Schattenland
Während die Sonne widerstrebend letzte Strahlen hinabschickt, um die schmutzige Straße in ein infiziertes Licht zu tauchen, wird dem Elfen bewusst, dass er alt ist. Er ist nicht alt an Jahren, nach den Maßstäben eines Elfen ist er noch ein halbes Kind. Doch nur Narren zählen die Monde, um das Alter einer Person zu bestimmen. Andere Dinge graben Furchen in junge Gesichter, zehren junge Körper aus, krümmen junge Rücken. Während er übel riechenden Pfützen ausweicht und in eine Seitengasse abbiegt, deren Häuser sich wie müde Wanderer gegeneinander lehnen, wird ihm noch etwas klar.
Er ist ein Relikt.
Vor ein paar Jahren hätte seine Uniform noch Ehrfurcht ausgelöst, respektvolles Schweigen. Nun treffen ihn Blicke des Misstrauens, die auf seinen Bogen, sein schartiges Schwert, seinen vielfach geflickten Umhang gerichtet sind. Er ist nicht wütend deswegen. Er ist ein Relikt des Krieges, seine Waffen waren ein Teil des Krieges. Die Leute wollen den Krieg vergessen. Sie wollen diejenigen vergessen, die sich den Dunklen entgegengestellt haben. Sie wollen ihn vergessen. Der Elf weiß, dass er seine Uniform ablegen sollte, doch er kann es nicht. Die Farben des Krieges sind wie ein Panzer, Schutz gegen die Leere.
Was war vor dem Krieg gewesen, vor dem Kampf gegen die Dunklen? Der Elf bleibt vor einer Tür stehen und versucht sich zu erinnern. Stimmen und Bilder tauchen auf, doch seine Erinnerung ist ein Schattenland, vage und unwirklich. Nur ein Bild nimmt deutlich Gestalt an, füllt sich mit Leben. Ein Sommertag, eine staubige Landstraße, Gestalten, die ein Lied singen. Drei Gestalten sind es, ein Elf, ein Halbling, ein Zwerg, alle drei von ganz verschiedener Statur, doch geeint durch die Melodie. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, er beginnt, die ersten Noten des Liedes zu summen, während er die Tür anstarrt, als sei sie der Zugang zu dieser längst vergangenen Zeit. Als er schließlich seine Hand hebt, um anzuklopfen, tauchen die Worte wieder auf.
Die Jugend aller Völker
Steht in dieser großen Zeit
Unter einem Banner im Kriege geeint,
Strahlend mit dem Schwert bereit.
Kämpft, damit die Sonne wieder scheint!
Ein weiteres Bild erscheint.
Augen, starr gen Himmel gerichtet, den fahlen Mond widerspiegelnd.
Die Tür öffnet sich.
Der Halbling bemerkt, dass seine Mutter müde aussieht. Sie kommt in sein Zimmer, tritt an sein Bett, sagt etwas von Besuch, von einem Elfen, doch er achtet nur auf ihre Augen. Sie wirken erloschen und er weiß, dass die Worte sie trübe gemacht haben. Die Worte der Männer, die ihn untersucht haben, Beschwörungsformeln gemurmelt und ihm übelriechende Tränke eingeflößt haben. Die Männer, die sagten, dass sein Geist sich nicht reparieren lasse. Der Halbling weiß nicht genau, was sie meinten, doch er weiß, dass es eine Zeit gab, in der sein Kopf anders war, klarer. Jetzt ist sein Geist ein Strudel, der alles mitreißt. Wenn aus dem Strudel ein Bild auftaucht, ist er glücklich, denn an Bildern kann er sich festhalten, manchmal tauchen auch Töne auf, Melodien, ein Lied. Er versucht, eine Melodie aus dem Strudel zu reißen, als der Elf eintritt. Der Halbling hat Angst vor Fremden, aber als er den Elfen sieht, verspürt er nicht einmal Unruhe, er sucht einfach weiter, taucht hinab in den Strudel, sucht die Melodie. Er summt, dann richtet er sich auf, seine rissigen Lippen formen Worte, seine Zunge stößt sie heiser heraus.
Die Feinde aller Völker,
Müsst ihr vernichten, in dieser Zeit.
Sagt der Familie, damit sie nicht weint,
Ihr seid zum Sterben gerne bereit,
Kämpft damit die Sonne wieder scheint.
Er ist erschöpft, als er in seine Kissen zurücksinkt, aber ihm ist, als sei der Strudel ruhiger geworden und er schaut den Besucher an. Der Elf lächelt, das freut den Halbling und ein Bild kommt aus dem Strudel, machtvoll und unaufhaltsam. Drei Gestalten, eine Straße, eine Melodie, ein Lied. Und er weiß, dass er eine der Gestalten war und er weiß, dass sie das Lied auch später sangen, als sie die Straße schon längst verlassen hatten, als sie Uniformen trugen, als die Dunklen kamen. Er lächelt den Elfen an, denn er weiß, dass sie gemeinsam gekämpft und gesungen haben. Dann erlischt sein Lächeln. Plötzlich weiß er, wann sie aufhörten, das Lied zu singen. Ein Schmerz durchzuckt seinen Kopf, als ihm der Anblick einfällt, der sie verstummen ließ und ihm erscheint das Lied nicht mehr fröhlich, nur noch grausam und kalt wie der Tod.
Er sieht die Augen wieder vor sich, kalt und starr, den Mond als kleine Leuchtkugeln reflektierend.
Er möchte schreien, als gnädig der Strudel zurückkehrt, die Bilder wieder aufnimmt. Der Halbling schließt die Augen, während der Elf aus dem Zimmer tritt und kurz bevor die Dunkelheit über ihm zusammenschlägt, taucht ein letztes Bild in dem inneren Strudel auf, ein Gesicht, ein bärtiges Gesicht, ein Zwerg, dann ist es dunkel.
Der Zwerg mustert seinen Gegner mit zusammengekniffenen Augen, erfasst jede Bewegung, jede kleinste Regung im Gesicht des muskulösen Menschen. Er versucht, das Publikum zu ignorieren, die gierigen Augen, die Blut sehen wollen, die aufgerissenen Münder, die Wetten abschließen. Er ist sich bewusst, dass die Quoten gegen ihn stehen, sie wollen ihn fallen sehen, unterschätzen ihn wegen seiner Größe. Der Zwerg aber weiß, dass Größe keine Bedeutung hat, wenn man weiß, wie man sich zu bewegen, wie man seine Äxte einzusetzen hat. Der Zwerg hat all diese Dinge gelernt. Er musste sie lernen, nachdem er mit seinen Jugendfreunden die Straße entlanggegangen war, die staubige Sommerstraße, die sie in den Ruhm führen sollte.
Mit einer fahrigen Bewegung fährt sich der Zwerg über das Gesicht und umfasst wieder mit beiden Händen die Axt, umklammert sie wie einen Anker in dem Sturm aus johlenden Stimmen. Regungslos erwartet er den Angriff seines Gegners, sein von Narben übersäter Körper strafft sich, als er aus den Augenwinkeln ein Gesicht wahrnimmt, das sich von der Menge abhebt, ein Gesicht, das von blonden Haaren gesäumt ist, das Gesicht eines Elfen. Er kennt das Gesicht, er kennt den Elfen, würde das Gesicht unter Tausenden herausfinden. Ihre Lebenswege sind verbunden, eine Verbindung aus Blut, Tod und Krieg. Sie besteht seit dem Tag auf der Straße, als ihre Stimmen sich zu dem Lied verbanden. Sie fühlten sich unverwundbar, wenn sie dieses Lied sangen. Er muss ein wenig lächeln, als er sich daran erinnert, wie sorglos sie davon gesungen hatten, zum Sterben bereit zu sein.
Er blickt zur Seite, sieht in das Gesicht des Elfen. Er registriert, wie alt sein Freund aussieht, doch heute liest er noch etwas anderes in den Augen des Elfen. Der Elf ist enttäuscht, enttäuscht, dass der Zwerg sein Leben aufs Spiel setzt für die gierigen Augen, die aufgerissenen Münder. Wut explodiert in dem Zwerg wie kaltes Feuer, als er die Enttäuschung des Elfen sieht. Das Leben ist nicht zu wertvoll, um es zu verspielen. Sein Glaube an das Leben hat sich aufgelöst, als seine Axt sich das erste Mal in den Körper eines Dunklen bohrte, als die Kameraden um ihn herum starben und es ihnen egal war, ob ihr Tod die Sonne scheinen lassen würde.
Endgültig aber hatte er seinen Glauben in der Nacht aufgegeben, als das Lied verstummt war. Als er mit dem Halbling und dem Elfen über das Schlachtfeld gegangen war. Als sie die Dunklen genauer betrachteten, die unter ihren Schwertern, Äxten und Pfeilen gestorben waren. Als der Halbling einem Dunklen die Maske abnahm und sie das Gesicht sahen, das sich darunter verbarg. Das Gesicht eines Kindes, Wangen, auf denen noch kein Bart wuchs, nie ein Bart wachsen würde. Und die Augen. Die starren Augen, in denen sich der Mond gespiegelt hatte, kaltes infiziertes Mondlicht, wie zwei Perlen. Sie hatten das Lied nie wieder gesungen.
Er hat das Bedürfnis, dem Elfen entgegenzubrüllen, was er von der Enttäuschung hält, ihm zu sagen, was ihm das Leben wert ist. Doch die Glocke ertönt, der Kampf beginnt, mit einer geschmeidigen Bewegung weicht der Zwerg dem ersten Ansturm des Gegners aus.
Der Elf tritt auf die Straße und saugt gierig die kühle Nachtluft ein. Gedämpft dringen die Stimmen des Publikums aus dem Gebäude hinter ihm an seine Ohren. Er lässt seinen Blick in die Dunkelheit schweifen, es ist nicht nur Müdigkeit in ihm, in seinen Augen ist eine tiefe Traurigkeit, die entsteht, wenn ein Wesen zwischen zwei Zeiten steht, unfähig, die Vergangenheit zu verlassen oder die Zukunft zu betreten. Der Zwerg und der Halbling haben sich versteckt, zurückgezogen in ihr eigenes Schattenland, doch für ihn kann es kein Verstecken geben, denn sein Blick geht tiefer, entblättert die Zeit ihrer Lieder und Lügen, ihrer Motive und Beweggründe, beraubt sie ihrer Fassaden, durchbohrt ihre emsige Betriebsamkeit und sieht die Leere, die ihnen zugrunde liegt. Er kann sich dem Leben nicht mehr anschließen. Er ist verloren.
Er geht die Straße entlang, umgeht eine Pfütze, in der sich das Mondlicht fahl widerspiegelt. Leise summt er eine Melodie vor sich hin, eine Sommermelodie, eine Glaubensmelodie. Dann verstummt er.