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Scharade
Schon auf dem Hinweg wusste Maia, dass etwas nicht stimmte. Dabei schien alles in Ordnung: Es war ihr achtzehnter Geburtstag und gemeinsam mit ihrer Freundin Anni war sie auf dem Weg zur Kneipe, in der der sie feiern wollten. Sie hätte ausgelassen sein sollen, dachte sie, und sich auf den Abend freuen. Aber je näher sie an die Kneipe kamen, desto stiller wurde Maia, bis sie schließlich überhaupt nichts mehr gesagt hatte, und wortlos neben Anni im Auto saß.
»Komische Gegend.«
»Hey, wir müssen nicht dort feiern, das weißt du. Aber es ist echt toll. Du bist sicher nur aufgeregt, das ist alles. Bist ja schließlich jetzt achtzehn, das ist was Besonderes, hm? Ab heute bist du erwachsen.«
Anni kicherte und Maia lächelte mit. Sicher war es nur Einbildung. Aber das Gefühl blieb in ihr hängen wie eine Zecke. Etwas stimmte nicht. Nur was?
Es wurde ihr klar, als das Taxi um eine Ecke bog und sie die Kneipe erblickte. Alte Häuser standen Schulter an Schulter, und vor einem standen Stühle auf dem Bürgersteig, dahinter waren hohe Fenster in Rundbögen, eine kleine Treppe führte hinauf zum Eingang. Es war nicht das Gebäude, dass ihr Unwohlsein bereitete, es war das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein, das Gefühl, das Gebäude zu kennen. Sie schluckte, und auch Anni musste ihr Zustand wohl aufgefallen sein, das andere Mädchen musterte sie.
»Geht's dir nicht gut? Du bist so blass.«
»Ich hab von dem hier geträumt.«
»Wie meinst du das?«
Wie konnte sie es erklären? Es war alles so unwirklich. Aber sie erinnerte sich deutlich an das Gebäude, an die Stühle und die Rundbogenfenster.
»Ist schon in Ordnung. Ich ... ich bin sicher nur aufgeregt.«
»Also ist alles klar?«
»Ja.«
»Gut. Dann komm rein, du wirst begeistert sein. Jack war früher auch oft hier, bevor ...«
»... bevor er verschwand?«
»Ja. Tut mir leid, wollte nicht wieder damit anfangen.«
»Macht nichts, es ist ja lange her. Bin drüber weg. Hoffe halt, dass es ihm gut geht.«
Jack. Der Gedanke an ihren Ex-Freund hatte einen Stich in ihrem Herzen hinterlassen. Warum hatte Anni ihn erwähnt? Und wohin war Jack verschwunden, damals, vor zwei Jahren? Maias Gedanken glitten ab. Erneut hatte sie das Gefühl, alles hier zu kennen. Es war unangenehm, dieses Gefühl, es lastete auf ihrer Seele und zog sie hinab, dorthin, wo es dunkel war.
Jack, wohin bist du verschwunden? Wie gern hätte sie ihren Geburtstag mit ihm gefeiert, wie damals, vor zwei Jahren.
Als sie die Kneipe betraten und sich die Türe hinter ihnen schloss, hatte Maia das Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Im Inneren wirkte alles normal. Einige Gäste saßen beinander, aber es war noch nicht voll – dafür war es wohl zu früh. Anni ging in den hinteren Teil zu einem großen, dunklen Tisch mit einem Schildchen: Reserviert. Sie sah sich um, keiner schien Notiz von ihnen zu nehmen. Schließlich zog sie die Jacke aus und setzte sich auf einen der Stühle neben Anni, die schon die Getränkekarte studierte.
»Hey, die haben Jacky-Cola auf der Karte stehen.«
»Mhm.«
»Aber erst später. Sonst bin ich gleich blau. Aber du solltest was trinken. Ach was, wir trinken beide.«
»Mhm.«
»Hey, was ist los? Bist du immer noch so mies drauf? Lachen, Maia, lachen.«
Maia seufzte und sah zu ihrer Freundin.
»Ich war hier schon mal. Wirklich. Ich habe lange nicht daran gedacht, es ist Jahre her.«
Anni hob die Brauen, schloss die Getränkekarte, und legte sie übertrieben langsam auf die Tischplatte.
»Hör mal. Es war ein Traum, ja? Nur ein Traum.«
»Klar.«
»Pass mal auf. Bis die anderen kommen, dauert's eh noch 'n bisschen. Magst drüber reden?«
»Ich weiß nicht ...«
»Na komm schon. Was hat du denn geträumt, damals?«
»Ich war hier. Genau hier, in dieser Bar. Und es war mein Geburtstag.«
»Klingt nicht unheimlich.«
Dann hör' mir doch zu, dachte Maia.
»Wir haben gefeiert und ... nun ja, eben Party gemacht. Du warst auch dabei und Martin und Johannes und Claudia ... wir haben getrunken und gelacht.«
»Ja und weiter?«
»Um Mitternacht - da kam die Wirtin. Und sie ... sie brachte mir einen Geburtstags-Special. Einen Drink, nur für mich. Er war grün.«
»Das ist doch nett. Ich verstehe nicht, wo der Horror dabei ist.«
Du blöde Kuh, dachte Maia, schluckte den Gedanken jedoch runter.
»Ich hab's getrunken. Dann hat sich alles gedreht, die Wände haben sich gebogen und ich hab die Decke über mir gesehen und die Gesichter. Die waren durcheinander, alle Leute - nur die Wirtin nicht. Ich hab sie gesehen, wie sie sich über mich gebeugt hat, sie hat auch was Grünes getrunken. An ihrer Hand hat sie nen Ring gehabt, der war aus Gold, mit einem grünen Stein. Die war ganz seltsam, die Frau - als wäre sie froh.«
»Oha. Und du meinst jetzt, sie hätte dich vergiftet?«
»Ich weiß es nicht. Aber dann, im Traum, bin ich aufgewacht. Das heißt, ich hab geträumt, dass ich aufgewacht bin, und alles ist schwarz gewesen. Ich war in einem Sarg eingesperrt, es hat nach Wachs und ranzigem Fett gestunken. Ich hab's geschafft, den Deckel hochzudrücken, und war mitten auf einer Beerdigung. Alle haben mich angestarrt. Total irre.«
»Komisch.«
»Das ist noch nicht alles. Ich war nicht ich, sondern ich war ... die Wirtin. Ich hab meine Hände angesehen, und sie waren nicht meine, sie waren alt. Und ich hab den goldenen Ring erkannt, den mit dem grünen Stein.«
»Bist du sicher, dass es genau der Ring war?«
»Ja! Einer auf der Gesellschaft um mich herum hat dann gemeint, er sei mein Bruder. Und eine andere Frau mit Damenbart hat gezetert. Dann sind wir zum Italiener und haben gegessen. Dort waren wir aber nicht allein. Noch jemand war gestorben. Da war ein Sarg, vor dem Italiener. Frag mich nicht, wie er dort hinkam. Und neben dem Sarg standen meine Eltern.«
»Was?«
»Ja. Ich war auch gestorben. Ich war zwar tot, aber im Körper der Wirtin.«
»Warte ... du bist in ihrem Körper wieder aufgewacht?«
»Ja!«
»Du träumst vielleicht Sachen. Echt verrückt.«
»Meine Eltern haben mich erkannt. Also ... sie haben die Wirtin erkannt – den Körper, in dem ich war. Sie hätte mich vergiftet, also die Wirtin. Das hat zumindest die Frau mit dem Damenbart behauptet. Und dass ich, also die Wirtin ... dass sie sich umbringen wollte. Mit Gift.«
»Ja aber warum hat sie dich mit umgebracht?«
»Das weiß ich nicht. Ich frage mich das auch. Wirklich, ich hab keine Ahnung. Und auch nicht, warum wir den Körper getauscht haben. Es ist alles so wirr. Aber verstehst du jetzt, warum ich durcheinander bin?«
»Ja. Aber hey ... es war doch nur ein Traum.«
»Nur ein Traum, ja. Nur ein Traum. Aber hier: Der Tisch, die Decke - das ist alles wie in meinem Traum. Nur die Wirtin ist eine andere.«
»Das Mädchen? Das ist nicht die Wirtin.«
»Wie?«
»Das ist Nikki, die Kellnerin.«
»Oh Gott, ich hoffe nur, ich sehe heute die Wirtin nicht.«
»Ach komm, du bist hier und lebst und das war alles sicher nur ein blöder Zufall.«
»Klar.«
Anni nahm die Getränkekarte wieder zur Hand und wirkte unbekümmert. Aber etwas an ihr hatte sich verändert. War sie blass geworden?
»Ich will 'n Jacky-Cola. Du?«
»Hm. Mir egal.«
Nikki, die Kellnerin, brachte zwei Drinks. Schon nach kurzer Zeit fühlte Maia sich besser, die Sorgen waren verflogen. Ihre Freunde kamen nicht, aber es war ihr egal. Sie lachte vor sich hin, alberte herum und alles schien gut - bis unvermittelt die Wirtin an den Tisch kam.
»Hab hier was für dich.«
Maia sah den Drink, den die Wirtin brachte, und erbleichte. Die Welt um sie herum verstummte.
»Was ist das?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Ach, ein Geburtstags-Special. Für das Geburtstagskind.« Ihr Lächeln wirkte falsch, fast, als trüge sie eine Maske. Für einen Moment vermeinte sie sogar, einen Schatten über ihre Augen huschen zu sehen.
Plötzlich verstand sie und riss die Augen auf. Der Traum war eine Warnung gewesen! Sie wusste zwar nicht, wer sie warnen wollte, aber eins wusste sie ganz genau: Den Drink würde sie nicht trinken. Sie registrierte die Blicke der anderen Gäste, sie schienen sie gebannt anzustarren. Wussten sie etwas? Die Stille war greifbar. Panik quoll in ihr hoch.
»Was soll das hier, was ist das für ein Spiel?«
»Kein Spiel. Nur ein kleines Geschenk zu deinem Geburtstag. Anni hat es ausgesucht. Nur für dich. Und ich bekomme auch eins, ich habe nämlich auch Geburtstag.«
Annis Gesicht zierte ein selbstzufriedenes Lächeln. Ein grausamer Zug lag auf ihren Mundwinkeln.
»Anni? Aber ... warum ...?«
Die Wirtin legte einen Arm um Anni, welche aufsah und ihr zulächelte.
»Anni ist meine Tochter. Ich bin eigentlich eine glückliche Frau. Nur gefällt mir mein Körper nicht mehr. Er ist so ... alt. So aufgebraucht. Morgen werde ich einen besseren haben. Und du wirst dich ebenfalls, nunja, verändern.«
Sie zwinkerte Maia zu.
»Warum ...?«, sagte sie und ihre Stimme schien ihr nur widerwillig zu gehorchen.
»Warum wir das machen? Unsere Sache. Oder meinst du den Traum? Ein bedauerlicher Unfall. Jack war das.«
»Jack ...?«, krächzte sie.
»Ach komm, tu doch nicht so!«, sagte Anni. »Du hast ihn mir ausgespannt vor zwei Jahren, erinnerst du dich nicht? Und sag bloß nicht, du hättest nicht gemerkt, dass er eigentlich mich wollte! Aber du Schlampe hast dich ja so sehr an ihn rangeworfen, dass er mich einfach links hat liegen lassen. Plötzlich war er dann verschwunden. Komisch, oder? Hast du dich nie gefragt, wo er denn ist? Ich weiß es, Maia. Ich weiß, wo er ist. Er ist nicht mehr wie früher. Er hatte einen Unfall. Und daran bist du schuld, du allein! Er war abgelenkt, eine Sekunde nur, weil er an dich gedacht hat. Und ich werde mich an dir rächen dafür, dass du ihn mir weggenommen hast!«
Maia wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust. Die dunklen Augen der Wirtin richteten sich auf sie.
»Arme Maia. Arme Kleine. Meine Tochter hat mir so viel von dir erzählt. Weißt du – es gibt so viele Dinge, von denen du nichts weißt. Früher mochte sie dich, und wer weiß? Vielleicht wärst du so oder so einmal zu uns gekommen. Unter anderen Umständen. Nunja. Es führt kein Weg daran vorbei. Los, trink den Becher aus. Sofort!«
Maia schluckte und fühlte kalten Schweiß auf ihrem Rücken. Sie musste hier weg! Niemals würde sie aus dem Becher trinken. Mit einer Kraft, die sie sich selbst nie zugetraut hätte, stand sie auf und stürmte an allen vorbei zur Tür. Niemand versuchte sie aufzuhalten. Sie riss die Tür auf. Nur weg hier, schnell! Plötzlich hörte sie ein Grollen hinter sich und drehte sich um. Mitten im Schankraum war ein Schatten aufgetaucht, ein dunkler Nebel aus körperhafter Schwärze. Ein Mann trat aus dem Schatten, sein Gesicht war schrecklich entstellt, tiefe Narben zogen sich wie Ackerfurchen durch sein Gesicht, sein rechtes Auge fehlte. Trotzdem erkannte sie das Gesicht und das Blut gefror ihr in den Adern.
»Jack ...?«
»Maia, warte ...« Seine Stimme war wie Pergament: brüchig und alt.
Das war zuviel. Sie schrie auf und rannte die Treppen hinunter, stürmte blindlings auf die Straße. Die Scheinwerfer sah sie viel zu spät und das Letzte, was sie realisierte, war, dass sie nicht durch Gift sterben sollte.
Die Welt bestand aus Schmerz. Maia fühlte sich, als lägen glühende Kohlen auf ihrer Haut und würden sich quälend langsam in ihr Fleisch brennen. Sie war sicher, dass sie sich in der Hölle befand. Sie konnte die Augen nicht öffnen, und wollte es auch nicht, denn sie fürchtete, das, was sie dann sehen würde, wäre grässlicher als die Schwärze. Nach einer Weile drangen Stimmen in ihr Bewusstsein, verzerrt und leise, als kämen sie aus weiter Ferne.
»Arme Kleine.«
»Ja. Der gute Körper. Ich hätte ihn brauchen können.«
»Was machen wir mit ihr?«
»Lebt sie denn noch?«
»Ja.«
»Wer weiß wie lange noch. Bring sie zu Jack.«
»Zu Jack? Scheiße. Warum?«
»Wenn sie stirbt, ist es gut. Es wird keine Fragen geben.«
»Und was, wenn sie überlebt?«
»Dann, meine Tochter ... dann wird sie eine von uns.«