel. Tipper sah fassunglos zu Weymar, der jetzt ein Sturmfeuerzeug in den Hände hielt.
„Wissen Sie, Mr. Tipper, Feuer tötet, was anders nicht zu töten ist.“
Weymar ließ das Feuerzeug fallen und beide gingen unmittelbar in Flammen auf. Sie brannten lichterloh.
Beide schwiegen, als sie starben.
***
„Wer hält sich da im Besucherzimmer auf?“ fragte Dr. Hudson, der am Gang stehen geblieben war und zur Türe hinüber blickte. Bitte nicht stören stand auf dem Türschild unter dem Sichtfenster.
„Christopher Tipper“, sagte Dr. Ryan.
„Dr. Ryan, darf ich Sie darauf hinweisen, dass sonntags keine Besucher erwünscht sind?“ Hudson deutete auf ein Plakat an der Wand, das die Besuchszeiten verkündete: Mo-Sa, 13.00 -17.00 Uhr.
„Keine Sorge“, sagte Dr. Ryan. Sie ging zur Tür hinüber und Hudson folgte ihr.
„Sehen Sie?“
Gemeinsam lugten sie durch das Sichtfenster in das Besucherzimmer, in dem Tipper einsam auf einem Stuhl saß und an seinen Fingernägeln kaute.
Dr. Ryan klopfte vorsichtig an, dann öffnete sie die Tür.
„Christopher, glauben Sie nicht, dass Sie schon lange genug hier drin sind?“
Tipper sah auf und lächelte. Aber es war kein dümmliches Lächeln, wie Dr. Ryan es schon oft bei ihren Patienten gesehen hatte. Es war ein aufrichtiges Lächeln.
„Sie sind tot“, sagte Tipper leise. Er blickte zum Fenster hinaus, wo die Sonne in einem hellen Orange hinter den Hügeln verschwand, und eine Träne lief ihm die Wange hinab.