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Schein

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16.03.2015
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Anmerkungen zum Text

Veröffentlicht in der Anthologie:
6. Bubenreuther Literaturwettbewerb

Schein

Elvira zupfte an meiner Krawatte und wischte eine imaginäre Fluse vom Jackett.
„Ich habe dir Brote mit Schinken und Gürkchen gemacht“, sagte sie, reichte mir die Aktentasche und küsste mich auf die Wange. „Schönen Tag, Schatz.“
„Danke, dir auch“, antwortete ich lächelnd und trat durch die Tür, die Elvira mir aufhielt.
Draußen schaute ich zum Fenster, winkte meiner Frau zu und ging weiter Richtung Bushaltestelle. Als ich außer Sichtweite war, verharrte ich und atmete aus.

Zu dieser Stunde war in der SB-Bäckerei nicht viel los. Der Kaffee war heiß und günstig – es gab sogar einen Keks dazu –, und das WLAN kostenlos. Ich nippte an der Tasse, während das Notebook hochfuhr. Die Internetseiten hatte ich als Favoriten angelegt. Ich scrollte mich durch, machte mir Notizen und trank zwei weitere Kaffees.

Am Kiosk verlangte ich die Börsen-Zeitung, die Frankfurter und das Handelsblatt und steckte sie so in das Seitenfach der Aktentasche, dass die Titel herauslugten. Ich nahm den Bus, biss einmal ins Brot, stieg am Hauptbahnhof aus und warf die Brote in den Mülleimer.

Mehrmals schaute ich mich um, bevor ich das Pfandhaus betrat. Eintausendfünfhundert Euro gab mir der Mann hinter der Scheibe. Mehr wäre für die goldene Uhr meines Großvaters nicht drin. Reichen würde es für Elviras neuen Nerz zum Geburtstag nicht und viele Erbstücke besaß ich nicht mehr.

Das südliche Westend erreichte ich zu Fuß. Ich blickte auf die Hochhäuser. Weiter hinten befand sich der Glaskasten. Drei Monate war es her. Näher als hierhin hatte ich es seitdem nicht mehr geschafft.
Auf einer freien Bank nahm ich Platz, studierte die Zeitungen und machte mir wieder Notizen.

Der Eintopf in der frei zugänglichen Kantine des Bankhauses schmeckte mir nicht. Aber ich schnappte ein paar interessante Gesprächsfetzen an den Nebentischen auf. Unterhaltungen über Geld und ähnliches zu sanfter Musik aus den Lautsprechern und dem Geruch von Gemüse, Fett und verschwitzten Oberhemden.
Das Dessert holte ich mir später, damit ich am anderen Tisch wichtigen Leuten lauschen konnte.
Egal, ob satt oder nicht, wiederholte ich das Ganze in einer anderen Kantine und an zwei Würstchenbuden, von denen ich wusste, dass die Anzugträger sie aufsuchten.

Den Rest des Tages fuhr ich die Aufzüge rauf und runter, gesellte mich zu den Leuten in den Raucherbereichen vor den Gebäuden, hörte da zu, lauschte dorthin, hielt Augen und Ohren offen, saugte alles in mich auf, verarbeitete es, nahm an den Debatten der Anzugträger teil, indem ich zustimmend nickte oder bloß ein paar gescheite Worte an passenden Stellen beitrug, las die Ticker in den Foyers der Finanzinstitute und auf meinem Handy, führte Smalltalk mit Leuten, die irgendwie dazugehörten.

Es war gegen siebzehn Uhr, als ich heimkam.
„Na, wie war es heute? Harter Tag?“, fragte Elvira.
Ich nickte und wusste nicht, ob sie mich bemitleiden oder ohrfeigen würde.
Sie nahm mir Aktentasche und Jackett ab und ging ins Wohnzimmer vor, wo mich mein Cousin Josef auf der Chaiselongue sitzend erwartete.
Josef hatte sich angekündigt. Er wollte sein Gespartes investieren, einen mittleren fünfstelligen Betrag. Aktien, Optionen oder Neue Märkte, was jetzt halt so angeboten würde.
Er gierte nach den Tipps eines Profis, dem er vertrauen konnte, der seit dreißig Jahren tagtäglich weltweit Abermillionen bewegte, Geld vermehrte, Bescheid wusste, dazugehörte.

 

Hi linktofink,

danke für deine Zeit und den hilfreichen Kommentar.

die Fluse, der Fussel?
Ist nun auf "Fusel" geändert.

GoMusic schrieb:
Als ich außer Sichtweite war, verharrte ich und atmete aus.

Das finde ich merkwürdig, denn es klingt so, als wäre der Schein eine Anstrengung und nicht eine Art unauffällige Mimikry, als die ich sein Verhalten im ganzen Rest vom Text lese.
Es ist schon eine Anstrengung für ihn. Zumindest morgens muss er sich zusammenreißen, um den Tag zu überstehen

Muss das Komma nicht hinter den Gedankenstrich?
Ich glaube, du hast Recht. Habe ich angepasst.

GoMusic schrieb:
Weiter hinten befand sich der scheiß Glaskasten

wäre an der Stelle der beschissene nicht korrekt?
Schriftlich gesehen wohl ja. "scheiß" ist eher umgangssprachlich. Habe es nun aber ganz rausgenommen. War mir zu viel Emotionen ;)


GoMusic schrieb:
Unterhaltungen über Geld und ähnliches zu sanfter Musik

Ähnliches, dank Rechtschreibreform.
Dann wäre es "Geld und Ähnliches" und das sieht in meinen Augen falsch aus, da es ja eine Aufzählung ist(?). Bin nicht ganz sicher, vielleicht gibt es dazu ja noch eine weitere Meinung.

Mir wird im ganzen Text nicht klar: Wofür betreibt er diesen enormen Aufwand? Was ist sein Ziel? Will er sich nur weiter dazugehörig fühlen? Macht er sich selbst was vor?
Er macht sich selbst und seiner Frau und allen anderen was vor.

GoMusic schrieb:
Ich nickte und wusste nicht, ob sie mich bemitleiden oder ohrfeigen würde.

Glaube ich beides nicht, denn dafür müsste sie es erst mal wissen und der Prota macht nicht den Eindruck, als würde er genau das befürchten.
Aber ... irgendwann muss es doch schließlich rauskommen. Sei es, dass seine Frau mal seine Post aufmacht, Kontoauszüge in den Händen bekommt, (Renten-)Unterlagen sieht o.ä.
Das sind Gedanken, die er sich macht und wo er im Augenblick echt nicht weiß, sie sie reagieren würde (Wut, Trauer, Mitleid, Hass ...).

GoMusic schrieb:
Er gierte nach den Tipps eines Profis, dem er vertrauen konnte, der seit dreißig Jahren tagtäglich weltweit Abermillionen bewegte, Geld vermehrte, Bescheid wusste, dazugehörte.

Schon klar, es geht um Identität, um Status, um Selbstdefinition.
Mir fehlt ein Bruch. Du spielst reichlich mit Klischees, lässt beide ihren Rollen quasi als Selbstläufer folgen, doch es gelingt mir kein Blick hinter die Fassade und in der gewollten (fast beliebigen) Deutungsoffenheit verschenkst du auch die Chance, emotional zu berühren.
Verstehe, was du meinst. Emotionen kommen kaum rüber, er ist eher wie ein Roboter, so wie es Bas unten sagt. Und so sollte er im Grunde auch rüberkommen, als ich die Geschichte schrieb.

Mir fehlt dieser eine Moment, wo in der Truman Show der Scheinwerfer von der Decke knallt und das Ganze einen Riss bekommt. Und erst da beginne ich mitzufühlen. Deine Geschichte verharrt im Schein des perfekten Leben davor.
Vielleicht fällt mir diese Wendung, dieser spezielle Moment noch ein. Dann hätte die Geschichte womöglich ein anderes Ende, eine andere Absicht, die ich momentan nicht vorgesehen habe. Bei anderen Lesern kommt die Geschichte ja auch so gut an, wie sie augenblicklich aussieht.
Ich grüble drüber nach.

Danke für die Anregungen.

Hallo pantoholli,

danke für die Rückmeldung.

Ich bin ja immer offen für neue Wege und Experimente und probiere ja selber auch immer aus - da rennst Du bei mir offene Türen ein :)
Prima ;)

Aber das Ende ist leider, so wie es ist, auch nur so runtererzählt:
Hm, ich schwanke da hin und her, bin noch immer unsicher.

Wenn dieses Beratungsgespräch gezeigt werden würde - dann hast Du meiner Ansicht nach das "Show" im häuslichen Kontakt mit Verwandten und das "tell" im eintönigen verhassten Alltag. Dann hätte ich als Leser die spannende Aufgabe, seine harmonievollen Gespräche mit dem hasserfülltem Alttag zu verbinden und müsste entscheiden, was davon gelogen ist ;) Ich denke, das könnte funktionieren :)
Die Idee ist natürlich sehr gut. Ich glaube, ich muss das noch einige Zeit sacken lassen. Schwanke da momentan zwischen null Emotionen zeigen ("Roboter" à la Bas, siehe unten) und (zumindest am Ende) seine Gefühle, Seele, seinen Hintergrund zeigen.
Tue mich da im Augenblick echt schwer.

Vielen Dank für deine Worte.


Hallo @Bas

vorab vielen Dank für deinen Kommentar.
Ich komme später darauf zurück. Vielleicht habe ich bald eine Idee für eine Anpassung oder es bliebt alles so
Es ist schon fast so, dass ich am liebsten zwei Versionen hätte. Den gefühllosen Gescheiterten, der allen was vormacht und nur einer von vielen ist und den Mann, der gescheitert ist, damit nicht zurechtkommt, was dagegen tun will und Gefühle zeigt.

Wünsche euch einen tollen Tag.
Liebe Grüße,
GoMusic

 

Hallo @GoMusic ,

gerade lese ich deine Überlegungen zu zwei Versionen. Da kann ich dich nur bestärken. Es gibt eine die Leserschaft und dazu zähle ich mich hier mit, die gerade das Lakonische, Gefühlsarme, Roboterhafte des Protas spannend findet. Die andere Kundschaft möchte Gefühlsdrama Richtung Beziehungskiste und ein wenig Gesellschaftskriitik, wo sie andocken kann. Beides ist natürlich legitim. Vielleicht hängt es auch davon ab, in welchen Medien die Geschichte kommuniziert wird. Wenn ich mir ein Zuhörerschaft vorstelle, dann sehe ich bei der ersten Version am Ende lauter Fragezeichen auf den Stühlen sitzen. Wenn das keine super Ausgangslage für eine tolle Diskussion ist, dann weiß ich nicht !
In meinem „Erzählcafe“ habe ich solche Situationen schon erlebt.

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Hi Bas,

danke für deinen Besuch.

ich habe deine Geschichte gerne gelesen.
Freut mich sehr.

Irgendwie hast du die ganze Thematik wunderbar runtergebrochen und auf gefühlt jeden Schnörkel verzichtet, der mich hätte "verzaubern" können. Fast steril fühlt sich das an, ein "Unmissverständlich"-Tag wäre hier vielleicht angebracht.
Ja, steril. So meine Intention.

ein toller Titel übrigens, wie ich finde, auch wegen der Doppeldeutigkeit (Geldschein)
Schön, dass du das ansprichst. War genau so gewollt :)

Der scheiß Glastkasten ist mir da fast zu viel, da wird der Protagonist wertend, was er ansonsten nicht ist.
Ja, fällt schon arg auf.
Ich habe mich entschieden, diese Wertung rauszunehmen. Setze voll auf die "sterile" Version.
Siehe dazu auch unten Antwort an @wieselmaus

Alles geschieht und er lässt es geschehen, als wäre er unfähig, etwas an der Situation zu ändern. Nicht mal am Ende, als der Cousin auf der Couch sitzt und sich von ihm Tipps einholen will, kriegt man mal einen reflektierten Gedanken zu lesen, erwarten würde ich da so etwas wie: "Wenn der wüsste, was ich für ein Versager bin ...", aber nee, da kommt nichts, er bleibt seiner Rolle treu, hält die Fassade aufrecht. Belügt sich selbst und merkt das womöglich gar nicht.
Richtig. Er hält die Fassade aufrecht, bemerkt es selbst nicht (richtig). Irgendwie ist er wirklich unfähig, etwas zu ändern.

Sie verlangt dem Leser einen gewissen Willen zur (Über-)Interpretation ab, ansonsten könnte es auch schnell mal wie eine echt unmotivierte, austauschbare Skizze wirken.
Ja, man macht sich Gedanken. Finde ich gut.
Unmotiviert natürlich nicht. Dafür war es viel zu schwierig. eine solche Version hinzubekommen. ;)
Ist ja quasi das Gegenteil zu meiner Geschichte "Der Zuhörer".

Vielen Dank dafür, hat Spaß gemacht, auch, weil es kurzweilig und sprachlich passend gestaltet ist.
Danke auch dafür.
Habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut.


Liebe Wieselmaus,

danke für deine erneute Rückmeldung.

gerade lese ich deine Überlegungen zu zwei Versionen. Da kann ich dich nur bestärken. Es gibt eine die Leserschaft und dazu zähle ich mich hier mit, die gerade das Lakonische, Gefühlsarme, Roboterhafte des Protas spannend findet. Die andere Kundschaft möchte Gefühlsdrama Richtung Beziehungskiste und ein wenig Gesellschaftskriitik, wo sie andocken kann.
Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht, wie die Geschichte hier aussehen, bzw. wie sie wirken soll.
Hier möchte ich die "lakonische, gefühlsarme" Version mit dem "Roboterhaften" beibehalten.
Eine zweite Version kann noch immer für mich schreiben (zwei Versionen einer Geschichte sind hier ja nicht "erlaubt" - soll jetzt kein Vorwurf sein.)
Was ich hier bei den WK machen könnte, wäre zum Beispiel die Geschichte aus Sicht der Ehefrau. Vielleicht ist sie dem Prota an dem geschilderten Tag ja heimlich gefolgt :)
In meinen Kopf sprudelt es schon.

Wenn ich mir ein Zuhörerschaft vorstelle, dann sehe ich bei der ersten Version am Ende lauter Fragezeichen auf den Stühlen sitzen. Wenn das keine super Ausgangslage für eine tolle Diskussion ist, dann weiß ich nicht !
In meinem „Erzählcafe“ habe ich solche Situationen schon erlebt.
Genau! Ich bin auch regelmäßig in solch einer diskussionsfreudigen, nachdenklichen Runde und bin gespannt, welche Diskussionen, Fragen etc. dort aufkommen werden. Hier bei den Wortkriegern wurde das ja vorgelebt, und es hat Spaß gemacht.

Bin auch deiner Idee gefolgt, die Geschichte in Flash Fantasy zu ändern. Das passt sicher sehr gut.

Danke dir.

Wünsche euch einen schönen Tag.
Liebe Grüße, GoMusic

 

Mehrmals schaute ich mich um, bevor ich das Pfandhaus betrat. Eintausendfünfhundert Euro gab mir der Mann hinter der Scheibe. Mehr wäre für die goldene Uhr meines Großvaters nicht drin. Reichen würde es für Elviras neuen Nerz zum Geburtstag nicht und viele Erbstücke besaß ich nicht mehr.

Schein
Schöner Titel und ,

GoMusic,

in aller Mehrdeutigkeit des Scheins und Seins einer Personalisierung weltweiter Probleme fortgeschrittener Industriestaaten.

Aber toben sich nicht seit den 1990ern auch im Finanzunwesen „Pyramiden- (ehemals „Schneeball-)systeme“, die Gewinne ungeahnten Ausmaßes versprechen, die dem Opfer Scheinselbständigkeit vorgaukeln und zugleich im persönlichen Umfeld des eigentlichen Opfers Versicherungen und andere Finanzanlagen andrehen?

Oder ist der Antiheld ein Vorgriff auf unser aller Zukunft, wie sie sich bereits Anfang unseres schönen Jahrtausends im clash der Kulturen in Nordafrika und der Levante im Überschuss an arbeitslosen jungen Leuten zeigte, der uns ganz langsam mit der Digatalisierung heimsuchen wird - auch ohne Geburtenrekorde.

Auch in der Finanzwelt ist der Algorithmus schneller ...

Nun gut, wir begleiten eine arme Seele einen kurzen Weg an einem vielleicht typischen Tag –
doch wie lange kann der Schein gewahrt bleiben, bis der Nerz dran glauben muss? Wie lange, bis die Suppenküche mit dem Gesicht des Helden im Netz auftaucht? Sind denn in Suppenküchen smarte Phones verboten?

Bald gibt es keine Geheimnisse mehr auf der Welt ...

Friedel

 

Lieber @Friedrichard

danke für deinen Besuch. Schön, dass dir Titel sowie der (vermute ich mal) Inhalt gefallen haben ;)
Natürlich freue ich mich auch, dass - wie es aussieht - wohl alle Fussel schon entfernt waren, als du eingetreten bist. Kommt ja sonst nicht vor :lol:

Liebe @wieselmaus

huch, was habe ich denn da geschrieben? :rotfl:

Danke für eure Kommentare. Schönen Abend noch und
liebe Grüße, GoMusic

 

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