Schatten
Hier sitze ich und lausche der schreienden Stille. Hier sitze ich und fühle die Leere, die mich bedrängt und mir den Atem nimmt. Hier sitze ich seit Stunden. Stunden, in denen die Schatten in das Zimmer geflossen sind wie Teer, in Schach gehalten nur von der Kerze, die vor mir auf dem Tisch steht.
Sie hat die Kerze zurückgelassen, offenbar hat sie keine Verwendung mehr dafür. Die Kerze ist schon beinahe abgebrannt, und ihre Flamme ist nur noch winzig. Jeder Atemzug lässt sie erzittern, und jedes Zittern lässt die Schatten in grotesken Verrenkungen an den Wänden tanzen. Früher dachten die Menschen, diese schwarzen Figuren, wären Gespenster, Dämonen, die nachts hervorkämen, um sie heimzusuchen. Jetzt, wo ich hier sitze, weiß ich, dass sie recht hatten. Hinter meinem Rücken, unter meinem Tisch, dort wo ich sie nicht sehe, hocken die Monstren und warten auf das Sterben der Kerze, warten darauf, über mich herzufallen. Und Sie kichern hysterisch und siegesgewiss, denn sie wissen, dass sie nichts anderes zu tun haben, als zu warten.
Die meisten Leute denken, die Schatten wären es, die von Zeit zu Zeit in die heile Welt des Lichts einfallen und bald wieder verschwinden, als wären die Schatten das Besondere, die Ausnahme. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Die Dunkelheit ist die Normalität. Die Finsternis ist der Ursprung. Das Licht kann Sie nur kurz verdrängen, sie zu Schatten degradieren, die darauf lauern, ihren angestammten Platz wieder zu erobern, ohne darum kämpfen zu müssen. Denn wenn die Sonne versinkt, brandet die Flut der Dämmerung wieder über die Welt. Wenn die Lampen verglühen, die Feuer verlöschen, ist alles wieder wie zuvor. Das Licht hat ständig zu kämpfen. Die Schatten haben nur zu warten.
Noch kämpft meine kleine Kerze ihren vergeblichen Kampf. Doch schon sind die Monster auf den Rand des Tisches gekrochen. Sie sitzen bereits auf meinen Schultern, und sie wissen, eines Tages wird ihr Sieg endgültig sein. Eines Tages, wenn die letzte Kerze abgebrannt ist, wenn die letzte Sonne verloschen ist, wenn nicht einmal die Erinnerung an Licht mehr glüht, wird nichts mehr sein, als alles umschlingende Finsternis, als alles bedeckender Schatten.
Wie mickrig ist dagegen die Anstrengung meiner hoffnungsvollen Beschützerin. Ich sollte selbst für mich kämpfen. Denn ich weiß, irgendwo habe selbst ich noch Streichhölzer, irgendwo im dunklen Keller. Ich müsste sie nur holen. Aber ich wage es nicht. Ich fürchte mich. Denn der Keller zeigt mir erst recht, wie schwarz die Finsternis sein kann. Der Keller ist ein geifernder Schlund, und ich kann lediglich hoffen, dass er mich wieder ausspeit, wenn ich mich ihm preisgebe. Auch wenn er meine einzige Rettung sein mag.
Aber selbst wenn ich es wagte, was würde es mir nützen? Streichhölzer sind Betrüger. Anfangs blenden Sie mit einer Eruption aus Licht. Aber vom ersten Moment ihres Lebens brennen sie ihrem nahen Ende entgegen und hinterlassen nur schwarze, zerbröckelnde Relikte. Und wer an ihnen festhält und ihr Ende nicht wahr haben will, wird durch Schmerzen zum Loslassen gezwungen.
Aber ich weiß auch, irgendwo dort draußen kämpft jemand den gleichen Kampf gegen die Schatten. Irgendjemand mit einer Laterne, die nicht brennt. Irgendjemand auf der hoffnungslosen Suche nach jemandem, der Streichhölzer besitzt. Doch der einzige Weg, der nach draußen führt, führt zuerst durch den Keller.
Nun bildet das Licht nur noch einen schmalen Kranz um meine Kerze. Dahinter starren bereits die gierigen Augen der Monster auf ihr heldenhaftes aber todgeweihtes Opfer. Jemand sollte ihr sagen, wie sinnlos ihr Widerstand ist.
Ich werde es nicht tun.