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Scharfstein
Scharfstein kniete vor der Felsplatte. Er schob die dünne Schneedecke beiseite und legte die Ascheschicht darunter frei. Direkt daneben schichtete er Stücke weißer Rinde. So wie er es von Finsterblick gelernt hatte, als dieser noch aufrecht gehen und große Steine heben konnte.
Aus der frisch gerissenen Rinde troff der Saft, schmolz kleine Löcher in den Schnee. Scharfstein brach den Bast gegen die Wölbung, drückte die Stücke flach aufeinander und häufte feuchte Asche darüber. Als von den weißen Fetzen nichts mehr zu sehen war, beugte er sich hinunter zu seinem Tragegestell und löste die Riemen. Dünne Äste und trockene Zweige rollten herunter.
Geübt stellte er drei armlange Hölzer mit den Spitzen aneinander über den mit dunklem Staub bedeckten Haufen. Er lehnte weitere daran, knackte die Zweige klein und schob sie in das Holzgerippe. Dann stand er auf, rupfte einige Büschel gelbes Gras aus dem Schnee, klopfte die Wurzeln aus und warf es auf den Stein. Ein kleiner Wind streichelte sachte die Baumspitzen.
Er stand still und horchte. Nur das Glucksen des Tauwassers, sonst nichts. Bevor er sich wieder hinkniete, spähte er Richtung Waldrand, dann hinunter zum Bachlauf. Keine Spuren im Schnee außer den seinen. Der weiße Abhang glitzerte im Sonnenlicht.
Er schloss die Augen, stand still und sog die kalte Luft ein, bis sie sich in die Brust fraß. Kleine Falten standen auf seiner Nase. Da war etwas hinter dem nassen Stein, dem Holz, der Asche. Seit einigen Tagen roch die Luft anders. Es war nicht nur der junge Frühling, der die ersten Halme durch den Schnee drückte und die Bäume knospen ließ. Dahinter war etwas anderes, eine Witterung, die ihm fremd war.
Aus dem Beutel an seiner Hüfte nahm er Feuerstein und Schwefelkies. Den Zunder, der auf dem toten Baum im Tal wuchs, trug er an seiner Brust, wo er trocken blieb und warm. Er brach ein kleines Stück und legte es auf den Schwefelkies. Schon nach wenigen Schlägen mit dem Stein glomm der faserige Brocken. Scharfstein nahm ihn auf, hauchte flach in das knisternde Rot und legte ihn unten auf die zerbrochenen Zweige. Schnell bedeckte er die glimmende Stelle mit Grasbüscheln und blies hinein. Kleine Flammen züngelten aus dem Gras, leckten an den Spitzen der Äste. Scharfstein wartete, bis das Feuer klar wurde. Erst dann legte er nach, wärmte die geschwärzten Finger. Anfangs musste das Feuer groß sein und heiß. Die Flammen schlugen in die eisige Luft, ließen den Waldsaum zu einem dunkelgrünen Fleck verschwimmen.
Der Rauch trieb ihm Bilder in den Kopf. Alles wütende Klopfen gegen die Schläfen half nicht. Er sah es in den auflodernden Flammen: das große Feuer am Eingang der Höhle, hinter dem aufgeschütteten Wall aus Steinen, Knochen und Fellen. Und wenn es dunkel wurde, erzählte Finsterblick Geschichten von Jagden, von runden Bäuchen voller Fleisch, von kurzen Sommern und von denen, die gegangen waren.
Er sah Eisbach, die vor ihm weglief, Haken schlug wie ein Schneehase und sich immer wieder umdrehte. Dabei blitzte ihr Lachen durch das glänzende, helle Haar. Später ließ sie sich von ihm fangen und fiel mit ihm in das warme Sommergras. Auf dem Boden umklammerte sie ihn fest wie einen Baumstamm und schob die Hand unter sein Fell, wo er schon auf sie wartete.
Im Winter danach lag Eisbach am großen Feuer und fror. Das verdrehte Bein mit der Wunde, wo der Eber sie erwischt hatte, heiß und blau. Unter den vielen Fellen zitterte sie so stark, dass selbst er nicht vermochte sie festzuhalten. Irgendwann stöhnte sie nicht mehr, wurde in seinen Armen kalt und bleich. So weiß wie das Häufchen Asche, das von ihr blieb, bis der Wind hineinblies.
Das Feuer zischte, erste Tropfen quollen hervor, warfen auf dem heißen Stein Blasen. Zu früh, der Stein musste kälter sein, bevor er das zähe Schwarz abkratzen konnte. Oben stand ein Totenvogel in der Luft, krächzte rau. Scharfstein räusperte sich, bewegte die schwarze Feder in seinem Haarschopf, rief den Gruß zurück.
Die Nadelbäume hinter dem Schneebrett warfen dunkle, spitze Zähne auf die gleißende Fläche. Ein weißer Hase zog bei seiner Flucht eine tiefe Furche durch die Schneehaut des Abhangs, bevor er im Walddunkel verschwand.
Er nahm den langen, geraden Trieb, den er zuvor geschnitten hatte und begann, mit seinem Faustkeil, die weiße Rinde, die kleinen Auswüchse und das weiche Äußere abzuschaben. Sobald er damit fertig war, würde er das dickere Ende anspitzen und einen Spalt hineinritzen.
Tief unten im Beutel lag das Stück, das er aus der Steinknolle geschlagen hatte. Scharfstein konnte die Klinge im Stein spüren, schon bevor er sie freilegte. Nur er vermochte, derart lange und scharfe Stücke zu schlagen und das beste von ihnen wollte er in den Spalt einsetzen – sobald das Feuer erlosch und das Schwarz zu dampfen aufhörte.
Scharfstein ahnte die Bewegung mehr, als dass er sie sah. Er riss den Kopf herum und spürte den Luftzug an der Schläfe. Wütend griff er die unfertige Lanze, sprang auf die Füße und wirbelte herum. Nichts zu sehen. Der schwarze Vogel kreiste über den weißen Stämmen am Bachlauf, vom Hasen keine Spur. Ein Rascheln, dann eine blitzschnelle Bewegung am Rande des Sichtfeldes. Mit einem Grunzen sank er zu Boden, als etwas sein Knie traf. Ein faustgroßer, rund behauener Stein rollte in den Schnee.
Er hatte gesehen, aus welcher Richtung er kam und kroch hinter den flachen Stein. Das Knie pochte wild, der Schmerz nahm ihm den Atem. Er wischte mit dem Handrücken seine Augen trocken.
Vorsichtig spähte er durch das Feuer. Sie kamen die Geröllhalde vom Bach herauf. Zwei geduckte Gestalten, die von Fels zu Fels hasteten. Ihre Haut war dunkler als die seiner Gefährten, die Haare schwarz und wirr. In den Händen trugen die Fremden dünne, kurze Speere. Sie zischten Laute und zeigten sich zuckende, verdrehte Finger. Neulinge.
Scharfstein griff in den Beutel. Schwer lag die Steinspitze in seiner Hand. Mehr hatte er nicht. Er kauerte hinter der Felsplatte. Wartete. Die Neulinge waren vorsichtig. Vor ihm schlug der schwarze Saft Blasen, brach sich als Rinnsal seinen Weg, tropfte von der Steinkante und dampfte in den Schnee.
Er kroch um die Steinplatte herum, bis sie sich genau zwischen ihm und den Neulingen befand, legte sich auf den Rücken und stemmte beide Füße unter die Kante. Das Knie stach, als er es beugte. Alles kam auf den einen Augenblick an.
Ab und zu hörte er einen Stein reiben, dazwischen knirschende, leichte Schritte im Schnee, weit auseinander. Sie kamen von den Seiten. Als er nichts mehr hörte, wusste Scharfstein, der Augenblick war gekommen. Alle Muskeln zum Zerreißen gespannt, der Schmerz im Knie vergessen. Sein Atem ging schnell und doch gleichmäßig. Er war bereit.
Zögerlich wanderte die Spitze des dünnen Speers über das Feuer, neigte sich als könnte sie ihn wittern, wurde ruckartig nach hinten gezogen. Mit aller Kraft ließ Scharfstein seine kräftigen Beine nach vorne schnellen. Die Felsplatte überschlug sich auf die Füße des Neulings. Das kochende Schwarz spritzte an seinen Beinen hoch, ließ ihn vor Schmerz aufbrüllen.
Scharfstein sprang auf die Füße. Mit einem Satz war er beim anderen Neuling. Eine Frau. Aus ihrem Gesicht wich die Farbe. Ohne Zögern stieß er die Faust in ihre Nase, hörte dumpf etwas brechen. Sie sank nieder, schlug hart mit dem Kopf auf und blieb reglos liegen.
Als er sich umdrehte, sah er den Mann auf dem Boden gekrümmt. Er versuchte, die zermalmten Füße unter dem Stein hervorzuziehen. Die Glut fauchte im Schnee, es stank nach verkohltem Fleisch. Scharfstein sprang auf ihn und rammte ihm die Spitze mit beiden Händen in die Brust.
Der Mann versuchte, die Luft zu beißen, etwas davon in seinen Hals zu bekommen, doch es gelang ihm nicht. Rötlicher Schaum und Blut quollen aus seinem Mund. Scharfstein kannte diesen Blick von Beute, die er gestellt hatte. Wieder und wieder bäumte der Mann sich auf, schlug um sich, bis er zuletzt die Augen verdrehte und erschlaffte.
Scharfstein zog die Klinge aus der Brust, wischte sie im Schnee ab und wartete, bis seine Kraft zurückkehrte. Er stand auf und schlug sich die Faust vor die Brust.
Die Gefährtin des Toten lag wenige Schritte entfernt, ein Bein angewinkelt, das andere von sich gestreckt. Blut lief aus ihrer Nase und aus der Wunde am Hinterkopf. Unter dem Fell sah er ihr entblößtes schwarzes Dreieck.
Er ging zu ihr, kniete sich zwischen ihre Beine, drückte sie weiter auseinander und hob ihre Hüfte an. Mit seinem Eindringen wurde sie wach, spuckte Blut und schrie. Sie versuchte sich aufzurichten, schlug ihm die Nägel durchs Gesicht. Scharfstein lachte, drückte ihre Schultern zu Boden, hielt ihre Arme fest und ließ sie schreien, bis er fertig war. Dann legte er die Hände um ihren Hals und hörte erst auf zu drücken, als sie die Augen schloss.
Er wandte sich ab, nahm den Speer des Neulings auf, wog ihn in der Hand. Das Holz war rötlich und schwer, der Schaft schräg gekerbt. Eine brauchbare Waffe.
Auf dem Rückweg folgte er den Abdrücken im Schnee hinunter zum Bach und auf der anderen Seite bergan in das dunkelgrüne Dickicht. Die Spuren der Heuschuhe waren schmaler und länger als seine, lagen weiter auseinander und waren flacher. Hinter dem Bergrücken vereinten sie sich mit weiteren Fußstapfen gleicher Form. Einige folgten seinen eigenen, beinahe verschneiten. Sie führten Richtung Lager.
In seinem Bauch zog sich etwas zusammen, wie mit einem Strick aus Luft abgeschnürt. Mit einem Mal verlangsamte sich die Welt. Er sah den staubigen Schnee von den Bäumen rieseln, als Schauer einzelner Flocken, dicht wie eine Wolke aus Asche. Sein Blut gefror zu Eis.
Ein bitterer Geschmack kroch seine trockene Zunge hoch. Scharfstein leckte mit großen Augen Schnee von seinem Arm und schluckte. Der scharfe Geschmack blieb. Weit entfernt hörte er den schwarzen Totenvogel schreien.
Schon auf dem Kamm der Grassenke sah er, dass etwas nicht stimmte. Am Fuß des Anstiegs in den Berghang befand sich etwas, das dort nicht hingehörte. Die Trockengestelle für das Fleisch lagen umgeworfen dahinter. Von seinem Stamm war niemand zu sehen.
Er hinkte hinunter zu dem dunklen Klumpen, der sich bewegte. Scharfstein spürte den Fuß nicht mehr. Jegliches Gefühl war aus dem Bein gewichen, hatte nur das Stechen im Knie zurückgelassen und selbst das war dumpf.
Der Wolf reckte seine Läufe gen Himmel. Sie zuckten im Rhythmus der Schnabelstöße des Geiers, der faserige Stücke aus seinem Bauch riss. Der Vogel hüpfte krächzend zur Seite, als Scharfstein auf ihn zuhielt. Ein zerbrochener Speer lag im Schnee neben dem Wolf. Aus dem blutigen Schaft war die Spitze entfernt worden, die Riemen lagen zerschnitten daneben. Unter der Spitze war das Holz gekerbt, wie es niemand aus seinem Stamm tat. Der Schnee begann sich zu drehen und mit ihm der wartende Leichenvogel, die Sonne und der gezahnte Waldsaum, bis alles im dunklen Loch in der Bergflanke verschwand.
Auf allen Vieren kroch er den Pfad zur Höhle herauf, richtete sich auf dem Wall aus Steinen, Knochen und Fell auf und schaute hinab auf das Lager. Der Boden war mit rotbraunen Flecken gesprenkelt, Gliedmaßen lagen abgetrennt neben Rümpfen. An den Knochen hingen Fleischfetzen, das meiste hatten sich schon Tiere geholt.
Kälte schoss über ihn, als wäre er ins Eis gebrochen. Als er verstand, begann er zu zittern. Niemanden war übrig, der abends am großen Feuer Geschichten erzählen würde. Es gab keinen mehr außer ihm, er war der Letzte.
Ein Knurren entfuhr seiner Kehle, steigerte sich zu einem einsamen, tierischen Schrei, der durch die Höhle echote. Noch bevor er verklungen war, traf ihn ein Schlag in den Rücken und schleuderte ihn nach vorne. Hart schlug er auf die Seite, hinter ihm barst Holz. Aus seinem Bauch ragte eine blutige Spitze, daran ein gekerbter, roter Stock. In der kurzen Taubheit, bevor der Schmerz kam, drehte er den Kopf.
Verschwommen sah er die Frau, die ruhig hinter ihm stand und auf ihn herabschaute, als würde sie einen großen Fisch jagen. Unter der geschwollenen Nase tanzten ihre rot verkrusteten Lippen mit Lauten, die so neu waren, wie sie selbst. Ohne zu verstehen, hörte Scharfstein ihren scharfen Klang und wusste, es waren Worte des Triumphs, wie auch er sie gerufen hätte. Doch es gab niemand mehr, der sie verstanden hätte.
Die Frau blieb stehen und schaute zu, wie sein Atem flacher wurde. Mit einem Fuß drehte sie ihn auf den Rücken, drückte mit den Zehen auf seine Hoden. Bevor er die Augen schloss, sah er, wie die Frau über ihn stieg, das Fell vorne anhob und auf ihn Wasser ließ.