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Schatten

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05.05.2004
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Schatten

Hier sitze ich und lausche der schreienden Stille. Hier sitze ich und fühle die Leere, die mich bedrängt und mir den Atem nimmt. Hier sitze ich seit Stunden. Stunden, in denen die Schatten in das Zimmer geflossen sind wie Teer, in Schach gehalten nur von der Kerze, die vor mir auf dem Tisch steht.
Sie hat die Kerze zurückgelassen, offenbar hat sie keine Verwendung mehr dafür. Die Kerze ist schon beinahe abgebrannt, und ihre Flamme ist nur noch winzig. Jeder Atemzug lässt sie erzittern, und jedes Zittern lässt die Schatten in grotesken Verrenkungen an den Wänden tanzen. Früher dachten die Menschen, diese schwarzen Figuren, wären Gespenster, Dämonen, die nachts hervorkämen, um sie heimzusuchen. Jetzt, wo ich hier sitze, weiß ich, dass sie recht hatten. Hinter meinem Rücken, unter meinem Tisch, dort wo ich sie nicht sehe, hocken die Monstren und warten auf das Sterben der Kerze, warten darauf, über mich herzufallen. Und Sie kichern hysterisch und siegesgewiss, denn sie wissen, dass sie nichts anderes zu tun haben, als zu warten.
Die meisten Leute denken, die Schatten wären es, die von Zeit zu Zeit in die heile Welt des Lichts einfallen und bald wieder verschwinden, als wären die Schatten das Besondere, die Ausnahme. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Die Dunkelheit ist die Normalität. Die Finsternis ist der Ursprung. Das Licht kann Sie nur kurz verdrängen, sie zu Schatten degradieren, die darauf lauern, ihren angestammten Platz wieder zu erobern, ohne darum kämpfen zu müssen. Denn wenn die Sonne versinkt, brandet die Flut der Dämmerung wieder über die Welt. Wenn die Lampen verglühen, die Feuer verlöschen, ist alles wieder wie zuvor. Das Licht hat ständig zu kämpfen. Die Schatten haben nur zu warten.
Noch kämpft meine kleine Kerze ihren vergeblichen Kampf. Doch schon sind die Monster auf den Rand des Tisches gekrochen. Sie sitzen bereits auf meinen Schultern, und sie wissen, eines Tages wird ihr Sieg endgültig sein. Eines Tages, wenn die letzte Kerze abgebrannt ist, wenn die letzte Sonne verloschen ist, wenn nicht einmal die Erinnerung an Licht mehr glüht, wird nichts mehr sein, als alles umschlingende Finsternis, als alles bedeckender Schatten.
Wie mickrig ist dagegen die Anstrengung meiner hoffnungsvollen Beschützerin. Ich sollte selbst für mich kämpfen. Denn ich weiß, irgendwo habe selbst ich noch Streichhölzer, irgendwo im dunklen Keller. Ich müsste sie nur holen. Aber ich wage es nicht. Ich fürchte mich. Denn der Keller zeigt mir erst recht, wie schwarz die Finsternis sein kann. Der Keller ist ein geifernder Schlund, und ich kann lediglich hoffen, dass er mich wieder ausspeit, wenn ich mich ihm preisgebe. Auch wenn er meine einzige Rettung sein mag.
Aber selbst wenn ich es wagte, was würde es mir nützen? Streichhölzer sind Betrüger. Anfangs blenden Sie mit einer Eruption aus Licht. Aber vom ersten Moment ihres Lebens brennen sie ihrem nahen Ende entgegen und hinterlassen nur schwarze, zerbröckelnde Relikte. Und wer an ihnen festhält und ihr Ende nicht wahr haben will, wird durch Schmerzen zum Loslassen gezwungen.
Aber ich weiß auch, irgendwo dort draußen kämpft jemand den gleichen Kampf gegen die Schatten. Irgendjemand mit einer Laterne, die nicht brennt. Irgendjemand auf der hoffnungslosen Suche nach jemandem, der Streichhölzer besitzt. Doch der einzige Weg, der nach draußen führt, führt zuerst durch den Keller.
Nun bildet das Licht nur noch einen schmalen Kranz um meine Kerze. Dahinter starren bereits die gierigen Augen der Monster auf ihr heldenhaftes aber todgeweihtes Opfer. Jemand sollte ihr sagen, wie sinnlos ihr Widerstand ist.
Ich werde es nicht tun.

 

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob meine Geschichte philosophisch genug ist, um hier richtig gepostet zu sein. Außerdem bin ich mir auch nicht sicher, ob sie genug Handlung hat, um überhaupt als Geschihte im Sinne der Regeln durchzugehen. Na ja, falls nicht, werd ich's wohl bald erfahren und mich lernfähig zeigen.

 

Die Handlungsweite reicht aus, um hier unter diesem Aspekt als Geschichte durchzugehen. Wichtig ist nur, dass überhaupt eine Handlung feststellbar ist; nicht so sehr, welchen Umfang diese für sich einzunehmen weiß.

Ob eine Geschichte als philosophisch inspiriert gelten kann ist zum Teil Sache des Lesers und seiner Interpretationsarbeit. Ich für meinen Teil habe ein ausreichend philosophisch geprägtes Verständnis dieser Geschichte gefunden. Damit bin ich schon zufrieden.

Stilistisch finde ich das Ganze beinahe einwandfrei und angenehm wortgewandt. Du schreibst sicher nicht erst seit gestern solche Texte. Die beschriebenen Bilder kommen bei mir lebhaft und nachvollziehbar an. Besonders schön:

Stunden, in denen die Schatten in das Zimmer geflossen sind wie Teer,

Verständnismäßig gestolpert bin ich vor allem daran, dass du nach und nach offenbar gleich vier Charaktere an der Zahl einführst, beim flüchtigen Lesen der Geschichte es jedoch eher so erscheint, als würde es nur eine einzige Person geben. Ich weiß nicht, ob dir das selbst aufgefallen ist, aber ich mache aus:
  • "Sie"
  • "Ich"
  • die Kerze
  • "Irgendjemand"

Ich meine: das ist für die Länge des Textes und der geringen Handlungsweite zuviel. Wer ist "Sie"? (Beginn zweiter Absatz) Wer ist "Irgendjemand" weiter unten? Jede Figur in einer Geschichte sollte eine bestimmte Funktion erfüllen und möglichst ein wenig näher beschrieben werden. Das fehlt mir hier einfach völlig.

Streng genommen müsste man in diesem Zusammenhang auch noch "die Menschen" bzw. "die Leute" näher erläutern. Es gibt "Menschen", die keine "schwarzen Figuren" auf "Wänden" kennen, weil es bei ihnen erst gar keine Wände gibt (geschweige denn Figuren auf ihnen). Zum Beispiel bei diversen Naturvölkern.

Doch der einzige Weg, der nach draußen führt, führt zuerst durch den Keller.
Diesen Satz habe ich nicht verstanden. Zumindest finde ich ihn zu wenig erklärt.

Wie mickrig ist dagegen die Anstrengung meiner hoffnungsvollen Beschützerin.
Spätestens an dieser Stelle wird mir die Kerze eine ganze Ecke zu weitgehend vermenschlicht. Es fehlt beinahe nur noch, dass diese während der nachfolgenden Zeilen womöglich Beine bekommt und aus der beschriebenen Szene entflieht, weil es ihr inzwischen zu unheimlich und dunkel geworden ist.

Nein: Eine Kerze (wie jeder andere Gegenstand auch) kann nun mal niemals "hoffnungsvoll" sein. Mit solchen Adjektiv-Zuschreibungen wird jeder sinnvolle Beschreibungsrahmen gesprengt. Aber vielleicht meintest du ja auch viel eher "hoffnungsspendend" und hast es nur nicht so geschrieben?

Handlungsmäßig erscheint mir die Geschichte so, als hättest du dich während des Schreibens nicht entscheiden können, wer denn der/die HeldIn dieser sein soll. Mal ist das "Ich" bedroht, das sich fürchtet und zugleich nicht zu philosophieren vergisst; mal geht's der armen Kerze an den angedichteten Kragen und sie spielt das Opfer. Zwischen diesen beiden Polen springst du dauernd hin und her. Das stiftet Verwirrung, weil man immer weniger weiß, worum es nun im Wesentlichen geht, je weiter man liest.


Gut Nacht.

 
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Hallo, Ratte!
Danke für deine Kritik. Ich glaube, ich wäre um 3:39 Uhr nicht mehr in der Lage einen Text zu schreiben, der derart Hand und Fuß hat.

Freut mich, dass du mich wortgewandt findest (mich selbst plagen in dieser Hinsicht große Selbstzweifel), besonders da ich "solche" Texte bisher tatsächlich noch nicht geschrieben habe.

Jede Figur in einer Geschichte sollte eine bestimmte Funktion erfüllen und möglichst ein wenig näher beschrieben werden.
Das ist grundsätzlich sicher richtig, aber kann man das wirklich verallgemeinern? Mir fällt kein konkretes Beispiel ein, aber ich meine, schon öfter Texte gelesen zu haben, in denen Randfiguren nur kurz angerissen oder einfach nur in einem Satz erwähnt werden oder nur der Auslöser der Geschichte sind, mit der Geschichte selbst aber nichts mehr zu tun haben (wie "sie"). Mich hat das nie gestört, aber ich werde noch darüber sinnieren.

Mit der Kerze hast du wohl recht. Ich neige dazu, abstrakte Begriffe wie aktive, lebende Dinge zu beschreiben. Meistens kommen dabei auch ganz gute Metaphern heraus, aber diesmal habe ich offenbar übertrieben. im Nachhinein erscheint mir eine hoffnungsvolle Kerze auch etwas selstsam.

Handlungsmäßig erscheint mir die Geschichte so, als hättest du dich während des Schreibens nicht entscheiden können, wer denn der/die HeldIn dieser sein soll.
Es war so gedacht, dass die Kerze die sterbende Erinnerung an "Sie", die Lebensfreude des Helden symbolisiert, also ein Teil, ein Aspekt des Helden ist und damit kein eigenständiger Charakter. Aber das mag mißlungen sein. Ich warte mal ab, ob das andere Kritiker auch verwirrt.

Doch der einzige Weg, der nach draußen führt, führt zuerst durch den Keller. Diesen Satz habe ich nicht verstanden. Zumindest finde ich ihn zu wenig erklärt.
Nüchtern betrachtet ist das natürlich Unsinn (Das wäre ein äußerst merkwürdiges Haus) Gemeint war damit: Um zu jemandem zu kommen, mit dem er gemeinsam wieder LIcht machen kann, muss er zuerst seinen ausgehende Kerze verlassen und sich durch die Dunkelheit zu einem anderen durchkämpfen, und diesen Weg habe ich als Kellerdurchquerung beschreiben, weil er Keller nunmal der düsterste Teil eines Hauses ist. Aber vielleicht ist auch diese Metapher nicht recht gelungen.

Schlaf gut (Der Onkel Doktor empfiehlt eigentlich 8 Stunden Schlaf pro Tag.) :sleep:

 
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Für den Kritikerkreis geschrieben von Woltochinon (30)

Betrachtungen zu Woodwose,

„Schatten“


Das Haus ist passend für mich konstruiert: Zimmer, Keller, Ausgang. Trotzdem sei er verflucht, der Architekt, der dieses Zimmer voll bedrängender Leere in seinen Gedanken schuf, so dass es „der schreienden Stille“ Platz bietet. Licht als Gestaltungsmöglichkeit - eine versäumte Option, stattdessen sind „Schatten in das Zimmer geflossen“, nur eine Kerze, für die „sie keine Verwendung“ mehr hatte, hinterlässt einen Hoffnungsschimmer. Nur dunkel - der Ausdruck fast zu übermächtig - kann ich mich daran erinnern, an die gemeinsame Zeit, als es noch hell war, mein Leben nicht bestimmt durch das Herannahen der Schatten. Jetzt ist das, was schon früheren Generationen bewusst war, eingetroffen, ist meine Realität geworden. Wer ehrlich zu sich selbst ist, wird sich eingestehen „die Dunkelheit ist die Normalität“, deshalb stellt sich das Licht nicht von selbst ein, genauso wie eine Kugel nicht von selbst ihr stabiles Gleichgewicht verlässt. Doch mich interessieren nicht die verborgenen Hintergründe dieser Tatsache, vielmehr bewegt mich mein persönliches Schicksal, der Kampf gegen die Schatten, ein Kampf, den ich nicht kämpfen kann, zu sehr bin ich in dem Schattenkerker gefangen. Selbst „meine einzige Rettung“ ist mir verwehrt, schon längst habe ich mich selbst überredet, dass dies mehr schaden als nutzen würde: die Konfrontation mit der von mir gefürchteten Schwärze wäre schlimmer, als das wenige Licht, was ich dort finden würde. Weil ich ausweiche, verdränge, bleibt mir die Überwindung meiner Bedrängnis versagt. So betrachte ich, wenn auch immer ängstlicher, die kleine, auf dem Rückzug befindliche Flamme, die meinen Kampf kämpft.
Sinnloser Widerstand, ich könnte eine Wendung herbeiführen, aber - „Ich werde es nicht tun“. Es gibt einen Weg nach außen, den ich betreten könnte - „Ich werde es nicht tun“.
Ich weiß, es gibt eine Welt außerhalb des Hauses, ich könnte sie zum Leuchten bringen - „Ich werde es nicht tun“.
Das Haus ist passend für mich konstruiert: Zimmer, Keller, Ausgang. Trotzdem sei er verflucht, der Architekt, der dieses Zimmer voll bedrängender Leere in seinen Gedanken schuf - ich sollte dieses Haus einreißen, niemand ist so wie ich dazu legitimiert: Ich bin der Architekt, „ich sollte selbst für mich kämpfen“.
„... ... ... ... ...“


Hallo Woodwose,

Dein Text ist bildreich geschrieben, ohne den Eindruck der Übertreibung zu hinterlassen. Er lässt sich sehr gut lesen, jeder Satz scheint ganz selbstverständlich aus dem vorhergehenden zu entstehen.
Die Vermenschlichung der Kerze sehe ich als Kunstgriff: Sie steht stellvertretend für den Lebenswillen des Protagonisten. Durch die Übertragung der Kampfesproblematik auf ein Symbol als Substitut gewinnt er den nötigen Abstand, die empfundene Gefahr zu beobachten. Würde er sie analysieren (also die Frage stellen, welche grundlegenden Gegebenheiten hier wirken), wäre der Text philosophisch. So ordne ich ihn lieber dem Bereich der Psychologie zu. Es geht um die Verarbeitung von Ängsten, um Verdrängen von Tatsachen („Aber ich weiß auch, irgendwo dort draußen kämpft jemand den gleichen Kampf gegen die Schatten“), mit dem Ziel, Eigenverantwortung abzuschieben („Noch kämpft meine kleine Kerze ihren vergeblichen Kampf“ und „Ich sollte selbst für mich kämpfen.“).
Der Kampf wird nicht aufgenommen, die psychische Arbeit wäre zu groß. Ein bekanntes Phänomen aus der Psychotherapie: Lieber wird auf dem unbequemen Ist-Zustand beharrt, als sich auf neue Einsichten, die zur Überwindung von Problemen führen könnten, einzulassen. „Doch der einzige Weg, der nach draußen führt, führt zuerst durch den Keller.“ Der erwähnte ‚Weg durch den Keller’ ist natürlich beschwerlicher, als das (hoffnungslose) Ausharren vor einer verlöschenden Kerze - solange man sich einreden kann, es wäre noch nicht Zeit für ihr Verlöschen.
Hier liegt auch eine kleine inhaltliche Schwäche der Geschichte: Das Schattendunkel wird nicht näher definiert, so lassen sich Bedeutungen (trotz aller Schwärze) ins Blaue hinein konstruieren, die Bindung des Lesers wird nicht gefördert. Trotzdem ist ein runder, lesenswerter Text entstanden.

Tschüß... Woltochinon

 

Ah, Kritikerkreis, welche Ehre. Danke für die Aufmerksamkeit für diese nicht mehr so ganz neue Geschichte.

So ordne ich ihn lieber dem Bereich der Psychologie zu
Soll mir auch recht sein. Die Frage nach den grundlegenden Gegebenheiten, über die der Prot sinniert, sind vielleicht eher ein Ausflug in die Thermodynamik als in die Philosophie.
Das Schattendunkel wird nicht näher definiert
Hm, definiert ist es nicht gerade, stimmt. Dass das einzige, was der Dunkelheit entgegentritt, eine Hinterlassenschaft von "Ihr" ist, sollte erklären, dass die Finsternis die Einsamkeit darstellt. Hielt ich zwar für deutlich genug, aber seine eigenen Hinweise hält man wohl oft für klarer als sie sind.

 

Hallo Woodwose,

deine Geschichte hat keinen "Ausflug in die Thermodynamik" als Fokus, da stellst du jetzt aber dein Licht unter den Scheffel ;)

Die "Sie" kommt so am Rande vor, dass ich sie nicht ins Zentrum der Interpretation stellen wollte.

Take care,

tschüß... Woltochinon

 

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