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- 01.09.2005
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Schattenspieler
Es gibt viele Wege, ein Bein zu verlieren. Ein Unfall. Krebs. Fluppen.
Als ich Zeuge wurde, wie jemand sein Bein verlor, war das Opfer ein achtjähriger Junge und der Tatort ein Hallenbad. Da scheidet so manche Möglichkeit schon mal von vorneherein aus.
Ich war an diesem Abend als Praktikant einer Lokalzeitung vor Ort. Es war spät und das Schwimmbad fast leer. Ich wollte für die Jugendseite einen Bericht über ein Kanupolo-Team schreiben, das sich während der Wintermonate – es war kurz nach Weihnachten – immer Freitag Abend dort zum Training traf. Als ich gerade Fotos von einem Paddel-Duell machte, übertönte plötzlich ein hohes Kreischen aus einem Becken hinter uns die Anfeuerungsrufe und den sonstigen Lärm des Trainingsspiels.
Ich wünschte, ich könnte sagen, ich sei aus Nächstenliebe in Richtung des Schreiens gelaufen, um mir unterwegs das T-Shirt vom Leib zu reißen und darunter ein markant gelb-rotes „S“ auf blauem Hintergrund zum Vorschein zu bringen. Aber es war mein bereits geschliffener journalistischer Instinkt, der mich laufen ließ. Ich war mit dem Studium durch und dies war mein letztes Praktikum vor dem Volontariat. Meine Metamorphose vom netten Kerl zur Nachrichten-Hyäne war bereits so gut wie abgeschlossen.
Ein einziger, kreischender Junge schwamm in dem Becken. Um ihn herum erblühte das Wasser rot wie von Rosen in einem kitschigen Wasserballett. Das Schreien wurde immer mal wieder unterbrochen, wenn der Kopf unter der Oberfläche verschwand. Ich machte ein Foto, ein berufswunschbedingter Reflex, der mir wüste Beschimpfungen von den Kanupolospielern eintrug, die mir eben noch dankbar gewesen waren, dass ich ihren Orchideensport in die Zeitung bringen wollte.
Aber statt schuldbewusst die Kamera sinken zu lassen und den muskelbepackten Sportskanonen hinterher in das blutige Wasser zu springen, machte ich noch ein Foto. Diesmal von einem anderen kleinen Jungen, der seltsam unbeteiligt am Beckenrand saß und beobachtete, wie sein – ich schätzte grob – Altersgenosse aus dem Wasser gezogen wurde.
Einer der harten Männer, der mich zur Begrüßung mit Bundeswehr-Geschichten gelangweilt hatte, als sähe er in mir seinen persönlichen Biographen, kotzte. Ein anderer fiel in Ohnmacht beim Anblick des halbierten rechten Beins. Das Fleisch hing in Fetzen, der Knochen schien gesplittert, abgebrochen, unsauber durchgesägt. Es erinnerte mich an die unzähligen Hühnerschenkel, die ich als großer Geflügelfreund im Laufe meines Lebens in zwei Teile gerissen hatte.
Der Bademeister kam angerannt und schrie etwas von keine Panik, ein gutgemeinter Ratschlag, der keinen rechten Anklang finden wollte.
Am gegenüber liegenden Beckenrand saß, geradezu verträumt ins Wasser starrend, der andere kleine Junge. Die beiden waren die einzigen hier am und im Becken, also beschloss ich, dass sie Freunde seien mussten. Warum blieb er so regungslos sitzen? Ich machte noch ein Foto, bekam von irgendwoher eine Faust ins Gesicht und beschloss, zu gehen.
Mein Zuhause teilte ich mir mit einem alten Schulfreund. Nach Ende des Studiums war ich zurück in meine kleine Stadt gezogen. Es war schlimm genug gewesen, die grellen Lichter der Großstadt wieder gegen eine Altstadt zurücktauschen zu müssen, deren Straßen nach zehn Uhr so leergefegt waren wie die in einem Zombie- oder sonstigen Post-Apokalypse-Film. Unerträglich aber machte das Ganze das Wohnen bei den Eltern, der Mutter, die mich bereits kurz nach dem Wiedereinzug so behandelte, als sei ich nie weg gewesen. Als hätte ich noch nie einen Herd, eine Waschmaschine oder einen Wecker bedient.
Also besserte ich mein wenig üppiges Praktikantengehalt mit Nachhilfejobs und der Samstagsschicht in einer Videothek auf, um mir zum Entsetzen meiner Mutter – mein Vater hatte lediglich verständnisvoll gegrinst – eine WG mit besagtem Schulfreund zu teilen, nur zwanzig Minuten mit dem Auto von meinen Eltern entfernt und doch gelegen in einer anderen Dimension, einer Oase der Eigenverantwortung fernab vom Schreckensreich mütterlicher Bevormundung.
Als ich an dem Abend nach dem Vorfall im Hallenbad nach Hause kam, war ich allein. Bernd, der diverse Lehren abgebrochen und im Gegensatz zu mir unseren sympathischen kleinen Arsch der Welt nie verlassen hatte, hatte Nachtschicht. Er war mittlerweile vom Zeitarbeiter zum festangestellten Schichtleiter in einem Betrieb aufgestiegen, der irgendetwas produzierte, was nicht zur Benutzung durch den Endverbraucher gedacht war. Bernd selbst hatte mir nie schlüssig erklären können, wofür genau die fertigen Teile verwendet wurden, die er schraubte, fräste, sägte und entgratete.
Mit etwas Eis in einer Plastiktüte kühlte ich meine rechte Gesichtshälfte, während ich meine Kamera an meinen Laptop anschloss. Glücklicherweise hatte meine Nase aufgehört zu bluten, und als Ex-Zivi einer Hals-Nasen-Ohren-Klink vermochte ich auch mit Bestimmtheit zu sagen, dass sie nicht gebrochen war. Außerdem hatte ich Fotos. Alles in allem also ein erfolgreicher Tag.
Ich öffnete die Bilder und klickte mich durch. Vergrößerte, verkleinerte. Sah den Schatten ohne Verursacher und hielt ihn für eine optische Täuschung. Ich machte das Licht in meinem Zimmer an und schob meine Brille die Nase herauf, so dass die helfenden Gläser näher an meinen kurzsichtigen Augen lagen.
Im Vordergrund des Bildes sah man den Unterleib des amputierten Jungen, den blutenden Beinstumpf, und einen der Kanupolospieler, der sich mit unsicherem Blick umsah als erwartete er jeden Moment einen lachenden „Vorsicht Kamera!“-Ruf. Gleich würde er sich mit einem aggressiven Schubser mir zuwenden.
Welche Perspektive ich auch einnahm, der Schatten blieb. Und der Junge, der am Beckenrand saß, schien ihn auch zu sehen. Nein, nicht schien. Er starrte ihn an.
Ich rauchte eine Zigarette, ohne dabei ein einziges Mal auf den Bildschirm zu sehen. Meine Augen waren müde, das künstliche Licht, der Schock des Erlebten, all das mochte dazu beitragen, dass ich sah, was ich sah. Nicht zuletzt hatte ich einen wenig zögerlichen Schlag gegen den Kopf erhalten. Ja, so muss es sein, sagte ich mir. Doch als ich die Zigarette ausdrückte und mich wieder dem Foto zuwandte, war er noch da, die Form unmissverständlich.
In der Mitte des Beckens, da wo es am tiefsten war, konnte man im rötlich schimmernden Wasser deutlich den Schatten eines großen Hais erkennen.
Der nächste Tag war ein Samstag und ich rief Malte Schorn, den Kapitän des Kanupoloteams, an. Ich versprach ihm, dass ich der Redaktion verschweigen würde, dass ich Fotos gemacht hatte. Ich sagte, dass ich selber nicht wüsste, was ich in mich gefahren sei. Er schwieg lange und sagte dann so etwas wie ja, wir haben uns in der Situation wohl alle bescheuert benommen, jeder auf seine Art. So etwas passiert einem schließlich nicht alle Tage.
Verständnisvoll schnaufte ich ins Telefon und nuschelte ja, so sei das halt. Dann kam ich zum Punkt.
„Wer war der Junge, der am Beckenrand saß?“
„Wer?“
„Weißt du vielleicht, wer der Kleine war, der da am Beckenrand gesessen hat? Hat sich nicht bewegt, keine Miene verzogen. Als würde er das Geschrei und das Blut im Wasser gar nicht mitbekommen.“
„Ach der, ja. Wenn wir Training hatten, sind die beiden bisher auch immer im Bad gewesen. Blieben, bis eigentlich für alle anderen Gäste als für uns vom Team zugemacht wurde. Der Kleine mit dem kaputten Bein hat glaub ich Eltern mit Geld, deshalb durften sie bleiben, bis wir mit dem Training fertig waren. Irgendwie so. Wir haben uns ab und zu ein bisschen unterhalten. Der am Rand saß heißt Marco Willas. Stiller Junge. Kam mir manchmal fast ein bisschen vor als wäre er, na du weißt, ein ganz besonderes Kind. Mit Helm und Villa Sonnenschein und so.“
Ich lachte.
„Nein, tut mir leid, das war fies“, sagte Schorn. „Der Kurze ist halt einfach nur irrsinnig zurückhaltend. Weißt du, was merkwürdig ist?“
„Was?“
„Wir haben da gestern noch ein bisschen rumgehangen, als Polizei und Notarzt da waren. Also, wir mussten bleiben. Wurden befragt, bekamen psychologischen Beistand empfohlen und so. Und so, wie ich das mitbekommen habe, haben die das Bein nicht gefunden. Komisch, oder? Ich meine, so ein Becken ist ja schnell durchsucht. Aber es war nicht da.“
Natürlich nicht, dachte ich.
Es wurde gefressen.
Ich hatte einen Vornamen und einen Nachnamen und bekam schnell heraus, wo Marco Willas zur Schule ging und dass er seinen nach Hause-Weg für gewöhnlich allein antrat. Hey, ich will Journalist werden.
Der Junge schlurfte vor mir her und entbehrte in seinem gequälten Gang jeder kindlichen Unbeschwertheit. Es erinnerte mich an das Schlurfen eines zum Tode Verurteilten auf dem Weg zur Richtstätte.
„Marco?“
Er blieb stehen, drehte sich um und sah mich an. Ein alter Mann im Blaumann mähte Rasen. Er stierte über eine Hecke hinweg zu uns hinüber, die Sinne vermutlich von der Bild-Zeitung für Männer geschärft, die Kinder ansprachen.
Marco drehte sich um.
„Ich rede nicht mit fremden Leuten.“
Der Mann hinter der Hecke machte den Rasenmäher aus und tat dann so, als hätte er es nicht gemacht, um besser hören zu können, was der kleine Junge und der etwas schlampig gekleidete Mann um die dreißig zu reden hatten.
„Ich war am Freitag auch im Herrenhausen-Bad“, sagte ich.
Der Junge sah mich an mit einem Blick, der es verbat, ihn einen Jungen zu nennen. Er klang auch nicht wirklich wie ein Kind, wenn er redete.
„Das macht Sie nicht weniger fremd.“ Er ging weiter. Der Rasenmähermann beobachtete jetzt mit unversteckter Neugier, wie ich die Verfolgung aufnahm. Marco Willas festzuhalten und zu einer Aussprache zu zwingen, hätte mir in unseren sensiblen Zeiten höchstwahrscheinlich eine Fahrt auf dem Rücksitz eines grünen Autos eingebracht. Also setzte ich mit meinem nächsten Ruf alles auf eine Karte. „Ich habe den Hai gesehen, Marco!“
Er blieb stehen.
„Ich habe ihn fotografiert.“
Er trat auf mich zu und sah mich hasserfüllt an. Plötzlich verdunkelte etwas hinter mir die Nachmittagssonne. Auf dem Boden zeichnete sich ein Schatten ab. Was immer es war, für mich bestand es nur aus Zähnen.
Ich hörte ein Knurren und wollte dem erschrockenen Drängen meiner Blase gerade nachgeben, als der Schatten zerbarst wie ein sich auflösender Schwarm Fledermäuse.
Marco Willas Augen glänzten, seine Gesichtszüge entglitten. Er fing an zu weinen und drückte mir fast die Luft ab, als er mich umarmte.
Der Blick des Rasenmähermanns ging beschämt zu Boden.
Weil er mich danach fragte, nahm ich Marco Willas mit zu mir nach Hause.
Ich stellte ihm einen Kakao auf den Küchentisch und goss mir selbst noch einen Kaffee ein. Dann zog ich eine Zigarette aus meinem Päckchen Marlboro Lights und bot Marco grinsend eine an. Er lächelte nicht einmal über den Witz.
„Werden deine Eltern sich keine Sorgen machen?“, fragte ich.
Jetzt erst rührte er seinen Kakao an. Es war offensichtlich, dass er daran nippte, um nicht reden zu müssen.
„Hallo?“ Er hatte den Blick von mir abgewandt. „Hallo? Deine Eltern? Du hast doch welche, oder?“
„Ja“, sagte er.
„Und werden sie dich nicht erwarten?“
„Doch. Aber sie wollen mich loswerden. Sie haben Angst vor mir.“
„Wegen des Hais?“
„Es ist kein Hai.“
„Es war aber sicherlich auch keine Ente, die deinem Freund das Bein abgebissen hat.“
An der Art, wie seine Finger sich um seine Tasse krallten, erkannte ich, dass ich ihn wütend gemacht hatte. Ich erinnerte mich an den Schatten und die Zähne und beschloss, wieder einen Gang zurück zu schalten und vor allem, freundlich zu bleiben.
„Es tut mir leid“, sagte ich. „Wenn es kein Hai ist, was ist es dann?“
„Es ist, was immer es sein will. Wovor ich Angst habe. Was ich anderen wünsche. Mal dies, mal das. Weil es im Wasser passierte, war es wahrscheinlich ein Hai. Ich war wütend auf Tim. Er hat mich dauernd runter gedrückt, ich bekam kaum noch Luft. Er ist viel stärker als ich und kann besser schwimmen. Als ich draußen war, habe ich ihn vom Beckenrand angesehen und ihm ... etwas Schlechtes gewünscht. Und plötzlich schwamm der Schatten auf ihn zu.“
Ich drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Es passiert, wenn du wütend auf jemanden bist?“
„Meine Eltern haben damit gedroht, mich wegzugeben, wenn ich es nicht kontrollieren kann. Es sah aus wie ein Gorilla, als es Papa den Arm gebrochen hat. Meine Eltern haben es beide gesehen. Papa hatte mich angeschrieen, weil ich eine teure Vase kaputt gemacht hatte. Und plötzlich war es hinter ihm an der Wand und griff nach ihm. Danach hat er gesagt, ich soll lernen, es zu unterdrücken, oder er lässt mich abholen. Meine Mutter hat viel geweint meinetwegen.“
„Er lässt dich abholen? Von wem?“
„Nach der Sache im Schwimmbad waren zwei Männer bei uns zu Hause. Mein Vater ... war lange bei der Bundeswehr.“
Kombinatorik brachte etwas in meinem Kopf zum aufflackern. Wer sollte ihn schon abholen kommen? Welches Internat wäre exklusiv genug? Keins.
Aber was wäre, wenn Osama Bin Laden von einem Tyrannosaurus Rex gefressen würde?
„Haben sich diese Leute, die dein Vater kennt, dir schon einmal vorgestellt?“
Marco nippte an seinem Kakao.
„Ich habe sie einmal belauscht. Einen von ihnen. Im Wohnzimmer. Mein Vater saß da mit seinem eingegipsten Arm und erzählte die Geschichte. Der Mann, der da war ... sie haben sich geduzt und viel von früher und von Russland geredet ... der Mann hat ihm sofort geglaubt. Als würde er solche Sachen kennen.“
Vielleicht hat er mal einen Telepaten darauf trainiert, Idi Amin den Kopf explodieren zu lassen wie in Scanners, dachte ich. Eben stand meine Karriere noch darauf, als Journalist bei einem lokalen Käseblatt mit fünftausender Auflage auf ewig vom Spiegel und der FAZ zu träumen, jetzt war ich der Protagonist in einem Tom Clancy-Roman.
Ein Schatten fuhr über den Tisch. Etwas schlug mir meine Tasse aus der Hand. Ich spürte Fell und ein unsichtbares Messer ... vier unsichtbare Messer, die vier kleine Schnitte in meinen Handrücken machten.
„Ich lüge nicht!“, schrie Marco.
„Das glaube ich auch nicht!“, schrie ich zurück, in Panik.
Bernd kam in die Küche geschlurft. Er stank nach Bohrmilch und durchgeschwitzten Socken. Er duschte immer erst, wen er vorhatte, längere Zeit wach zu bleiben.
„Ey“, gähnte er erbost.
„Oh“, sagte ich und log dann: „Ich wusste nicht, dass du Nachtschicht hattest.“
Bernd setzte sich und nahm sich eine meiner Zigaretten, ohne zu fragen, wie es seine Art war. Er pustete Rauch aus und fragte: „Wer ist das? Und wieso schreit er hier so rum? Und warum ist er so klein?“
Marco und ich sahen Bernd an.
„O.k.“, sagte er. „Ich bin ja auch gerade erst aufgestanden. Vergiss die letzte Frage. Aber trotzdem: wer ist das?“
Ich stellte Marco vor und erzählte seine Geschichte, die seit kurzem unsere war. Die Sache mit dem Hai ließ ich nicht aus. Als ich fertig war, hatte Bernd seine – meine – Zigarette aufgeraucht.
„Dann gehe ich jetzt wieder ins Bett“, sagte er.
„Hattest du erwartet, dass er dir glaubt?“, fragte Marco mit provozierendem Unterton in der Stimme.
„Ja, hattest du wirklich erwartet, dass er dir glaubt?“, äffte Bernd Marcos kindliche Stimme nach. „Mach dich abfahrbereit, Kleiner, ich fahr` dich zu deinen Eltern. Bevor die Bullen hier auf der Matte stehen. Mann, Dennis, hast du über die Möglichkeit eigentlich nachgedacht, bevor du ...“ Bernd zeigte auf Marco und mir anschließend den Vogel. Er ging in sein Zimmer, um seine Autoschlüssel zu holen, wischte sich mit der Hand übers Gesicht und knurrte: „Also, manchmal frag’ ich mich, aber ehrlich du ...“
Marco sah mich vorwurfsvoll an. „Ich will nicht nach Hause“, flüsterte er.
Aber Bernds ernüchternder Auftritt hatte bereits Zweifel an allem in mir gepflanzt. Ich betrachtete die vier dünnen, kaum erkennbaren Striemen auf meinem Handrücken. Hatte ich sie mir vielleicht selbst zugefügt? Hatte ich mir, enttäuscht von der Banalität und Spannungslosigkeit meines Studiums, meiner erotischen Erlebnisse, meines Jobs, unterbewusst eingeredet, dass Gott endlich eine Messerspitze Hollywood in mein Leben gehaucht hatte? In Form eines übernatürlich begabten Kindes, das ich vor den Häschern des Geheimdienstes zu retten hatte? War die Möglichkeit, dass Bernds bodenständige Analyse der Situation richtig war, nicht unendlich viel näher an der Wahrscheinlichkeit?
Marcos Schluchzen im Auto konnte mich nicht aus meinen Gedanken reißen. Bernd drehte einfach die Musik lauter auf.
Marcos Vater hatte eine Frisur wie eine Schuhbürste. Eine oft benutze Bürste, denn ihre Borsten hatten sich bereits gelichtet und gaben den Blick auf eine teils picklige Kopfhaut frei. Der Bürstenkopf ruhte auf einem Oberkörper, dessen Muskeln sich unter dem eng anliegenden T-Shirt mit der Aufschrift „Wing-Tsun-Polizeisportverein-Borlach“ so gigantisch abzeichneten, dass es bei einem Mann seines Alters fast schon bizarr wirkte. Bernd sah zu mir und verdrehte genervt die Augen. Er wusste, dass mir als Schwuchtel gefiel, was ich da sah.
Nachdem ich zunächst befürchtet hatte, Manfred Willas würde uns erst die Arme ausreißen und dann die Fragen stellen, stellte Marcos Vater sich als überaus zuvorkommender Mann heraus. Geduldig hörte er an, was Bernd zu erzählen hatte, der von mir sprach, als wäre ich genau so alt wie Marco, und der mit seinem spöttischen „Wir Erwachsenen müssen in dieser Situation zusammenhalten“-Augenaufschlag Herrn Willas schnell auf seiner Seite hatte.
Wir nahmen im Wohnzimmer Platz und bekamen Cola angeboten. Marco saß neben seinem Vater, der ihm den Kopf streichelte. Er zuckte unter der väterlichen Zärtlichkeit zurück, als würde die streichelnde Hand eine ätzende Flüssigkeit in seinen Haaren verteilen.
„Ich weiß nicht, wo er seine Ideen hernimmt“, lachte Manfred Willas. „Von mir hat er das nicht. Vielleicht schreibt er mal Bücher oder dreht Filme wie diesen ... kennen Sie den ... wie heißt der Quatsch noch ... wo immer der Typ mit der Eishockeymaske-“
„Der Eishockeymaskenkiller“, unterbrach ich ihn ungeduldig und unhöflich. Bei jeder Bewegung, die sein Vater machte, schien Marco zusammenzuzucken. Ich wurde wütend.
„Was haben Sie bei der Bundeswehr gemacht?“, fragte ich.
Bernd schloss die Augen und vergrub sein Gesicht in der rechten Hand.
Manfred Willas wurde ernst. Er starrte erst auf den Boden, dann ins Leere.
„Ich ...“ Er nahm einen kräftigen Schluck Cola. „Ich habe die Landung Außerirdischer bei Castrop Rauxel vertuscht.“
Stille. Manfred Willas’ Körper begann zu zittern. Erst dachte ich, er würde anfangen zu weinen. Dann sah ich, dass er lachte. Grölte. Bernd stimmte ein. Die beiden gaben sich fünf.
„Wo ist Mama?“, fragte Marco. Seine dünne Stimme ging in der Ballermann-Geräuschkulisse, die mein Kumpel und sein neu gefundener bester Freund verursachten, unter.
„Wo ist Mama?“, fragte Marco erneut. Jetzt war seine Stimme nur kurz vor einem Schrei. Für einen Moment war ich sicher, dass gerade ein Schatten durch das Zimmer gezogen war. Bernd hatte erschrocken aufgehört zu lachen, aber Willas erholte sich nur langsam und prustend von seiner Grölattacke. Er wischte sich die tränenden Augen.
„Was?“, fragte er seinen Sohn.
„Wo ist meine Mutter?“
Willas sagte erst nichts, dann nippte er noch einmal an seiner Cola, so als wolle er Zeit gewinnen.
„Bei ihrer Freundin.“
„Bei welcher?“
Willas Gesicht gefror. Bernd schien an der Wendung des Gespräches nichts Ungewöhnliches zu finden. Er nahm sich eine Zeitschrift vom Tisch und blätterte darin.
Ich starrte Manfred Willas an, der seinen Sohn anstarrte. Ich spürte, wie Willas mich aus dem Augenwinkel beobachtete.
„Bei Gisela“, sagte er, und wie er es sagte, bedeutet es „Ende der Diskussion“.
Marco aber hatte weiteren Gesprächsbedarf.
„Haben sie Gisela die Mandeln denn schon rausgenommen?“
„Ja“, antwortete Willas. Er zog die eine Silbe lang und öffnete kaum den Mund, als er sie ausstieß.
„Das ging schnell“, sagte Marco. „Sie ist doch erst seit gestern im Krankenhaus.“
„Das reicht jetzt.“ Eine neue Stimme im Raum, so plötzlich, dass alle außer Manfred Willas erschrocken zusammenfuhren.
Ein zweiter Manfred Willas betrat den Raum durch die Tür, durch die das Original eben mit einer Flasche Cola zurückgekommen war. Dieser Willas hatte denselben Haarschnitt und einen ähnlich muskulösen Oberkörper. Aber statt Jogginghose und T-Shirt trug er einen grauen Anzug, und sein linkes Auge war ein schmutzig weißer Fleck in einer Höhle, die aussah, als hätte sie jemand mit einem Schneidbrenner bearbeitet.
„Deiner Mutter geht es gut, Marco“, sagte Willas 2. „Sie ist vor lauter Sorge um dich ein bisschen krank geworden, deshalb haben dein Vater und ich uns entschieden, sie dahin zu bringen, wo man ihr helfen kann.“
„Sie wollte verhindern, dass Papa mich weggibt“, sagte Marco. Wieder glaubte ich, einen Schatten zu sehen. Willas 2 schien ihn auch zu bemerken. Er lächelte.
„Unterschätz es nicht, Hannes“, sagte Manfred Willas.
„Das tue ich sicher nicht“, sagte Willas 2, genannt Hannes.
Bernd stand auf, sagte „Hallo“ und streckte dem neu Hinzugekommenen die Hand entgegen. Der fasste ihn bei der Schulter, drückte ihn wieder in seinen Sessel und gab ein freundliches „Hallo“ zurück. Bernd streichelte über seine Schulter. Der Griff schien weh getan zu haben.
„Und Sie sind auch bei der Bundeswehr?“, fragte ich Hannes. Ich hörte meine Angst in meiner eigenen Stimme.
„Die Bundeswehr?“ Hannes’ Lächeln ging in ein Grinsen über. „Hätte man nach dem zweiten Weltkrieg die Bundeswehr mit dem Verantwortungsbereich unserer Behörde betreut, hätten sie jetzt Reisschnaps oder Wodka statt Coca Cola in ihrem Glas. Wir sind Spezialisten, keine Möchtegern-Rambos.“
„Spezialisten in was?“, fragte ich.
„Hey!“ Bernd stand auf und hatte die Hände erhoben. Diese Geste der Aufgabe, gelernt in unserer Kindheit durch zigfache Wiederholungen von Westerfilmen, bewahrte ihn nicht vor Hannes’ Reaktion, der offenbar mit einem Angriff gerechnet hatte. Etwas im Luftraum zwischen Hannes’ Hand und Bernds Hüfte machte ein Geräusch, als würde eine Glühbirne durchbrennen. Bernd sank zu Boden, ohne die geringste Anstrengung zu unternehmen, sich abzufangen. Seine Arme baumelten schlaff an seiner Seite. Was immer das Glühbirnengeräusch gemacht hatte, hatte ihn ausgeknipst wie eine Glühbirne.
„Nein!“, schrie Marco.
Jetzt bewegte sich eindeutig etwas im Raum. Manfred Willas machte ein beunruhigtes Gesicht.
„Marco, wir wollen dir nur helfen ...“
Mit offenem Mund beobachtete Hannes die Schatten, Flecken, so groß wie Fliegen, die sich langsam zu einer Form zusammenfanden.
„Das ist faszinierend, Marco“, stammelte er, eher erregt als verängstigt. „Wir können dir die Gelegenheit geben, etwas Großes aus dieser tollen Gabe zu machen. Etwas Bedeutendes. Du kannst in die Geschichte eingreifen, Junge.“
Das Schattenwesen an der Wand wuchs. Es war ein unförmiger Klumpen, um den herum schlabberige Tentakel oder auch Schlangen wuselten. Am oberen Ende öffnete sich ein Mund zu einem stummen Schrei. Es plärrte in der Stille wie das Neugeborene, das es war.
„Lass es wieder verschwinden, Marco“, flehte Manfred Willas mit zitternder Stimme. „Ich weiß, du willst nicht, dass es mir wieder weh tut. Ich weiß, dass das damals nur ein Unfall war ...“
Hannes zog eine Pistole unter seinem Sakko hervor.
„Lass es verschwinden, Kleiner. Ich hab’ dir jetzt genug den Speichel geleckt. Wir geben dir die Gelegenheit, der Freiheit einen Dienst zu erweisen, aber wenn du zur Gefahr wirst, werde ich nicht zögern, dich auszuschalten. Also-“
Zuerst dachte ich, er habe die Waffe fallen lassen, weil er plötzlich einen Krampf bekommen hat. So sah auch sein Gesicht aus, das er zu einer Grimasse des Schmerzes verzerrt hatte. Dann sah ich, dass das Wesen, das nur seinem Schatten nach existierte, eines seiner Tentakel um Hannes’ Waffenarm geschlungen hatte. Hätte, wenn es dagewesen wäre. Hatte, weil es da war ... wenn auch nur real genug, um Hannes’ Arm zu brechen. Der Knochen schnitt spitz durch den Stoff seines Sakkoärmels. Hannes schrie mit hoher Stimme und steigerte sich noch um eine Oktave, als er begann, zu fliegen. Im Schatten hatte das Wesen eines seiner Tentakel um Hannes’ Becken geschlungen und hievte ihn in die Höhe. Eine lange Zunge, scheinbar von Eigenleben erfüllt genau wie die Tentakel, leckte Hannes offene Wunde. Ich sah, wie der schmutzig rote Knochen sich selbst zu reinigen schien und kurz in strahlendem weiß leuchtete, bevor neues Blut darüber lief.
Ich riss Bernd an seinen Haaren auf die Beine. Sein Mund stand offen und seine Körperhaltung verriet mir, dass er die Kontrolle über Körper und Geist erst zu etwa sechzig Prozent wiedererlangt hatte. Ich packte ihn am Arm und zog ihn in Richtung Haustür.
Als ich mich umdrehte, sah Marco mich an. Er war ein Kind. Er schuf Monster, er war ein Mörder, aber in seinen Augen sah ich seine Verzweifelung. Er hatte sich seine furchtbare Begabung so wenig ausgesucht wie seine Haarfarbe.
„Komm schon“, rief ich. „Komm mit.“
Sein Vater versuchte kurz, ihn zu halten, wurde aber von einem der Tentakel an die Wand gepresst.
Er schrie den Namen seines Sohnes hinter uns her, erst wütend, dann flehend.
Marco half mir, Bernd zu stützen. Wir hörten Schreie, Schüsse, und schließlich nur noch Schreie. Endlich, als alle im Auto saßen, konnten wir die Türen zuschlagen und die Welt draußen mit ihren furchtbaren Geräuschen zurücklassen.
Auf der Rückbank kam Bernd langsam zu sich. Als er sprach, klang es, als wäre er gerade vom Zahnarzt gekommen und die Betäubung noch nicht ganz abgeklungen.
„Und was machen wir jetzt, Clark Kent?“
Ich fand seine vorwurfsvollen Augen im Rückspiegel. Ich hatte keine Antwort.
„Was da drin passiert ist“, sagte er. „Sie werden sagen, wir hätten das getan.“
„Ja“, sagte ich. Kein sehr konstruktiver Kommentar, aber was hätte ich schon sagen sollen?
„Was machen wir also?“, fragte Bernd.
Ich wusste es nicht. Im Beifahrersitz fing Marco Willas an zu weinen. Er konnte Monster erschaffen, aber er wusste es auch nicht.