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- Anmerkungen zum Text
Es gibt eine Vorgeschichte zur Schattenhedda, die aber zum Verständnis dieser Geschichte hier nicht gelesen werden muss (bzw. war das zumindest meine Intention). Ruben und Inga hatten früher bereits einen Auftritt in dieser Geschichte.
Schattenhedda
Weranders
Ich sehe ihn vor mir, wie er zuschlägt. Nicht aus Gründen, mehr aus Launen. Sehe ihn vor mir in seiner Schmiede, unser Kind auf dem Amboss. Wie er versucht, es zu formen, nach seinem Geschmack. Ihr die Lippen versiegelt. Damit sie ruhig ist. Sie nicht aussieht wie ich.
Mit deinem offenen Maul.
Wie ein Fisch an Land.
Halt deine Fressluke zu!
Ich sehe ihn vor mir, wie er zuschlägt, auf den Kopf, auf die Krone, wo das Fleisch noch so fein ist.
Siehst du, was du tust?
Was du aus mir machst, Weib?
Scher dich weg, hat er gesagt. Und komm nicht wieder. Du Riesin. Weißt du, was sie sagen? In der Kneipe? Im Laden? Der Schmied und die Bärin. Der Kleine. Und seine Große. Ich ertrag’s nicht, ich bin wer, ich erzähl, dass du tot ist, gestürzt von den Stufen, und keiner wird fragen!
Und du kannst froh sein.
Denn wenn ich wollte.
Könnte ich mehr.
Als erzählen.
Aber das Mädchen, sage ich leise,
gehört mir!, brüllt er los, dem armen Witwer!, und er gafert.
Und du kannst froh sein.
Denn in der Schmiede.
Steht ein Ofen.
Punkt Punkt Punkt.
Und jetzt stehe ich auf dem Mollehügel und blicke ein letztes Mal ins Dorf hinab. Bevor ich mir das Tuch überwerfe und zum Schatten werde.
Irgendwer zieht von Gasthaus zu Gasthaus. Sitzt geduldig in Ecken. Hat keinen Namen, wenn einer fragt.
Aber irgendwie musst du ja heißen,
nenn mich, wie du willst.
Irgendwer gibt seinen Körper für Münzen, klammert sich fest, als hätte er Spaß, verschließt die Beine über dem Gesäß, vergräbt die Nägel im Rücken. Während ich mich durch haarige Ohren winde wie ein Wurm. Ich erkunde Männer von innen und finde immer dasselbe.
Und ich warte, bis er schläft, liege wach, bis er schnarcht und noch ein klein bisschen länger. Ich weiß, welche Bodendiele knarrt und weiß auch, wie sie es nicht tut und dann wühle ich mich durch Schränke, bis es klimpert, ich nehme alles, was ich kriege, bevor ich wieder eins werde mit der Nacht.
Der Körper altert, verliert an Spannkraft. Bringt immer seltener Münzen. Doch jetzt, im Winter, sind zumindest die Seen im Hinterland bereit, ihn ein Stück weit zu tragen. Etwas zu nehmen von meiner Last. Doch auch sie höre ich murren. Auch ihre Geduld ist begrenzt.
Das Schilf ist gefroren, dichtes, weiße Strähnen fallen auf schwarzkaltes Eis. Als lägen abgetrennte Frauenköpfe am Ufer begraben. Und dort sitze ich, auf dem umgestürzten Baumstamm, und spanne Kufen unter meine Schuhe, Kufen, geschmiedet von irgendwem irgendwo. Der Gedanke stößt mich ab, gibt mir Schwung, gibt mir Kraft, und ich kratze wie benommen träge Laute in die Nacht.
Schrapp-schrapp, schrapp-schrapp.
Und der Wald wirf sie leise zurück.
Wannanders
Im Frühling tanzt die Birke vor dem Fenster. Aufgeregt, weil etwas passiert. Die schuppigen Würmchen an den Zweigen pendeln im Wind hin und her, klopfen gegen die Scheibe, als wollten sie sagen: Komm raus zum Spielen, wie früher.
Aber ich bin zu alt. Deshalb gehe ich auch nur noch zum Laden, nirgendwo sonst hin. Wasser holen am Brunnen noch, aber sonst bin ich hier, in meiner Hütte, sitze auf dem Stuhl neben dem Fenster oder liege im Bett. Stehe am Herd, wenn ich muss. Schaue nach draußen und warte und weiß doch nicht, worauf.
Ich kenne die Schatten in der Hütte. Ich weiß, wie die Sonne sich bewegt, wie sie wandert. Ich weiß, dass der Henkel meiner Tasse jeden Morgen einen Bogen auf den Tisch malt, das weiß ich, weil ich dann die Fingerspitze in den Bogen lege, bis er enger wird, bis die Schlinge sich zuzieht, und erst im letzten Augenblick ziehe ich den Finger wieder raus. Ich weiß so vieles und nichts davon hilft.
Morgens schlage ich die Augen auf. Dass ich alt bin, spüre ich immer dann: wenn ich dort liege und die Hüfte durch das Stroh auf den Boden sackt.
Neben dem Bett steht der Stuhl. Ich ziehe mich hoch, an der Lehne, und wenn ich stehe, muss ich mich wieder setzen. Und da sitze ich dann, auf dem Stuhl, während die Sonne weiter wandert. Während meine Hüfte schmerzt und meine Beine.
Ich könnte aufstehen und vor die Tür gehen und die ersten Blätter von der Birke pflücken. Ich könnte mich an den Herd stellen und die Blätter aufkochen, ich weiß, das würde helfen gegen die Schmerzen, gegen die Entzündung, ich könnte so vieles, wenn ich könnte.
Am Stamm der Birke sitzt ein Porling. Ein dicker, weißbrauner Pilz. Wie ein Mund. Zwei aufeinandergepresste Lippen. Ein unausgesprochenes Geheimnis. Ich weiß, dass der Porling den Stamm faulen lässt, er macht das Holz von innen heraus brüchig, ich könnte rausgehen mit meinem Messer und ihn abschneiden, man kann den Porling auch essen, aber das Holz würde weiter verfaulen.
Neben dem Porling sitzt ein Falter. Ein Spanner. Er hat dieselbe Farbe wie die Rinde. Schwarzweiß gefleckt. Und ich frage mich, ob er zuerst weiß war und die Flecken erst später kamen, mit dem Leben und den Gedanken, und so sitze ich hier auf meinem Stuhl in meiner Hütte. Schaue aus dem Fenster und denke nach. Über Pilze und Falter. Und das Kind. Das blonde Mädchen, das seit neuestem um meine Hütte schleicht.
Eine Narbe zieht sich quer durch ihr Gesicht. Quer durch das Auge. Sie spielt. Ausgelassen. Fast entrückt. Setzt einen Fuß vor den anderen und geht auf einer geraden, unsichtbaren Linie und ich denke mir: Jetzt hangelt sie über einen Abgrund. Sie dreht sich mit ausgestreckten Armen im Kreis und dabei hüpft sie und ich weiß: Jetzt kann sie fliegen. Und später liegt sie im Gras auf dem Rücken, schaut hinauf in die Wolken, sieht Hyänen und Mammuts. Mystische Wesen, Greifen und Drachen, ich weiß nicht, doch ich ahne, dass sie fort will, etwas plagt sie, wen nicht.
Dann da ist noch was. Sie ist schreckhaft. Wie ein Kaninchen. Eben noch Kind, nur Spiel, ganz Traum, reißt sie dem Kopf herum, wirft ihn zur Seite, die geflochtenen Zöpfe wirbeln wild über die Schulter. Sie steht da wie erstarrt. So lange, dass es mich wundert, dass ich mich frage, was sie sieht, wo sie ist, doch da schüttelt sie den Schreck schon wieder ab, mit einem Lächeln. Rollt mit den Augen. Sagt sich selbst: Du Dummi, wovor hast du Angst. Und ich wüsste einiges, würde sie fragen. Es gibt Winkel in meinem Kopf, da halte ich mich fern.
Im Sommer ist das Laub der Birke sattgrün. Reflektiert das Licht und wirft gelbe Punkte an die Wände der Hütte.
Das Fenster steht offen, lässt Luft herein und Geräusche.
Ich höre die Blätter rascheln, aber nicht nicht alle Zweige stimmen ein. Manche sind kahl, die Blätter abgenagt von glänzenden Käfern. Wieder andere rascheln ganz besonders. Aufgeregt, weil etwas passiert.
Das Mädchen schlägt Räder. Ich weiß es, ohne hinzusehen: Es ist Abend, die Sonne steht tief und die Schatten ihrer Beine werfen kreisende Mühlräder an meine Wände, schneiden durch gestapelte Töpfe und Teller. Ich sitze da, angespannt. Lächerlich, ich warte auf das Klirren und das Poltern und am liebsten würde ich schreien, auch um sie zu verjagen, das Mädchen, Inga.
Ihr Name ist Inga. So hat er sie gerufen, der Mann. Vielleicht ihr Vater. Ich habe ihn nur gehört, nicht gesehen. Obwohl ich mich ein wenig vorgebeugt habe auf meinem Stuhl. Das einzige, was ich gesehen habe, war Inga. Die sich versteckt hat. Im Gestrüpp vor meiner Hütte. Denn wie ich die Birke kenne, kenne ich auch das Gestrüpp, das wuchernde Unkraut, und ich habe sie nicht wirklich gesehen, nur das Loch zwischen den Halmen: Das empörte Kopfschütteln des Unkrauts, empört über das Kind, das da zwischen ihm liegt und Schutz sucht. Das Gestrüpp würde Inga verraten, so viel ist klar. Würde dem Vater zurufen, wenn es könnte. Und ich könnte. Könnte rufen: Hier ist dein Blag, nimm sie mit! Und überhaupt, warum treibt sie sich hier herum, was will sie hier, sie soll mich in Ruhe lassen, ich brauche Ruhe! Stattdessen lehne ich mich leise zurück in den Stuhl. Sehe dabei zu, wie die Schatten in der Hütte wachsen, lausche dem Gesang der Amsel. Bis ich weiß, dass er fort ist. Bis mein altes Herz sich beruhigt. Bis nur noch Schatten ist in der Hütte und das Kaninchen aus seinem Bau schlüpft.
Vier und vier. Finger wie Schattenraupen auf meinem Fensterbrett. Ich sitze direkt daneben. Könnte sie berühren, die Raupen zerquetschen. Ich sitze an der Wand und bete, dass ihre Finger mich nicht sehen.
»Bist du eine Hexe?«, flüstert es da in den Raum hinein.
Ihr Kinn zwischen den Fingern. Die kleine Nase in der Hütte.
Und ich sage nichts. Zwei aufeinandergepresste Lippen. Schaue bloß. Zwei trübe Augen.
»Ruben sagt, dass du eine Hexe bist.«
Ich höre sie atmen. Sie raubt mir die Luft, als wäre es ihre.
»Ich mag meinen Bruder nicht.«
Wenn die Zunge zu lange im Mund liegt, wird sie dick, schwillt an. Wenn die Lippen zu lange aufeinandergepresst werden, kleben sie aneinander. Ziehen Fäden, wenn der Mund sich dann öffnet, rosa Haut, die spannt und einreißt, und die Worte kommen an Land wie Kaulquappen, gehören nicht hier her.
»Dann muss ich Ruben zu Suppe machen.«
»Hihi!«, machen die kleinen Raupen da und fallen eine nach der anderen vom Fensterbrett, vier und vier und zwei wippende Zöpfe, die im Dunkeln verschwinden.
Draußen zirpen die Grillen. Bis sich der Atem beruhigt. Bis ich das Fenster verschließe.
Ich sitze das Leben aus. Sitze meinem Tod entgegen. Ich sitze im Dunkeln und im Hellen, im Dunkeln leuchtet die Birke der Rinde im Mondschein, im Hellen strahlt die goldgelbe Krone.
Nachts bin ich alleine. Am Tag kommt das Mädchen. Es ist Herbst, am Fuß der Birke wächst ein Fliegenpilz. Im löchrigen Blattwerk hat eine Spinne ihr Netz gespannt. Der Nebel schnürt Wasserperlen auf seidene Fäden. Eine Fliege verfängt sich im Netz. Das Netz sirrt, die Spinne rennt auf acht Beinen, die Tropfen fallen auf den gepunkteten Schirm. All das sieht Inga und ich sehe sie.
Meine Zunge liegt wieder im Mund begraben. Geschwollen und dick. Doch die Lippen sind rissig, formen jede Nacht Worte. Meine Hände greifen ins Dunkel. Packen zu.
Ich sehe Inga in den Schatten meiner Hütte, ich sehe ihren Vater auf acht Beinen. Ihren Bruder. Ich sehe all die Männer und die Narben, die sie reißen, wenn es ihnen danach ist und ich denke: Was glaubt ihr, wer ihr seid. Und: Was bildet ihr euch ein. Und: Wenn ich nicht so alt wäre!, und passt besser auf!, noch habe ich Kraft!, und ich stehe auf, Frau wie ein Baum, schnüre die Schuhe, nehme das Messer. Ich gehe zur Tür hinaus und schmecke Kälte, höre die Nacht, höre mich lachen, und da presse ich die Lippen aufeinander, mit Gewalt. Beiße mir die Wangen wund, bis ich blute. Bis ich Eisen schmecke. Gehe zurück in meinen Bau.
Weiß auf weiß haftet der Schnee an der Rinde. Und trotzdem, beim ersten Licht des Tages ist die Birke fast blau.
Jeder im Dorf kennt die alte Birke neben Heddas Hütte. Und Ruben weiß Bescheid. Ruben weiß, dass Birken alt werden können. Dreihundertunddreiunddreißig Jahre und älter. Das weiß er von seinem Großvater, dem Schmied.
Nur dass die Hedda mal ein Kind war, weiß er nicht. Das weiß nur Inga. Und jeder auf der Welt weiß, dass selbst ein Kind mal verfault. Wie die Birke, wenn der Porling das Holz bricht. Und wenn die schuppigen Würmchen im Frühling dann noch ein letztes Mal hin und her pendeln und gegen die Scheibe klopfen, als wollten sie sagen: Komm raus zum Spielen, wird keiner mehr antworten. Denn jetzt pendelt auch die Hedda im Wind, die Hedda mit dem Strick um den Hals,
mit offenen Augen,
mit Augen
so weiß.

Ich habe den Teil jetzt ein bisschen umgestellt, sodass die Frage erst gar nicht aufkommt ... Fühlt sich noch ein bisschen ungewohnt an so, aber wird schon passen, denke ich.