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Scheuklappen
MITTWOCH
6.11 Uhr
Der Wecker ist wieder kaputt, aber ich werde trotzdem rechtzeitig von dem lauten Geschrei meiner Eltern geweckt.
7.32 Uhr
Ich bin ausgehbereit.
Meine Eltern streiten immer noch.
Ich knalle beim Verlassen der Wohnung laut mit der Tür, um mein Missfallen
auszudrücken.
8.00 Uhr
Ich komme pünktlich an und setze mich auf die Bank.
Sie ist wie üblich leer.
Der Geruch frischer Brötchen steigt mir wie jeden Morgen in die Nase.
8.06 Uhr
Das immer streitende Pärchen, heute mit geringfügiger Verspätung.
Es erinnert mich an meine Eltern.
Das lässt mich noch mehr in Trübsal versinken.
8.22 Uhr
Ein junges Mädchen läuft hektisch an mir vorbei.
Ich erkenne es von weitem,
und suche sein Gesicht nach blauen Flecken ab.
Es sind wieder neue hinzugekommen.
Es tut mir leid.
8.37 Uhr
Die junge Kleinfamilie. Es fehlt ein Vater.
Mutter geht zum Bäcker und lässt die 3 Kinder
in der Kälte stehen.
Unter ihnen das Mädchen, das nie lächelt.
8.45 Uhr
Kurzer Rock, Stöckelschuhe, übertriebenes Make-Up.
Wahrscheinlich das oberflächlichste Weibsbild auf der Welt.
Hochnäsig stolziert es an mir vorbei, mich keines Blickes würdigend.
9.00 Uhr
Pünktlich auf die Sekunde:
Der Verrückte, dessen Gesicht ich noch nie gesehen habe, da sein Basecap
es fast gänzlich verdeckt.
Er liest meistens irgendwelche Bücher über Mord und Todschlag.
Im Vorbeigehen mustert er mich gründlich.
Das macht mir Angst.
9.14 Uhr
Die halb verhungerte Katze schleicht fast unmerkbar zwischen meine
Beine hindurch auf ihren Lieblingsplatz unter der Birke.
Wie immer.
Alles genauso trostlos und grau wie immer...
DONNERSTAG
8.03 Uhr
Bis zu diesem Augenblick ist alles wie immer, doch dann ...
Ich setze mich nichtsahnend auf die Bank, als ich plötzlich eine Stimme vernehme:
"Sitzt Du etwa jeden Morgen hier?"
Bin ich gemeint? Zögernd drehe ich meinen Kopf zur Seite und erblicke einen Jungen. Sein arroganter Gesichtsausdruck gefällt mir nicht. Wie ein unwissendes Kind sieht er mich von oben herab an. Ich antworte nicht. Er wird ungeduldig.
"Bist Du stumm, Kleine?", fragt er.
Als er merkt, dass ich nicht vor habe, auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln,
gibt er scheinbar auf und richtet seinen Blick wieder stur nach vorn. Doch ich habe mich geirrt: Bei der nächstbesten Gelegenheit greift er sich das Notizbuch, welches in meinem Schoß liegt. Und zu allem Überfluss zitiert er auch noch lauthals den Eintrag vom Vortag:
"8.06 Uhr- Das immer streitende Pärchen? So schreibt man doch nicht ins Tagebuch!"
Dann schaut er neugierig auf und entdeckt das Paar, welches sich gerade um die Einkäufe streitet. Schließlich wendet er sich mit Triumph in den Augen wieder an mich.
"Ach, Mädchen ... Du siehst nur das, was Du sehen willst!", bemerkt er und zeigt die Straße hinunter auf die zwei jungen Menschen. Diese liegen sich wieder in den Armen und sind wie frisch verliebt.
"Das geht jeden Morgen so, aber wenn man die Welt wie Du mit Scheuklappen betrachtet ...", fügt er grinsend hinzu.
"Das mach´ ich gar nicht!", wehre ich mich lauthals. Er scheint verblüfft.
"Was denn?", frage ich wütend.
Am liebsten würde ich in sein selbstgefälliges Gesicht...
"Ich wusste nicht, dass so ein mickriges Ding so laut sein kann!", prustet er, sich vor Lachen krümmend. Wie kann er es sich erlauben, sich ein Urteil über mich zu bilden?
"Das reicht!", schreie ich, "Gib das her, Du ...", und greife nach meinem Notizbuch.
"Na, na! Nicht ausfallend werden", gluckst er vergnügt. Ich kratze und beiße - aber vergeblich. Er liest schon begierig den nächsten Eintrag.
"8.22 Uhr- Ein junges ..."
Bald kommt auch das blessierte Mädchen vorbeigerannt, und wieder sieht mich der Junge besserwisserisch an.
"Sieh mal in ihren Rucksack.", flüstert er mir zu.
Verwirrt schaue ich das Mädchen an. Es rennt an uns vorbei, als hätte es ein Gespenst gesehen. Wahrscheinlich denkt es, ich bin verrückt, bei dem Theater, welches ich veranstalte. Wie peinlich, aber daran ist nur dieser Kerl schuld! Als das Mädchen an uns vorbeiläuft, kann ich einen Blick in ihre Tasche riskieren. Und da sehe ich es. Wieder hat mir der Junge gezeigt, dass ich mich geirrt habe, denn in ihrer Tasche liegen zwei dunkle Boxhandschuhe. Röte schießt mir ins Gesicht, aber ich tue ihm nicht den Gefallen, es ihm zu zeigen.
"Sie kommt schon wieder zu spät.", sagt er noch lächelnd. Der nächste Eintrag folgt. Die junge Familie auch. Aber diesmal scheine ich Recht zu behalten, selbst sein himmelblauer Hoppelhäschenluftballon kann das Mädchen, welches nie lächelt, nicht zu einem Lächeln bringen. Zu allem Übel fliegt er ihr sogar noch aus ihrem kleinen Händchen und bleibt in der Krone eines Baumes über meiner Bank stecken. Sofort fängt es an zu weinen. Ohne zu zögern, und zu meiner Überraschung, springt der Junge neben mir auf und greift sich den Ballon. Anstatt ihn jedoch dem Kind zurück zu geben, hält er ihn mir vor das Gesicht.
"Gib Du ihn ihr."
Das Mädchen steht schon vor mir, wischt sich die Tränen aus den Augen und bedankt sich mit einem strahlenden Lächeln. Geplättet lasse ich mich zurück auf die Bank fallen.
"Das Mädchen, das nie lächelt ... hat mich gerade ... angelächelt!"
Der Junge verzichtet diesmal zur Abwechslung auf einen Kommentar,
vertieft sich stattdessen unauffällig lächelnd in seine Lektüre.
"Dieses „Weibsbild“, wie Du es so nett nennst, ist auch nicht so oberflächlich, wie Du denkst."
Ich habe gedacht, dass er mir wenigstens bei dieser arroganten Göre zustimmt.
"Und woher willst Du das schon wieder wissen?", frage ich gereizt.
"Sie ist meine Schwester und kenne sie etwas besser als du. Nur weil sie auf ihr Äußeres Wert legt, musst du ihr nicht gleich einen Stempel aufdrücken."
"Oh!" Ich werde wieder rot. Scheinbar trete ich heute in ein Fettnäpfchen nach dem anderen.
"Aber wie konntest Du die ganzen anderen Sachen wissen?", will ich vom Thema ablenken.
"Das ist keine Magie, Kleines. Du sitzt hier Tag für Tag in deinen schwarzen Klamotten, umgibst dich mit einer Art dunklem Nebel und siehst nur Schlechtes um dich herum. Die Geschichte mit den Scheuklappen eben."
"Du siehst die Welt einfach nur durch eine rosarote Brille!", versuche ich mich zu verteidigen. Der Junge schüttelt nur den Kopf.
"Du schätzt mich falsch ein. Ich weiß, dass es genug Schlechtes auf der Welt gibt: Jugendliche, die es als Mutprobe ansehen, einen Menschen zu töten; Eltern, die ihre Kinder misshandeln ..."
Einen Moment lang hält er inne, sein arrogantes Grinsen ist aus seinem Gesicht gewichen.
"Und deswegen solltest Du nicht auch noch die einzigen guten Dinge auf der Welt schlecht reden."
Bei diesen Worten breitet sich ein unangenehmes Gefühl in meiner Magengegend aus, aber ich lasse mir nichts anmerken, errichte eine imaginäre Mauer um mich herum, die alles von mir abprallen lässt. Ich mustere den Jungen unauffällig von der Seite. Er kommt mir bekannt vor ... Sehr bekannt sogar! Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Schnell versuche ich, ihm das Buch wieder zu entreißen. Doch er ist wieder schneller als ich und schafft es gerade noch so, den nächsten Eintrag zu lesen.
"Der Verrückte?", schreit er empört auf, "Du nennst mich verrückt?"
Diesmal bin ich diejenige, die sich vor Lachen nicht mehr halten kann, er allerdings kann wohl nichts lustiges an der Situation finden. Ruckartig steht er auf und setzt sich sein Basecap auf, zieht es wie immer tief in sein Gesicht.
"Der Verrückte muss jetzt zur Uni.", sagt er und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
"Ich verspäte mich nie.", fügt er noch stolz hinzu. Ja, das habe ich schon bemerkt...
"Du bist wohl einer der ganz korrekten, wie?" Ich finde langsam Gefallen daran, den Jungen zu ärgern.
"Ich brauche eben einen geregelten Tagesablauf.", bemerkt er beiläufig,
seine Mütze zurecht rückend.
"Aber Du solltest noch eines wissen ..."
"Ja?", frage ich neugierig.
"Wenn Du so viel Schlechtes auf der Welt siehst,
solltest Du nicht einfach nur rumsitzen und dich darüber ärgern, sondern gefälligst etwas dagegen tun."
Sogleich nimmt er das kleine hungernde Kätzchen, welches wieder unter die alte Birke kriechen wollte, und setzt es mir auf den Schoß. Das sagt er mit solch einer Ernsthaftigkeit, dass er mir fast schon wieder Angst macht. Selbstzufrieden geht er die Straße in Richtung Universität entlang, dreht sich aber auf halber Strecke noch einmal um und ruft mir etwas hinterher:
"Und grüße deine Schwester von mir! Na ja, man sieht sich!"
Ein seltsamer Mensch, denke ich. Und meine Schwester kennt so einen ... Kerl? Ich werde sie bei Zeiten mal ganz unbefangen nach ihm fragen, wieso er solch seltsamen Bücher liest, geregelte Tagesabläufe braucht und woher er alles Schlechte auf der Welt kennt. Alles Schlechte ...
Inzwischen hat sich das Kätzchen in meinen Schoß gekuschelt und schnurrt genüsslich.
FREITAG
6.24 Uhr
Ich werde von Lonelys lautem Schnurren geweckt.
Lautlos öffne ich das Fenster und lasse sie auf die Terasse.
Lange schaue ich ihr nach. Meine Freundin. Die Sonne geht auf.
7.38 Uhr
Bevor meine Eltern anfangen können zu streiten, verlasse ich das Haus.
Es wird Sommer. Auf dem Weg zum Park sehe ich die Universität.
Eigentlich könnte ich mal wieder zur Schule gehen.
7.45 Uhr
Ich gehe an meiner Bank vorbei.
Als ich mich nochmal umdrehe, sehe ich ein Mädchen, welches sich etwas zaghaft auf meinen Platz auf der Bank setzt.
Es hat ein Notizbuch in der Hand.