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Schattengeborene
Der Sonnenschirm wirft einen scharfen Schatten auf den Rasen. Dort steht der Pflegerollstuhl, in dem er tagsüber kauert. Seine Lieblingsstelle am Seerosenteich – wegen der Wasserschildkröte, die er jahrelang mit aufgetauten Shrimps fütterte. Die Frösche, die er mit dem Haus kaufte, hat er der Reihe nach aufgespießt, weil ihn das Geräusch störte. Auf die Nachfragen der Nachbarn hin antwortete er, Frösche habe er hier noch nicht zu Gesicht bekommen. Auch mit dem Maulwurf wartete er, bis die Türen der Nachbarhäuser geschlossen waren, bevor er ihn mir dem Spaten halbierte und ihn unter seinem Hügel begrub, den er mit kräftigen Stiefeltritten einebnete und mit der Harke glättete.
Schon von der Terrasse aus höre ich sein Schnarchen. Er tut kaum noch etwas anderes. Ich weiß, ab und an wird es unterbrochen von Aussetzern. Schlafapnoe, bis zu einer Minute. Dann herrscht die Ruhe, die ihm so heilig war.
Als Kinder mussten wir still sein, jedes für sich in seinem Zimmer. Schon wenn wir von der Schule kamen, sagte Mutter: »Leise, Papa geht's heute nicht ...« Dann wussten wir, so gut der Tag bis dahin gewesen sein mochte, wenn wir nicht aufpassten, würde er mit schattigen Fingern nach uns greifen. Und mit den vielen Tagen, an denen es ihm nicht ging, wuchs die Gewissheit, dass ein guter Tag erst dann gut war, wenn er vorbei war.
Die Fußstützen sind hochgestellt, trotz der Hitze liegt eine Wolldecke über seinen Beinen. Seine schwarzen Pflegepantoffeln sind nach innen gedreht. Darin die gekrümmten Zehen, die gelben Nägel weiß zerfressen. Seit ich das beobachtet habe, kann ich es durch die Schuhe sehen.
Und dann werden die Füße wieder glatt und gesund. 'Geh mal die Flossen holen', sagt er zu mir. Wir sind am Grenzfluss. Familienurlaub. Der mittelalte Mann will tauchen, wieder jung sein, wie in jedem Urlaub. Der feine Staub glüht. Sand gibt es hier nicht, nur am Strand, wo die anderen sind, die Badetouristen, die das Land nicht kennenlernen wollen.
Die Flossen liegen hinten auf der Ablage des Renault, das schwarze Gummi ist weich vor Hitze und stinkt nach Altöl. Auf dem Weg zurück verbrenne ich mir die Füße und versuche, von Grasbüschel zu Grasbüschel zu springen. Er ist im Wasser, die Brille mit Schnorchel auf der Stirn, mit den sehnigen Armen stützt er sich aufs steinige Ufer.
Gerne wäre er jemand Bedeutsames, ein Jacques Cousteau vielleicht. Er würde das Steuerrad der Calypso halten und die Klasse mit zwei Fingern an der roten Mütze grüßen.
Halb fallen mir die Flossen aus der Hand, halb werfe ich sie vor ihn hin. Ich entschuldige mich nicht, setze mich und halte die Füße ins kühle Flusswasser. Sie brennen trotzdem. Er schaut mich länger an, in seinem Blick liegt Überraschung über das, was er in dem meinen sieht.
Auf dem Speicher standen Kartons. Verblichene Rechtecke aus Pappe, die Überreste fremder Leben in sich bargen, Relikte einer gelebten Vergangenheit. Aufgereiht wie die Häuser einer Straße standen sie in einer geraden Zeile und wie den Häuser einer Stadt verliehen wir ihnen passend zum Inhalt Namen.
Der Karton mit Opas Büchern wurde zum Buchladen, der mit den Zinndeckel-Bierkrügen zur Brauerei und der mit dem Klappen-Toaster und dem angelaufenen Besteck zum Haushaltswarengeschäft.
Vaters Tauchsachen lagen in einem besonders langen Karton, der nicht in der Straße stand, sondern am Ende quer dazu, als würde er über die Straße regieren wie ein Patriarch über die gedeckte Tafel. Die beiden Deckellaschen standen eine Handbreit hoch und bildeten so das schräge Dach der Tauchschule. Aus dem Giebel ragte der Dreispitz hervor.
Einer von uns hat die Harpune auf dem Arm, als Vater die Stiege hochkommt, vielleicht bin ich es gewesen. Vor Schreck halten wir die Luft an. Er schaut kurz und dann tut er wie so oft etwas, womit niemand gerechnet hätte. Er schüttet Omas Briefe aus der Post in den Buchladen, wirft den leeren Karton einige Meter entfernt auf den Fußboden, spannt die Harpune und schießt. Mit einem dumpfen Schlag fährt das Eisen in die Pappe, reißt sie mit und nagelt sie an einen Dachbalken.
Vater lacht herzhaft auf, reißt mit einer Pendelbewegung den Pfeil aus dem Holz und tritt den zerfetzten Postkarton in die Ecke. Als er sich umdreht, lächelt er noch und seine Augen glänzen. Mit der Hand umklammert er den Pfeil, seine Knöchel sind weiß.
Da liegt etwas in seinem Blick, das mir fremd ist. Fremd wie die Überraschung an einem fernen Fluss in einem späteren Sommer. Jagdglück. Vielleicht war es auch die Erinnerung an einen vergangenen Triumpf aus der Zeit, bevor es uns gab. An einen bunten Fisch, der im Sonnenlicht zappelt und blutet.
Wir Kinder drücken uns aneinander, lugen uns wechselseitig über die Schultern und lachen nicht. Uns ist nicht zum Lachen zumute, denn wir sehen mit Erschrecken, wie einfach es ist, ein wichtiges Haus wie die Post aus unserer Straße verschwinden zu lassen.
Zwar nahmen wir den Karton, klebten das Loch zu und sortierten die Briefe zurück, doch die Straße war danach nicht mehr dieselbe. Es war wie bei einer Zahnlücke, in die ein Milchzahn wieder hineingedrückt wird. Er hält nicht mehr.
Neben ihm steht der Rollständer mit der aufgehängten Beutelnahrung. Sie hat die Farbe heller Bratensoße. Keiner von uns weiß, wie der Tüteninhalt schmeckt, auch er nicht. Der dünne Schlauch verschwindet zwischen den Knöpfen seiner Jacke. Er, der Genussmensch, darf seit Jahren nichts mehr essen, zu hoch die Gefahr der Aspiration. Jahre ohne Gaumenkitzel, ohne gestillten Durst, die Zunge ein erschlaffter Muskel, der vor Langeweile selbst das Reden verlernt. Ein verächtliches Schnalzen gelingt ihm noch ab und an, wenn die Gedanken auf dem Weg zur Zunge müde werden.
Wenn er tagsüber einschläft, nehmen sie ihm die Zähne heraus, sie könnten in den Hals rutschen. Ohne das Gebiss hängt der Mund an Falten, bildet eine trockengefallene Grotte, an deren Kanten der Atem vorbeikratzt, rhythmisch wie Meeresbrandung an einer Felsenküste.
Weihnachten, sein Auftritt in der Küche. Es gibt entweder Hasenbraten oder Pute, gefüllt mit gezwiebelten und bekräuterten Innereien, bis es dem Tier zum Hals herauskommt. Gelernt ist gelernt. Kinderlandverschickung. Ihn verschlug es auf den Bauernhof entfernter Verwandter. Weißenborn, nach dem Krieg auf Spuckweite zu den Sowjets, dann Anfang der Neunziger plötzlich Mitte der Republik. Im Krieg ein Hof neu mit Strom, doch ohne Toilette, dafür mit Viechern und einer Tante, die beim Melken von der Kuh zerdrückt wurde.
Mit dem Arm geht er hinten ins Tier und stopft, grimmig, wie er es bei den Bauersleuten abgeschaut hat. Ein anderes Weihnachten hängt er einen ganzen Schinken über den Esstisch und schneidet mit einem großen Messer Stücke aus dem Schweinebein. Seine Vaterpflicht schmeckt nach rotem Fleisch. Er will uns zeigen, sagt er, wie die Eskimos das tun, beißt hinein und schneidet knapp vor den Lippen. Dann tropfte Blut, die Zunge war zu flink. Wortlos geht er hinaus, hält sich den Mund zu.
Auf dem Adventskranz flackern vier Kerzen. Rot, wie ewige Lichter. Es riecht nach Nelken, die in Orangen stecken, nach Spritzgebäck und kaltem Tier.
'Er meint das nicht so', heute wie damals gemurmelte Familientradition, solange er es nicht hört. Meine Mutter, die mir Tränen wegwischt. Mutter, die nicht mehr ist. Meine Wange pocht, ich habe mir den Abdruck im Spiegel der Toilette angeschaut. Tatsächlich kann man trotz der Schwellung der rechten Wange die einzelnen Finger sehen. Linkshänder. Wo er den Ring trägt, pocht der Kiefer. Nur wenige Male werde ich so direkt erlöst, meist geht es nicht so schnell. Oft schweigt er tagelang, schaut an mir vorbei und wenn er redet, erzählt er von der Schule, von den patenten Schülern, mit denen er Theater spielen kann.
Schlaff hängt die Linke neben seinem Armpolster. Die Lehrerhand, die zur Mundorgel kräftig über den Gitarrenhals rutschte, kann keinen Stift mehr halten. Auf dem gebräunten Handrücken ist eine wunde Stelle. Alter Lack reißt leicht. Wächsernes Pergament auch. Verbrauchte Haut eines Sonnenanbeters, der seine Schutzschicht verloren hat.
'Die hat sich aus dem Staub gemacht', sagt er und ich versuche so sehr, mir einzureden, dass er das so nicht meint. Doch ich kann mir nicht glauben. Bei seinen Papieren im Keller habe ich eine alte Notiz gefunden. Auf dem Blatt steht: 'Aufgeben ist wie verlieren, nur schlimmer.' Da war der Parkinson in den Anfängen, heute hat die Krankheit ihn fest im Griff. Er hält dagegen und obwohl er nicht gewinnen kann, kaut er sich wortkarg durch sein ledriges Leben, kein Mensch weiß, wofür noch.
Dass Mutters Knochen sich auflösten und keine Antikörper, keine Chemo und auch keine Bestrahlung das zu ändern vermochten, ignoriert er, als hätte sie den Krebs bestellt.
Oben auf dem Kamin steht ihr Kalender. Februar. Krokusse, die sich durch den Schnee drücken. Darunter steht in geschwungener Schrift 'Dem Leben seinen Lauf lassen'. Niemand hat weitergeblättert. Wozu auch? Seitlich angelehnt das Foto der Traueranzeige. Ihr Lachen, ihre weißen Haare, die cremefarbene Bluse leuchten.
Der Bart des jungen Mannes ist schwarz. Wenn er knurrt, sieht man die große Zahnlücke. Er hat sich Buntstifte in Nase und Ohren gesteckt, zieht die Augen groß. Wir Kinder schreien auf, versuchen zu entkommen. Mutters Lachen fegt uns den Weg frei, für einen seltenen Moment gelingt das. Es klingt wie Musik, wenn wir zusammen lachen. Unbeschwert. Mehrstimmiger Gesang aus glücklichen Kehlen, der sich vom Boden erhebt, im Raum schwebt für eine kleine Ewigkeit. Wir bewundern ihn wie Seifenblasen, die einander rosaschlierig umkreisen, bevor sie zerplatzen und die trockene Stille langsam zurückschleicht in die Hälse.
Das Buntstiftmonster zeigte sich nur wenige Male, vielleicht weil wir recht bald die Buntstifte gegen Füller tauschten. Wahrscheinlicher jedoch besaß Mutters Lachen auf Dauer nicht die Kraft, den über die Dielen züngelnden Schatten Einhalt zu gebieten. Zum Kämpfen fehlte ihr unter anderem der eiserne Wille, ihr Lachen half nicht und war doch alles, was sie hatte. Was gäbe ich darum, es noch einmal zu hören.
Das Leben läuft weiter, doch es läuft unrund. Seit sie gegangen ist, hat mein Elternhaus Schlagseite. Ihre Asche liegt im Morgenschatten einer alten Eiche. Wir sind sicher, es gefällt ihr dort unter dem Blätterdach, wie auch uns, den Schattengeborenen, die den Platz für sie ausgesucht haben.
Die Nahrung ist durchgelaufen, die Pflegerin wechselt zu Tee. Durch das Geraschel wird er wach. Als er mich sieht, schließt er die Augen und schnalzt einmal. Das verächtliche Schnalzen, das immer noch mit Schattenfingern nach mir greift.
Ich nicke der Pflegerin zu, wende mich ab und gehe über die Terrasse und durch den Flur hinaus. Draußen auf dem Weg bleibe ich stehen und hole tief Luft. Ich öffne den Briefkasten, schmeiße die Werbung in den Korb mit Altpapier, der hinter der Tür steht. Die Umschläge mit seinen Rechnungen nehme ich mit, sie liegen schwer in meiner Hand. Morgen.
Ich ziehe die Tür ins Schloss und merke beim leisen Klicken, wie sich das Haus mit einem kaum spürbaren Ruck weiter zur Seite neigt. Mit jedem Besuch ein weiteres Grad.