Schattenspiel
Es war wie damals. Eine junge Frau kauerte vor dem Kamin und arbeitete bis spät in die Nacht. Ihre dunkelbraunen Haare verrieten Jugend und ihr Körper hatte gerade erst die Veränderung zur Frau hinter sich. Ihre geschickten Hände verarbeiteten Wolle an einem Webstuhl. Im Hintergrund schnitzte ein alter Mann, dessen Haare und Bart im Laufe der Jahre schneeweiß geworden waren.
Die Flammen knisterten. Ein Funke sprang von einem Holzscheit und flog der jungen Frau auf die Hand. Diese blickte kurz auf und schüttelte ihn weg. Ihre Augen starrten in die Flammen, während ihr Geist auf Reisen ging:
Überall um sie herum war Feuer. Blankes loderndes Feuer. Pfeile flogen durch die Luft. Schreie zerrissen die Stille der Nacht. Fremde Gesänge und das Krachen von Schwertern und Äxten verrieten einen Angriff auf das Dorf. Eine Frau rief in der Ferne ihren Namen. Ebenso ein kleiner Junge, der etwa vier Jahre alt sein mußte. Die Stimme veränderte sich. Wurde tiefer. Als sie jemand berührte, schreckte sie mit einem unterdrücktem Schrei hoch: „Swantje!“ Im ersten Moment konnte sie nicht reagieren. Die Flammen hatten sie eingeschlossen, begannen sich in ihre Haut zu brennen.
„Swantje! Komm wieder zu dir.“ Die junge Frau reagierte noch immer nicht. Ein Spritzer kaltes Wasser brachte sie wieder in diese Welt. „Habe ich dir nicht gesagt, daß du nicht so lange in das Feuer starren sollst?“ fragte der alte Mann mürrisch. Die junge Frau am Webstuhl zuckte heftig zusammen und starrte auf die Narben, die ihre Arme bedeckten. „Mein Vater und Lehrer, ich bitte um Verzeihung. Aber die Erinnerungen haben mich wieder eingeholt.“
„War es die Nacht als die Schiffe kamen?“ fragte Tjure, der alte Mann ernsthaft.
„Ja.“ antwortete Swantje, „und die Flammen haben mir verraten, daß sie wiederkommen werden.“
Der alte Mann hob zu einem rollenden und bitteren Lachen an: „ Was wollen sie hier noch? Einen alten Mann und ein Mädchen töten? Du weißt selbst, das wir beide nicht viel besitzen.“
„ Das ist richtig“ erwiderte die junge Frau. „Und dennoch werden sie kommen. Der Herr des Feuers hat es mir selber zugeflüstert.“
Tjures Blick wurde ernsthaft nachdenklich. „Erzähl mir bitte davon. Und laß kein Detail aus – hörst du?“ Swantje setzte einen Kessel mit Wasser auf das Feuer und begann so genau wie möglich von ihrer Vision zu berichten. Tjure, ihr Vater hörte aufmerksam und nachdenklich zu. Als sie fertig war, herrschte immer noch Schweigen in dem Raum. Nur das Prasseln der Flammen durchbrach gelegentlich die Stille. Beide sahen müde aus. „Ich denke, wir werden den Rest dieses Gespräches auf morgen verschieben“, durchbrach schließlich der alte Mann die Stille und stand langsam auf. Mit schweren Schritten hinkte er zu seiner Lagerstatt. Aus alter Gewohnheit schlief er mit seinen Waffen zusammen. Swantje räumte den Webstuhl auf die Seite, damit die Flammen ihre Arbeit nicht verzehren konnten. Sie gähnte kurz und holte für ihren Vater noch eine Decke. „Mein Kind, du bist zu gut zu mir.“ murmelte Tjure leise und streichelte ihr über die vernarbte Wange. Es dauerte nicht lange, bis sie beide in einen tiefen und traumlosen Schlaf fielen.
Der Wind trug bereits den Geruch des morgendlichen Nebels in das kleine Langhaus, als Swantje aus ihrem Schlaf erwachte. Sie stand auf, kleidete sich an und warf einen Blick auf die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages, welche sich durch die Wolken kämpften. Der Wind schmeckte salzig und kalt. In der Ferne konnte sie die Wellen rauschen hören, die sie bereits zusammen mit ihrer Mutter Raskja in den Schlaf geleitet hatten, als sie noch ein kleines Mädchen war. Swantje zog sich ins Haus zurück und begann einen Kräutertee zu kochen. Ihr Vater schlief noch. Nachdem sie eine Tasse getrunken hatte, kramte sie aus einer Ecke ihre Trommel heraus. Sie wollte dem Traum am Feuer auf den Grund gehen. Die gewünschten Kräuter als Opfergabe für die Jöten, die Geister der Natur waren schnell zusammengesucht. Einige andere Dinge würde sie auf den Weg finden. Bevor sie ging, schlich sie sich leise zu dem Schlafplatz ihres Vaters und gab ihm einen liebevollen Kuß auf die Stirn. Tjure brummte im Halbschlaf vor sich hin und bat sie, ihr Sax oder wenigstens eine Axt mitzunehmen.
Swantje schulterte die Riemen des Weidenkorbes und glitt aus dem Haus. Sie kannte die Richtung nur zu gut, in die sie ging. Es war für sie ein heiliger Ort. Die alten Bäume ragten mächtig in den Himmel und gaben ihr das Gefühl von Geborgenheit. Ein Schneehuhn in seinem braunen Sommerkleid schreckte aus dem hohen Gras auf. In der Ferne konnte sie einen Hirsch bei seinem Brautwerben hören. Es klang fast so wie das Brummen eines alten Bären. Der Weg war weit. In der Mittagssonne machte sie im Halbschatten unter einer mächtigen Eiche Rast.
Tjure erwachte aus seinem tiefen Schlaf. Ein Blick zur Schlafstätte seiner Tochter sagte ihm, daß sie tatsächlich aufgebrochen war. Er erhob sich langsam von seinem Lager und wusch sich mit einem Eimer Wasser vor der Hütte. Früher war es ein stolzes Langhaus gewesen - aber das war schon lange her. Ein Feuer, das von Plünderern gelegt worden war, hatte es zu 2/3 zerstört und Swantje, seine Tochter schwer entstellt. Nach einem kurzen Frühstück wandte er sich der Hausarbeit zu. Trotz seines hohen Alters bewegte er sich immer noch mit erstaunlicher Geschmeidigkeit. Dennoch machte er sich Sorgen. „Oh, ihr Raben Odins, beschützt meine Tochter auf ihrer Reise.“ murmelte er leise, als er sich daran machte, aus Zweigen neue Löffel für den nächsten Markt zu schnitzen.
Swantje erreichte ihr Ziel am späten Nachmittag. Sie hatte ein wenig getrödelt und einige kleinere Umwege gemacht. Dafür war sie sich ihrer Sache aber um so sicherer. Vor ihr breitete sich eine große Lichtung aus. In der Mitte stand ein abgeflachter runder Felsen, der an eine Tafel erinnerte. Um die Lichtung herum erhoben sich mächtige alte Laub- und Nadelbäume. Die junge Frau fiel in tiefen Respekt auf die Knie und hielt einen kurzen Moment inne. Sie schwieg die ganze Zeit, während sie ihren Korb in der Mitte des Platzes abstellte und auf die Suche nach Brennholz machte. Der letzte Sturm hatte genug Bäume umgeknickt. Swantje mußte sie nur mit ihrem Sax zerkleinern und zu einem Holzstoß aufschichten. Es war schon sehr dämmerig, als die junge Frau mit Feuerstein und Schlageisen die ersten Funken auf das getrocknete Weißmoos schabte. Anfangs züngelten die Flammen nur sehr verhalten, aber dann stiegen sie immer kräftiger in die Höhe. Nachdem auch die großen Scheite ihren Weg in das Feuer gefunden hatten, spendete das Licht eine einladende Atmosphäre, die weit hinaus in die Nacht reichte. Die alten Birken am Rand wirkten unnahbar wie alte Geister aus längst vergangenen Tagen. Swantje streckte sich kurz in sicherer Entfernung im Gras aus und überlegte. Was für Vorbereitungen hatte sie noch nicht vollzogen? Sie lauschte und bemerkte in der Ferne – am Rande des Platzes – eine Quelle. Sie erinnerte sich. Dieser Platz wurde seit langer Zeit von den umliegenden Dörfern für das „Thing“ genutzt - es war der Versammlungsort, an dem sich die Ältesten und Weisen der Dörfer trafen, um wichtige Dinge zu beratschlagen. Die junge Frau stand auf und sah sich noch einmal gründlich um, ob ihr jemand gefolgt war, bevor sie sich entkleidete. Mit einem Stück Leintuch und ein paar zerstoßenen Seifenkrautwurzeln begann sie sich zu reinigen, um den Geistern makellos gegenübertreten zu können. Als sie an das Feuer zurückkehrte, erblickte sie einen Fuchs, der am Rand der Lichtung saß und sie zu beobachten schien. Er verschwand, als ihre Augen in die seinen blickten. Sie lächelte. Ein besseres Zeichen hätte sie nicht bekommen können. Die Flammen warfen ihren Schein auf Swantjes feuchte, mit Brandnarben gezeichnete Haut und erweckten sie im Wechselspiel zwischen Licht und Schatten zu einem eigenen Leben. Die junge Frau warf sich ein Fell über die Schultern und begann, ihre Utensilien für die Reise in die anderen Welten vorzubereiten. Auf dem Platz herrschte vollkommene Stille. Selbst das Knistern der Flammen schien zu verstummen. Swantje nahm die Ruhe tief in sich auf und versuchte sich, so viele Merkmale dieses Ortes wie möglich einzuprägen. Es war der einzige Weg, wie sie später wieder zurückfinden würde, hatte sie ihre Reise erst einmal angetreten. Schwerfällig hob sie die Hand. Der erste Schlag auf das Fell ihrer Trommel glich einem Donnerschlag. Der zweite zerriß die Stille in mehr als tausend Stücke. Schlag auf Schlag grollten ineinander, als würde im Wald eine einzige wütende Schlacht zwischen Bewußtsein und Traumwelt toben. Die Dämpfe der Kräuter, die sie den Flammen übergeben hatte, durchströmten sie und trugen sie zusammen mit ihrer Musik fort in eine andere Dimension. Sie reiste über das weite Meer, Tag und Nacht verschmolzen mit dem endlosen Gefüge von Raum und Zeit. Sie gelangte an eine ferne Küste, die sich besonders durch die einsamen freistehenden Raukar-Felsen auszeichneten. In der Brandung stand ein junger Mann, der ihr fast bis auf das Haar glich. Stolz und würdevoll sah er auf das Meer hinaus. In seinen leuchtendblauen Augen loderte das Feuer der Jugend und die Leidenschaft ihres gemeinsamen Vaters. Doch etwas war anders. Sie kannte diesen Mann, seit er ein Kind gewesen war. Aber was war geschehen, daß sich sein Herz so mit Zorn und Bitterkeit gefüllt hatte? Zwei Raben umkreisten die beiden… der eine setzte sich auf die Schulter des jungen Mannes und schien ihm ins Ohr zu flüstern. Der andere flog direkt vor sie und in ihren Gedanken hörte sie, wie er sagte, daß die Zeit des Wiedersehens noch nicht gekommen war. Er breitete seine Schwingen aus, erhob sich in die Lüfte und Swantje folgte dem Vogel hinaus in das Unbekannte, bis hin zu einem uralten Baum. Sie breitete ihre Arme aus und ergab sich dem, was kommen sollte. Kräfte, die älter waren als der Anbeginn der Zeit, zogen sie an den Stamm des Baumes. Sie fühlte in beiden Handgelenken stechenden Schmerz, als würde ihr jemand metallene Pflöcke hineinschlagen. Sie schrie aus Leibeskräften und versuchte, sich loszureißen. Doch dies vergrößerte nur ihre Qualen. Schließlich gab sie sich einfach der unbequemen Haltung und dem Schmerz hin. Swantje versank in einer tiefen Meditation, damit ihr Geist nicht in den Wahnsinn entglitt. Als die Sonne zum neunten Male aufging, gab der Baum sie wieder frei, die Schmerzen ließen nach und ihr Körper sank auf dem Boden vor dem Baum auf die Knie. Um sie herum lagen Plättchen aus dem Holz des Baumes, an dem sie so gelitten hatte, verstreut. Die Schriftzeichen darauf kannte sie nur zu gut. Es waren Runen, mit denen man Aufzeichnungen hinterließ oder die ein Schamane für geheime Zwecke der Weissagung gebrauchen konnte. Sie begann, die Plättchen aufzusammeln und steckte sie in einen kleinen Beutel, den sie ebenfalls am Fuße der Esche fand. Ihr Geist fühlte sich stärker an, kräftiger - vorbereitet auf das, was kommen würde. Sie verneigte sich noch einmal vor dem Baum und konnte einen Blick auf den Anbeginn der Zeit erhaschen. Es war nur ein kurzer Augenblick, nicht länger als ein Wimpernschlag, dann waren Ort und Baum verschwunden. Der Sternenhimmel hüllte sie wie ein weicher, dunkler Mantel ein, während sie das Bewußtsein verlor. Lange Zeit herrschte Stille. Sie spürte, als sie wieder erwachte, Gras unter sich. Ihr Körper atmete rasch und schwer. Der Sternenhimmel verblaßte langsam und der erste Morgennebel machte sich im sterbenden Feuerschein bemerkbar. Und genau zu diesem Zeitpunkt erkannte Swantje ihr eigenes Schattenspiel in sich selbst. Sie hatte ihre Aufgabe gefunden, die sie früher oder später zu ihrer Bestimmung führen würde. Es würde ein weiter und langer Weg werden. Aber nun, nachdem sie ihre Initiation vollzogen hatte, war sie für die kommendenAufgaben bereit.
Ein alter Wolf heulte in der Ferne, als Tjure schweißgebadet aus seinem traumlosen Schlaf hochschreckte. Der Wind trug ihm die Ruderschläge mehrerer Schiffe vor der Küste zu. Er sprang auf und begann sich zu rüsten. Er war wie in alten Tagen bereit, Haus und Hof zu verteidigen. Nichts und niemand würde ihn davon abhalten, ehrenvoll zu sterben. Er war bereit, an die Tafel der Asen zurückzukehren, um dort als Skalje und Schamane von seinen Taten zu berichten. Leise schlich er sich im Schutze der Dämmerung hinunter an den Strand. Er würde – falls er heute die Regenbogenbrücke betreten mußte - an ihrem Fuße einige Köpfe seiner Feinde als Geschenk für die Götter zurücklassen. Er versteckte sich hinter einigen Büschen, um auf seine Gegner zu warten. Der Drachenkopf des ersten Bootes durchbrach den Nebel und kam in Schußweite seines Bogens, den er bisher nur für die Jagd benutzt hatte. Tjure legte einen Pfeil mit brennender Spitze auf die Sehne, wartete noch einen Augenblick und schoß dann aus seinem Versteck. Der Nordmann, der ganz vorne im Boot stand, wurde von dem Brandpfeil am Hals durchbohrt und fiel vornüber in einen Stapel Taue, die sofort Feuer fingen, noch bevor der tote Körper ins Wasser klatschte. Der Brand weitete sich sofort auf das restliche Schiff aus, die Krieger darauf stellten für Tjure im Augenblick keine Gefahr mehr dar, weil sie mit dem Feuer und diversen Verwundeten mehr als beschäftigt waren. Pfeil um Pfeil schoß der alte Schamane ab und stiftete Verwirrung und Panik unter den Seefahrern der drei ersten Boote. Als sein Köcher leer war, zog er seinen Rundschild vom Rücken, riß sein Schwert aus der Scheide und zeigte sich offen. Er schrie seinen Namen und forderte im Namen von Odin jeden zum Zweikampf auf, der es wagen würde, von seinem Schiff herunterzusteigen. Ein groß gewachsener Hüne vom zweiten Schiff, der eine Axt mit langem Stiel und verhältnismäßig kleinem Kopf führte, erwiderte die Herausforderung und stellte sich Tjure zum Kampf. Wenig später lag er sterbend im Sand.
Swantje hatte sich wieder vollständig angekleidet, als sie in ihrer Seele den Kriegsschrei ihres Vaters hörte. Hastig packte sie ihre Sachen zusammen, schulterte ihren Tragekorb und rannte, so schnell sie konnte, in Richtung Strand. Der Weg schien eine Ewigkeit zu dauern. Was sie nicht merkte war, daß ihre Füße kaum den Boden berührten. Atemlos kam sie auf einer Düne an, von der sie alles verfolgen konnte, was dort unten geschah.
Die Sonne verdunkelte sich rasch. In der Ferne konnte sie die Schreie von unzähligen Raben hören. Swantje wußte genau, daß es hier nicht mit rechten Dingen zuging – denn auf einem der Schiffe mischte sich das Klappern unzähliger Knochen mit dem Murmeln sehr alter Beschwörungsformeln.
Tjure stieß einen Schrei aus, der dem Heulen eines Wolfes ähnelte. Die inzwischen pechschwarze Luft flimmerte und hinter seinem Rücken erschienen mehrere schwach glimmende Schatten. Die Gestalten nahmen binnen Sekunden zunehmend menschlicheres Aussehen an. Swantje erinnerte sich, das eine oder andere Gesicht zu kennen - es waren die Menschen, die bei dem ersten Überfall auf das Dorf vor vielen Jahren ihr Leben gelassen hatten. Ein stattlicher Hüne von fast zwei Metern Größe, der die Geisterschar anführte, legte seine riesige Hand auf Tjures Schulter: „Du hast uns damals unter Einsatz deines eigenen Lebens ermöglicht, das wir ehrenvoll in die Stadt in den Wolken aufgenommen wurden, obwohl wir nicht im Kampf gestorben sind. Nun ist es an der Zeit, das wir unsere Schuld bei dir begleichen, mein Freund!“. Ein schmales Grinsen huschte über das Gesicht des alten Schamanen. Nun würden die Männer auf den Booten feststellen, daß er doch nicht so eine leichte Beute war, wie sie vielleicht angenommen hatten.
Swantje hielt den Atem an. Um nicht bemerkt und wohlmöglich zur Zielscheibe zu werden, warf sie sich auf den Boden und suchte sich eine geeignete Deckung, von der aus sie soviel wie möglich mitverfolgen konnte, ohne selbst gesehen zu werden.
Die restlichen Schiffe brachen aus den Nebeln. Es waren insgesamt sieben an der Zahl. Von Bord sprangen sowohl lebende Krieger als auch belebte Knochenmänner in den weichen Sand des Strandes, um das zu vollenden, was sie einst begonnen hatten. Alle Dorfbewohner sollten sterben, damit niemand jemals das Geheimnis erfahren sollte, warum sie ausgerechnet an diesen Ort gekommen waren.
Tjure stieß erneut seinen Wolfsschrei aus, der weit über das Land hinweghallte. Die Antwort kam prompt – ein mächtiges Donnergrollen, gefolgt von einem heftigen Blitzschlag streckte mehr als die Hälfte der Angreifer nieder. Mit dem Rest wurde kurzer Prozeß gemacht - die auferstandenen Geister des Dorfes verteidigten mit unerbittlicher, fließender Härte das, was ihnen zu Lebzeiten einmal gehört hatte.
Atemlos blickte Tjure in die Runde seiner toten Freunde. „Ich danke euch! Haltet mir an der Tafel einen Platz frei, damit ich – wenn der Tag gekommen ist - von meinen Taten erzählen kann. Mögen Frieden, Geborgenheit und ewige Ruhe bis zur Götterdämmerung euere Begleiter sein. Auf daß wir eines Tages wieder Seite an Seite für die Gerechtigkeit kämpfen werden.“ Die Geister nickten stumm.
Swantje bemerkte, wie sich die Sonne langsam wieder ihren Weg auf die Erde freikämpfte. Sie traute ihren Augen nicht. Der gesamte Spuk löste sich in Luft auf. Nur zwei Schiffe, deren Mannschaften nicht vollzählig niedergestreckt worden waren, suchten das Weite. Als sie weit genug weg waren und keine Gefahr mehr darstellten, konnte sie sich nicht länger halten. Sie ließ alles stehen und liegen, sprang auf und rannte zu ihrem Vater Tjure. Sein Atem ging immer noch schwer und er blutete aus einigen Wunden. Sein Kettenhemd war so sehr in Mitleidenschaft gezogen, daß es ohne größere Reparaturen in Zukunft unbrauchbar sein würde. Vorsichtig stützte Swantje ihn und begleitete ihn bis zu ihrem Langhaus. Sie verbrachte den restlichen Tag damit, Tjures Wunden zu reinigen und zu versorgen. Gegen Abend nahm sie die Wasserschläuche, um sie wieder zu füllen. An der Quelle angekommen, brach sie mit tränenüberströmten Gesicht zusammen. Auch wenn sie selbst seit diesem Tag nicht mehr ganz von dieser Welt war – die Ereignisse waren trotzdem zu viel für sie. Ihr Körper bebte und zitterte vor Erschöpfung. Unter großer Anstrengung schleppte sie sich mit ihrer Last zurück zum Haus und sank bereits im Halbschlaf auf ihr Lager. Das letzte, was Swantje vernahm, war das „Mögen uns die Geister dieser Nacht wohlgesonnen sein“ ihres Vaters. Dann sank sie endgültig in einen tiefen und traumlosen Schlaf. In der Ferne schrie ein Käuzchen in den hohen Tannenwipfeln. Und darunter wanderte die geisterhafte Gestalt einer alten Frau auf das Haus zu. Am Waldrand setzte sie sich auf einen Baumstumpf, um den Morgen abzuwarten. Sie lächelte zufrieden. So also nahm das Schicksal seinen Lauf…
Copyright by. Christian "Ryu - ki" S.