Schlaf
Ein neuer Friseursalon hatte eröffnet.
Seit Monaten fuhr er diese Strecke und noch nie war ihm dieser Laden aufgefallen.
Er konnte sich erinnern, das damals als alles noch in Ordnung war, war dort ein Schuhladen.
Er lehnte seine Stirn wieder gegen die Scheibe des Busses und schloss die Augen.
Ihm gegenüber nahm jemand Platz.
„Maden“
„…“
„Ich weiß, dass Er mich hören kann, also stelle er sich nicht so an.“
„Verpiss Dich“
„Nana, ist dies etwa die Art, einen lange nicht gesehenen Freund zu begrüßen?“
Langsam, widerwillig öffnete er die Augen. Obwohl er wusste, was er zu erwarten hatte, empfand er den Schauer, der ihn durchlief, beinahe als reinigend.
„Na also, Er kann es ja doch. Möchte er nicht mit mir reden. Ich hörte, er war beim Arzt, musste Medikamente nehmen.“
„Mein Leben geht Dich einen Scheiß an, Penner.“
„Ah, immer noch voll der Wut. Er fasziniert mich, weiß er das?“
„…“
Obwohl es draußen nieselte, schlug der ihm gegenübersitzende seine Beine, in perfekt gebügelten, trockenen, etwas altmodisch anmuteten Anzughosen steckend, übereinander. Seinen grauen Anzug hatte er beim Setzen schon geordnet.
„Maden. Ich kann es nur immer wieder betonen. Sieh er sich nur an wie sie umherwuseln, noch nicht einmal Ameisen gleich, einfach nur wie Maden, aus denen nur noch mehr Maden schlüpfen.“
„Ich hab´ dir beim letzten mal schon gesagt, dass ich Deinen Arsch nicht mehr sehen will, also verpiss Dich.“
Langsam begannen die anderen Fahrgäste auf das Gespräch aufmerksam zu werden. Obwohl es noch früh am Morgen war, war doch ein gutes Dutzend anwesend.
„Sieht er, was er von seinem Grölen hat. Kleine Kinder kann er damit erschrecken, aber was will er. Vor beinahe einem Jahr besuchte ich ihn zuletzt und nun treffe ich ihn zufällig im Bus und er ergießt seinen Unflat über mich. Hält er das für gerecht?“
„Vor einem Jahr hast du Sack mich in die Klapse gebracht. Tu´ nicht so scheinheilig. Was willst du und sag´ nicht reden, denn das willst du immer „nur“.“
„Er weiß, was ich von ihm halte. Er weiß, dass ich ihn fördern möchte. Sieh er sich das Vieh um ihn herum an. Wie stumpf sie vor sich hinstarren, alle sicher, dass sie den nächsten Tag erleben. Und warum? Weil sie ihn immer und immer wieder erleben. Sie machen es sich nicht mehr bewusst, welche Gnade es bedeutet, jeden Tag erleben zu dürfen. Er hingegen, er weiß was ein Tag kostet, bedeutet, weiß aus welchem Schmerz ein Tag geboren wird und mit welcher Angst er endet.“
„Sei still. Du erbärmlicher Narr. Deine Ratschläge waren es, die mich alles gekostet haben, Deine stinkenden Einflüsterungen haben mir alles genommen.“
„Nun wird er aber wieder ungerecht. Wer hat denn bereitwillig alles getan. Es fällt ihm ja so leicht, alles auf mich abzuwälzen. Ich gab ihm nur die Richtung, gegangen ist er selbst.“
Die Menschen um ihn herum begannen langsam damit, um ihn herum Platz zu machen.
„Und er kann nicht behaupten, dass es ihm keine Freude gemacht hätte. Sie er nur, wie sie ihm Platz machen. Vergiss er nicht, dass er immer noch ein Raubtier ist. Nur weil sie ihm Medikamente gaben und einsperrten, kann er sein Erbe nicht verleugnen. Kann er es noch?“
„Was soll ich können?“
„Kann er sich noch in den Rausch versetzten? Sieht er noch die Wahrheit. Ich will sie ihm noch einmal zeigen.“
Mit einem Mal schwanden ihm die Sinne.
Hart schlug sein Kopf gegen die Scheibe. Der jähe Schmerz machte ihn wieder klar.
Wie klar die Welt doch war.
Er vermisste ein wenig die Tabletten, er hatte die letzten vor ein paar Tagen verbraucht und versäumt, sich neue zu besorgen, denn sie hätten das Pochen in seinem Schädel beseitigt. Ohne dieses Pochen wäre es vielleicht sogar erträglich.
Aber so.
„Ich kann es in seinem Blick sehen, er erinnert sich. Nun, weiß er wieder wer er ist.“
„Ich hab Dir Sack doch gesackt, du sollt mich für immer in Ruhe lassen.“
Speichel spritzte gegen die Scheibe und ein paar Leute zogen ihre Handys und begannen, eine dreistellige Nummer zu wählen.
„Ich werde die nächste aussteigen, will er mich begleiten?“
„…“
„Ich bin mir sicher, dass er will. Ich sehe, dass er sich erinnert. Er ist ein Raubtier.“
„NEIN“
Die Schmerzen wuchsen, die Erinnerung war wieder da. All die Bilder kehrten in seinen Kopf zurück. Das Pochen war zu einem anhaltenden Ziehen geworden, das den Anschein erweckte, sein Schädel verforme sich.
„NEIN“
Abgetrennte Gliedmaßen wirbelten wie Geister vor seinen Augen, der Geschmack von Blut in seinem Mund war süß, angsterfüllte, dann brechende Augen bohrten sich in die seinen, lauter und lauter wurde die Kakophonie der Schreie, schneller und schneller der Reigen der Bilder, ein rasender Taumel aus Rottönen, sich auflösend und nur noch Schmerzen bringend, obwohl die Lieder fest zugepresst, verschwanden die Bilder nicht.
Ein Ort der Stille.
Eine Hand streckte sich ihm entgegen. Der Arm steckte in einem grauen Gehrock, hing an einer ihm so verhassten, aber doch Erlösung bringenden Gestalt.
„NEIN“
Mit einem letzten Aufbäumen versuchte er dem Schmerz alleine Herr zu werden.
Dann ergab er sich.
Nahm die Hand.
„Ich werde die nächste aussteigen, will er mich begleiten?“
Als er die Augen aufschlug, war das Vieh näher herangekommen, sprach in seltsame kleine Kästchen. Doch sein Blick brachte es zum zurückweichen.
„Weißt Du, alter Mann, an sich hab ich dich vermisst.“
„Zu gütig von ihm“
Der Wiederwachte streckte sich. Es tat gut den hängenden Kopf wieder zu erheben.
Als der Bus langsamer wurde, begab er sich mit dem federnden Schritt eines Jägers zur Tür. Noch hatte er keinen Hunger, doch schon stach ihm der Geruch von Beute in die Nase. Dort ein junges Muttertier, dort ein altes, schwaches Vieh.
Beute.
Die frische Luft enthielt ein weiteres Samelsorium von Gerüchen. Ein Lächeln umspielte seine Zähne und ein Knurren drang aus seiner Kehle und obwohl er aussah wie ein Mensch, solange er nicht jagte, wich das Vieh doch zurück.
„Danke, alter Mann, dass Du mich geweckt hast.“
„Es war mir eine Freude. Wir werden uns wieder sehen, wenn er mich wieder braucht. Au revoir.“
„Bis zum nächsten Mal, alter Mann, ich sag den Anderen, dass ich wieder da bin. Wird Zeit.“
Hatte das Vieh es tatsächlich geschafft, ihn zum schlafen zu bringen. Aber er wurde geweckt.
Er wusste , dass er sich auf den alten Mann verlassen konnte.
Er wusste, dass er sich auf die Stimme in seinem Kopf verlassen konnte.