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Schattenfleisch
STRENG VERTRAULICH! NUR INTERNER GEBRAUCH!
Ermittlungsakte Dennis Marsden
Abschrift mehrerer Kassetten, die bei dem Toten gefunden wurden.
Tape 1
"Lassen Sie das Licht bitte an, Sally"
"Aber, aber Mr. Marsden. Ich dachte, diese kindische Angst vor der Dunkelheit hätten Sie sich während meines Urlaubes abgewöhnt."
Ich schaute sie durchdringend an.
"Diese Angst hat einen realen Hintergrund, Sally. Die Dunkelheit ist der Grund, warum ich hier bin."
"Mr. Marsden", sagte sie, jetzt ganz strenge Krankenschwester, "Sie sind hier, weil Sie einen fürchterlichen Unfall hatten."
"An den ich mich in keinster Weise erinnern kann!"
"Sie sind aus dem Fenster Ihres Arbeitszimmers in Brisbain Hall gestürzt. Dabei haben Sie sich multiple Frakturen der Wirbelsäule zugezogen. Deshalb sind Sie hier."
"Lassen Sie´s gut sein, Sally. Seien Sie eine liebe Schwester und lassen Sie das Licht an, ja?"
"Weil Sie es sind. Ich schaue später noch einmal nach Ihnen", sagte sie auf dem Weg nach draußen und lächelte mir zu.
An der Tür drehte sie sich noch einmal um und betrachtete mich kurz mit einem nachdenklichen Blick, dann ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Sally war meine Lieblingskrankenschwester. Mit ihrem Häubchen, ihrem gestärkten Schwesternkleid und der Schürze darüber sah sie äußerst diensteifrig und pflichtbewusst aus. Auch ein bisschen streng. Aber die Grübchen in ihren Wangen, wenn sie lächelte, und ihre aufopfernde Pflege, die sie mir zukommen ließ, straften ihr Äußeres Lügen. Das Bitten um das Anlassen des Lichtes war schon so etwas wie ein Ritual zwischen uns. Ebenso wie ihr spätabendliches Vorbeischauen, aus dem sich oft stundenlange Gespräche ergaben. Sally war die Nachtschwester, und da Campden House eine private Einrichtung war, waren die Nächte oft sehr ruhig. Die meisten Patienten waren laut Sally eher hier, weil sie "etwas Ruhe brauchten", nicht, weil sie wirklich krank waren.
Wir sprachen über alle möglichen Themen. Sally war eine eloquente Gesprächspartnerin. Nie abweisend oder überheblich, wusste stets eine kluge Bemerkung zu machen und ein unstillbares Interesse an allem zu haben. Nur ein Thema ließen wir stets aus: der Grund für meinen Aufenthalt hier.
Sie saß stets auf dem hohen Lehnstuhl, den sie dicht an mein Bett gerückt hatte, etwas weiter zum Fußende, damit ich sie im Blick hatte, ohne meinen Kopf verdrehen zu müssen. Eine Lampe über meinem Bett schuf eine Mauer aus Licht, die sich gegen den Tümpel aus Dunkelheit stemmte, welcher den Rest des Zimmers ausfüllte. Ein Zimmer, das nun schon seit 6 Monaten mein Zuhause war. Ich kannte mittlerweile jeden Quadratzentimeter, den ich mit meinen Blicken erreichen konnte. Sicher, es war ein schönes Zimmer, eingerichtet mit jener Art Geschmack, die nur sehr viel Geld schaffen konnte. Fast glaubte ich, der Kandinski sei echt. Wahrscheinlich war er das auch.
In den langen Stunden der Nacht, in denen Sally mir keine Gesellschaft leistete, ließ ich meinen Blick nur innerhalb der Begrenzung umherwandern, welche das Licht schuf. Die Schwärze jenseits davon mied ich mit allen Mitteln. Selbst wenn Sally anwesend war, schaute ich niemals dorthin. Gott, wie hatte ich sie in den zwei Wochen ihres Urlaubes vermisst.
Heute abend würde ich ihr erzählen, was wirklich geschehen war. Das war ich ihr schuldig.
Auch wenn sie mich danach für verrückt hielt. Und ein fürchterliches Geheimnis mit mir teilen würde. Ob es allerdings ein Geheimnis bliebe lag dann ganz bei ihr. Ich hatte nichts mehr zu verlieren, doch ich musste es endlich jemandem mitteilen, ehe mich die Angst tatsächlich in den Wahnsinn trieb.
Wie immer, wenn ich abends wartend in meinem Bett lag, rieben meine Gedanken vorsichtig über die Stelle in meinem Gedächtnis, an der sich die Erinnerung an jenen Abend befand. Wie eine Zunge, die immer wieder über eine wunde Stelle im Mund streicht. Obwohl man weiß, dass es wehtut, erforscht sie doch jede Einzelheit der Verletzung.
Und wie jedes Mal, stieg die Angst wieder in mir hoch. Angst und Trauer waren die beherrschenden Gefühle in meinem Leben geworden. Angst vor dem, was damals geschah. Und Trauer über den Verlust meiner Familie. Denn das Letzte, was ich sah, bevor ich für vier Wochen das Bewusstsein verlor, war, dass Brisbain Hall lichterloh in Flammen stand.
"Mein Gott, Sie weinen ja!"
Sallys Stimme schreckte mich aus meinen abgrundtief düsteren Gedanken.
Ich räusperte mich, meine Kehle war wie zugeschnürt.
"Sally, ich...", begann ich stockend.
"Ich muss Ihnen etwas erklären."
"Sch, sch, Mr. Marsden. Beruhigen Sie sich erst einmal", sagte Sally, während Sie mir die Tränen vorsichtig abtupfte.
"Ich muss es Ihnen erzählen", beharrte ich mit mehr Nachdruck in der Stimme.
"Was denn, Mr. Marsden?"
"Sally, ich habe Sie belogen."
Ihr Gesicht nahm einen verwunderten Ausdruck an.
"Ich weiß sehr wohl, was sich an jenem Abend abgespielt hat", fuhr ich schnell fort, bevor sie mich unterbrechen konnte.
"Ich werde es Ihnen erzählen, wenn Sie es hören wollen."
"Aber Mr. Marsden. Das ist doch eine gute Nachricht. Das müssen Sie unbedingt morgen Dr. Campden erzählen. Es könnte bedeuten, dass sich Ihr Gedächtnis wieder erholt."
"Nein, Sally! Es ist keine gute Nachricht. Ich wusste immer, was damals geschehen ist. Die Erinnerung nistet wie ein Parasit in meinem Gedächtnis und frisst sich immer tiefer hinein. Ich werde niemals vergessen, was damals geschah."
Meine Stimme war während der letzten Worte immer drängender und lauter geworden, so weit es mir der Beatmungsschlauch in meiner Kehle es erlaubte.
"Sally, bitte, Sie müssen mir zuhören", bat ich.
"Aber Sie sind ja ganz aufgeregt. Beruhigen Sie sich doch. Hier, trinken Sie etwas", sagte sie und hielt mir den Strohhalm des Trinkbechers hin.
Ich nahm einen kleinen Schluck, um mich zu beruhigen.
"Ich mache schnell noch einen Rundgang, dann können wir reden", sagte Sally und verschwand.
Sally kam wie versprochen wieder.
"Ich erinnerte mich sofort, als ich hier wieder erwachte. Als man mir sagte, dass meine Familie tot sei, gestorben beim Brand unseres Hauses, da wusste ich es schon. Doch es machte es nicht leichter, es zu akzeptieren."
Ich musste schlucken, meine Kehle zog sich bei der Erinnerung wieder zusammen.
"Was ist denn geschehen?", fragte sie mit Mitleid in der Stimme, und beugte sich zu mir, um meine Hand zu halten. Auch wenn sie wusste, dass ich es nicht spüren konnte, war es eine sehr tröstliche Geste.
"Sally, ich werde Ihnen eine schreckliche Last aufbürden mit dem, was ich Ihnen nun erzählen werde. Eine Last, die mich langsam erdrückt. Wenn Sie Angst haben, eine solche Last tragen zu wollen, kann ich das verstehen."
Sie nickte mir auffordernd zu, weiter zu sprechen.
"Das, was in Brisbain Hall geschah, war meine Schuld. Ich alleine trage die Verantwortung dafür. Ich bin ein Mörder, Sally."
Sally schlug sich vor Erschrecken die Hände vor den Mund.
"Aber Sie hätten doch gar nichts tun können. Sie waren gelähmt durch den Sturz. Sie hätten Ihre Familie gar nicht retten können."
"Sie missverstehen mich", sagte ich schmerzlich lächelnd.
"Das, was meine Familie getötet hat, habe ich vor fünf Jahren ausgelöst."
Ich atmete durch.
"Vor sechs Jahren war ich nur ein mäßig erfolgreicher Schriftsteller, weit von dem Erfolg der letzten Jahre entfernt. Ich verkaufte zwar genügend Bücher, um meine Familie zu ernähren. Doch wirklicher Reichtum stellte sich nicht ein. Wir lebten damals in einer beengten Drei-Zimmer-Wohnung. Dann machte meine Frau überraschend eine größere Erbschaft. Endlich hatten wir die Möglichkeit, uns eine größere Wohnung zu nehmen.
Nach vielen Besichtigungsterminen fanden wir endlich eine Wohnung, in die wir uns auf Anhieb verliebten. Sie befand sich im zweiten Stock eines viktorianischen Herrenhauses, welches umgeben von einem Park, am Rande der Stadt lag. Die Wohnung selbst war groß und mit Dielenböden und Holzvertäfelungen ausgestattet. Ein Traum! Der Makler vermittelte auf unseren Wunsch hin einen Termin mit dem Besitzer, da wir ein bisschen über die Geschichte der Wohnung und des Hauses, in dem sie lag, erfahren wollten. Wie groß war meine Überraschung, als sich der Besitzer, welcher die unteren beiden Etagen bewohnte, als Charles Brisbain entpuppte, der große Romancier. Mit ihm verband mich eine Art gutfeindliche Beziehung. Immer, wenn ich ein neues Buch veröffentlichte, kam auch sein neues Buch heraus und minderte meine Auflagen. Brisbain hatte damals nun mal einen weit größeren Namen als Marsden.
Persönlich waren wir uns nur einmal während einer Schriftstellertagung begegnet, doch hatten wir uns dort wie zwei Katzen umkreist, ohne uns anzufauchen. Zumindest mir fiel dies sehr schwer. Brisbain machte damals eher den Eindruck, mich nicht für voll zu nehmen. Und nun bat mich dieser Mann in seine Wohnung. Angst stieg in mir hoch, dass diese zweite Begegnung zwischen uns mit einem Fiasko enden könnte. Denn warum sollte er ausgerechnet mir die Wohnung verkaufen? Hatte ich ihn nicht mehrfach -öffentlich- als Schreiberling tituliert, der seine Popularität der ersten brillanten Bücher ausnutzte, um nun lieblos heruntergeschriebene "Machwerke" zu verkaufen?
Mir schwante böses.
Es kam jedoch ganz anders. Brisbain zeigte sich erfreut, dass ein Schriftstellerkollege die Wohnung kaufen wolle. Wir plauderten wohl zwei Stunden lang miteinander. Auch als ich ihn auf meine Äußerungen zu seinen Büchern ansprach, zeigte er sich entspannt.
"Es ist", so sagte er, "das Vorrecht des Jüngeren, den Älteren anzugreifen. Die Zeit wird zeigen, was meine und Ihre Werke wirklich taugen. Lassen wir also die Zukunft entscheiden."
Als ich an jenem Nachmittag mich von Brisbain verabschiedete, hatte ich nicht nur den Kauf perfekt gemacht, sondern auch das Gefühl, am Anfang einer großen Zukunft zu stehen."
"Ich muss jetzt wirklich gehen, Mr. Marsden. Wir sprechen morgen Abend weiter."
"Würden Sie die Tagschwester bitten, das Band im Diktiergerät zu wechseln und die Stimmempfindlichkeit zu erhöhen?"
"Natürlich, Mr. Marsden."
Ende Tape 1
Mr. Marsden scheint dieses Band unmittelbar danach besprochen zu haben, da er am übernächsten Tag bereits tot war.
Tape 2
Es scheint sich um eine zufällige Aufnahme zu handeln, da das Band mit etwa 20 Sekunden langen röchelndem Atmen und dem Piepen eines Gerätes beginnt.
"So ist es besser. Danke, Sally."
"Wir zogen ein paar Wochen später ein. Am Anfang sahen und hörten wir nichts von Brisbain. Doch dann begann ich an meinem neuen Buch zu arbeiten. Und damit begann der Psychoterror. Ich schrieb damals auf einer mechanischen Schreibmaschine. Sobald ich anfing zu schreiben, fing Brisbain an, Lärm zu machen, jedoch nicht jedes Mal."
Wieder sind röchelnde Atemzüge zu hören.
"Mal hörte er laute Musik, mal mähte er den Rasen. Einmal ließ er sogar einen Metalleimer die Treppe herunterfallen. Ich wurde immer nervöser. Jedes Mal, wenn ich mich an die Schreibmaschine setzte, erwartete ich eine neue Störung. Ich konnte einfach nicht mehr weiterschreiben."
Die Aufzeichnung enthält an dieser Stelle nur einige Geräusche. Vermutlich bekommt Marsden hier etwas zu trinken.
"Danke, Sally. Eines Tages rief mich mein Agent an. Der Verlag gab mir noch eine Frist von zwei Monaten für die Abgabe meines Buches, ansonsten wäre mein Vertrag hinfällig und müsste den Vorschuss zurück zahlen. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Dieser miese kleine Dreckskerl bedrohte meine Existenz. Ich stürmte nach unten und hämmerte an seine Tür. Als er öffnete, stieß ich ihn in die Wohnung zurück und trieb ihn vor mir her ins Wohnzimmer. Ich schrie ihn an, was er eigentlich wolle. Wollte er mich ruinieren? War das seine Rache für den "Schreiberling" als den ich ihn tituliert hatte?"
Marsden regt sich hier sehr auf. Mehrfach ist das Piepen eines Überwachungsgerätes zu hören, sowie die Krankenschwester, die beruhigend auf ihn einspricht.
"Lassen Sie mich, Sally. Ich muss es Ihnen erzählen! Während ich Brisbain anschrie, wurde sein Gesicht immer röter. Als ich einen Moment Luft holte, polterte er los: ´Was fällt Ihnen ein, Sie zweitklassiger Tastenakrobat. Ihresgleichen schreibe ich jederzeit an die Wand. Wie können Sie es wagen, mir zu unterstellen, ich wolle Sie am Schreiben hindern? Das ist lächerlich!` Die letzten Worte schrie er hinaus. Doch gleich danach begann er zu Röcheln und griff sich an die Brust."
"Mr. Marsden, bitte. Beruhigen Sie sich. Ruhen Sie sich jetzt aus und erzählen morgen weiter."
"Unterbrechen Sie mich nicht immer, verdammt. Ich muss das jetzt zu Ende bringen, sonst werde ich nie wieder den Mut dazu finden."
"Der alte Mann hatte offensichtlich einen Asthmaanfall. Er krallte die Finger in die Brust und taumelte auf eine Kommode an der Wand zu. Darauf stand ein Inhalator. Mit zwei schnellen Schritten war ich an Brisbain vorbei und schnappte mir das Ding. Brisbain starrte mich verzweifelt und wütend zugleich an und stützte sich an der Kommode ab. Sein Atem ging immer schwerer, und sein Gesicht wurde langsam violett. Langsam sackte er an der Kommode herunter zusammen."
Wieder ist auf dem Band eine längere Pause. Marsden ist offensichtlich durch die Erzählung sehr erschöpft.
"Ich hätte ihm nur das Medikament geben müssen, um ihn zu retten. Aber ich wollte das Schwein tot sehen."
Die letzten Worte sind stark gezischt worden und nur schwer zu verstehen.
„Nach ein paar Minuten ging ich zu ihm. Er war tot. Ich rief einen Krankenwagen und schilderte seine Symptome, ohne seinen Tod zu melden. Als der Krankenwagen eintraf, lief ich den Sanitätern entgegen und schrie: `Er atmet nicht mehr! Er atmet nicht mehr!`. Ich blieb in der Wohnung von Brisbain, bis er abtransportiert wurde."
„Aber....warum dieser Hass, Mr. Marsden?"
„Immer musste ich mit meinen Büchern hinter seinen zurückstehen. Immer war ich nur Zweiter. Und nun würde sich das ändern. Und tatsächlich, ich schrieb mein Buch innerhalb von einem Monat fertig. Es wurde der größte Erfolg meiner Laufbahn, jetzt, da Brisbain aus dem weg war. Das ist jetzt 5 Jahre her."
„Ich erinnere mich. Danach habe Sie kein Buch mehr veröffentlicht."
„Ja. Ich konnte nicht mehr schreiben. Es ging einfach nicht. Ich schrieb schon immer bei Kerzenschein, als Inspiration. Doch kurz nach dem Tode des alten Mannes begannen die Schatten in meinem Arbeitszimmer zu tanzen. Immer, wenn ich versuchte zu schreiben, tanzten sie um mich herum. Mit jedem Satz, den ich schrieb, schienen sie wilder zu tanzen und....fester zu werden."
„Mr. Marsden, Sie brauchen einen Psychiater. Und zwar mehr als einen Physiotherapeuten!"
„Nein, Sally. Wenn es so einfach wäre, wäre ich jetzt nicht hier. An jenem Abend vor sechs Monaten versuchte ich wieder zu schreiben. Ich entzündete eine Kerze und setzte mich an meine Schreibmaschine. Als ich die ersten Buchstaben aufs Papier brachte, hörte ich plötzlich ein Geräusch hinter mir. Es klang wie...ein Stück Fleisch, das zu Boden fällt. Ich drehte mich um, doch nichts war zu sehen. Ich schrieb weiter und wieder hörte ich das seltsame Geräusch. Ich drehte mich abermals um, und diesmal glaubte ich, eine schwach sichtbare Gestalt im Schatten zu sehen. Ich stand auf und ging näher heran. Doch aus der Nähe sah ich nichts. Also setzte ich mich wieder an meinen Schreibtisch. Kaum saß ich, legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich erschrak maßlos. Dann sagte eine Stimme: `Jetzt bezahlst Du!` Und diese Stimme war die Stimme von Charles Brisbain."
„Hören Sie auf!"
Die Stimme der Krankenschwester wird an dieser Stelle sehr schrill und laut. Man hört das Geräusch eines Stuhles, der verschoben wird.
„Nein, ich kann jetzt nicht aufhören, Sally. Bevor ich reagieren konnte, packte ich die Gestalt, dieser fleischgewordene Schatten, und warf mich aus dem Fenster. Den Rest kennen Sie."
An dieser Stelle geschieht etwas Seltsames. Die Krankenschwester spricht, jedoch scheint Ihre Stimme gedämpft zu sein, wie durch ein Tuch. Vermutung: das Tonbandgerät ist unter die Bettdecke gerutscht.
„Ich kenne den Rest tatsächlich, Mr. Marsden. Nur den Anfang kannte ich nicht. Sie haben Charles Brisbain ermordet. Meinen Vater. Und Sie haben recht. Sein Schatten ernährte sich tatsächlich von Ihrem Geschreibsel. Wären Sie ein besserer Autor, hätte es keine vier Jahre gedauert, bis er stark genug war, sich zu rächen. Als ich vom Tod meines Vaters hörte, war ich schockiert. Wir hatten nie eine besonders enge Bindung, doch er war immerhin mein Vater. 2 Wochen nach seinem Tod begann ich von ihm zu träumen. Er sprach zu mir, erzählte mir er sei ermordet worden. Er sprach auch über Sie. Über Jahre hinweg, Mr. Marsden. Ich lief zu Psychiatern, doch keiner konnte mir helfen. Und dann stürzten Sie aus dem Fenster und landeten hier, auf meiner Station. Seitdem sind meine Träume noch schlimmer geworden. Mein Vater ist jetzt jede Nacht bei mir und bedrängt mich, Sie zu töten. Doch das kann ich nicht. Bis heute habe ich gehofft, der Tod meines Vaters sei unabwendbar gewesen, schließlich litt er schon seit Jahren an schwerem Asthma. Doch seit heute weiß ich, dass er recht hatte und es nur einen Weg gibt, Frieden zu finden. Für ihn und für mich."
"Sally, bitte..."
"Sehen Sie mal, was ich Ihnen mitgebracht habe. Eine schöne große Kerze. Leben Sie wohl, Mr. Marsden."
Das Anzünden eines Streichholzes ist zu hören.
"Sally, nein, bitte, das dürfen Sie nicht tun, bitte, SALLY."
Die Tür wird geöffnet und geschlossen. Mr. Marsden beginnt zu wimmern. Danach sind einige nicht zu identifizierende Geräusche zu hören. Es klingt, als wurde ein nasser Sack auf den Boden fallen. Danach ist eine Zeit lang eine Art Flüstern zu hören. Vermutung: die Klimaanlage hat sich eingeschaltet.
Als nächstes ist ein Hilfeschrei von Marsden zu hören, welcher in ein Röcheln übergeht, gefolgt vom Piepen des Herzmonitors, welches schließlich in ein Dauerpiepen übergeht.
Mr. Marsden starb am 28.11. um ca. 23.30 und wurde am nächsten Morgen von der Tagschwester gefunden. Als Todesursache wurde Ersticken diagnostiziert, in Folge des Versagens des Beatmungsgerätes. Daraufhin wurde eine polizeiliche Ermittlung eingeleitet, um Manipulation auszuschließen. Dies geschah auf Bitte des Klinikleiters. Im Verlauf dieser Ermittlungen wurden die hier in Abschrift vorliegenden Bänder aufgefunden. Im Zuge der weiteren Ermittlung ist Ms. Sally Brisbain zur Fahndung ausgeschrieben worden. Sie ist seit dem 28.11. verschwunden. In ihrer Wohnung wurden keinerlei Anzeichen für eine überhastete Flucht gefunden. Allerdings wurden bei der Durchsuchung der Wohnung mehr als 300 Kerzenstummeln und ca. 200 Kerzen gefunden.