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Schlangentanz
Johannes hasste Harry Potter. Einerseits, weil er den Jungen mit der Narbe auf der Stirn einfach nicht leiden konnte, andererseits, weil die Zauberschule Hogwarts nichts weiter als eine Erfindung war, ein Märchen, nichts weitere als Fiktion. Er beneidete den Jungen mit der Narbe. Johannes selbst hatte auch seine Eltern verloren, seine Großeltern aber, bei denen er bis vor kurzem noch lebte, hatten ihn wie ihren eigenen Sohn behandelt. In der Hinsicht hatte er es besser als der Zauberjunge aus dem Roman. Sein Großvater starb vor einem Jahr und seine Großmutter wurde nach dem Tod immer schwächer, bis sie schließlich nicht mehr alleine auskam und ins Altersheim ging. Johannes hatte sie anfangs jeden Tag besucht, doch irgendwann konnte sich seine Oma nicht mehr an ihn erinnern – Alzheimer – und für Johannes viel es immer schwerer sie zu sehen. Nicht einmal er konnte etwas gegen ihre Krankheit tun. Sein letzter Besuch bei ihr ist fast drei Wochen her.
Seine Eltern verloren zu haben ist nicht das einzige, was Johannes und der Junge mit der Narbe gemeinsam hatten. Es war zwei Jahre nach dem Tod seiner Eltern, als der damals sechsjährige Johannes ein Bild von einem Fakir sah, der durch bloßes Flötenspiel eine Schlange in einer Vase herauskommen und tanzen lies. Der kleine Junge war so begeistert von dem Anblick, dass er gleich die Lieblingsblumen seiner Oma aus der seit Generationen vererbten Porzellanvase nahm, ein kleines Seil stattdessen hineinlegte und die alte Flöte seines Opas hervorholte, die sich im Laufe der nächsten Jahre in der Zeit verlieren sollte. Johannes fing an zu spielen; sein Opa hatte ihm einige Griffe gezeigt, so dass der Junge eine zwar nicht sehr saubere, dafür aber erkennbare Melodie herausbrachte. Erst geschah nichts, und der junge Flötenspieler wollte schon aufgeben, als plötzlich das Ende des Seils aus der Vase hervor lugte. Begeistert (und sich kein bisschen wundernd) spielte Johannes fröhlich weiter, bis fast das komplette Seil aus der Vase hervorstand und sich – wie die Schlange auf dem Bild – im Rhythmus der Musik bewegte. In dem Moment kam seine Großmutter in das Zimmer rein, ließ erst die Tasche mit den grade gekauften Lebensmitteln fallen, ehe sie selbst vor Schock und mit einem dumpfen Knall neben der Tasche zu Boden ging.
Seile in Vasen tanzen lassen, war nicht das einzige, was Johannes seit diesem Tag hervorzauberte. Er konnte durch seine Gedanken bestimmen, wie die Würfel bei einer Partie Mensch-Ärger-Dich-Nicht fielen, weshalb immer weniger seiner Freunde mit ihm zusammen spielen wollten. Bei einem Test konnte Johannes seinen Bleistift so manipulieren, dass er das Kreuz in das richtige Feld machte. Überhaupt gelang es dem kleinen Jungen, immer mehr Sachen nach seinem Willen zu beeinflussen, zu verzaubern. Seinen Großeltern jedoch verschwieg er diese Fähigkeiten. Seit dem Vorfall mit dem tanzenden Seil war dem noch jungen aber nicht dummen Kind klar, dass seine Großeltern zu alt waren um solche Dinge noch zu verstehen. Seine Großmutter verlor nie wieder ein Wort über diesen Vorfall, nicht einmal zu ihrem Mann, und es schien so, als hätte sie es vergessen, so wie sie später im Altersheim vergessen sollte, was sie zu Mittag gegessen hatte oder das Johannes ihr Enkel war.
Obwohl Johannes sich Mühe gab, seine Fähigkeiten niemanden zu zeigen, wendeten sich immer mehr seiner Freunde von ihm ab; mit jemandem, der nur Gewann, gute Noten in der Schule schrieb und keine Eltern hatte, wollte einfach kein Kind zutun haben. Johannes wuchs heran, alleine, einsam. In dem Punkt erging es Johannes – wenn er auch liebevolle Großeltern hatte und keinen nervigen Cousin – wie dem Jungen mit der Narbe. Nur dass er niemals Besuch von einem Halbriesen namens Hagrid bekommen hatte, der ihn in die Welt der Zauberei entführte.
Jetzt war Johannes 18 Jahre alt, ging noch zur Schule und jobbte nebenbei, um über die Runden zu kommen. Er hatte schon seit Jahren kein Seil mehr in einer Vase tanzen lassen, nicht mal mehr daran gedacht, bis er beim Durchsuchen seiner alten Sachen, von denen er vielleicht ein paar verkaufen könnte, um auch mal ein Mädel zum Essen einzuladen (nicht dass sich irgend ein Mädchen für einen Niemand ohne Freunde, Familie und Geld interessierte), das Bild fand, dass ihn als Junge zu seinem ersten Zauberkunststück inspiriert hatte. Er dachte zurück, wie viel Spaß es ihm gemacht hatte, das Seil tanzen zu sehn.
Johannes konnte tatsächlich etwas von seinem alten Kram loswerden. Es war nicht genug Geld, um ein Mädchen groß zum Essen auszuführen (nicht dass er irgend ein Mädchen kannte, dass sich von ihm zum Essen ausführen lassen wollte), aber doch genug, um sich eine alte, gebrauchte Flöte zu kaufen, wie einst sein Großvater sie besessen hatte. Wie damals als Kind nahm er ein Seil, legte es in eine Vase und fing an zu spielen. Obwohl er schon lange nicht eine Flöte in der Hand hatte, spielte er ziemlich gut, besser als der sechsjährige Junge von damals. Das Seil lugte erst vorsichtig aus der Vase hervor, dann tanzte es in die Höhe, bis es vollkommen ausgestreckt in der Vase stand, sich weiter zum Rhythmus hin und her schlängelnd. Johannes spielte weiter, gedankenverloren, und plötzlich schwebte das Seil nach oben. Nein, es schwebte nicht, es wuchs, stellte der zwar etwas ältere, aber immer noch junge Flötenspieler mit kindlicher Begeisterung fest. Das Seil wuchs immer mehr in die Höhe, bis es die Zimmerdecke erreichte. Es bohrte sich durch die Decke, große Steine fielen von oben herab und verfehlten den von der Melodie verzauberten Jungen, der unbeirrt weiterspielte, nur knapp. Über ihm hatte das Seil ein fenstergroßes Loch hinterlassen. Es brach durch das Dach, hinterließ ein ebenso großes Loch wie zuvor, und wuchs immer weiter gen Himmel, bis das Ende nicht mehr zu sehen war. Plötzlich wuchs das Seil nicht mehr weiter, stand reglos aus der Vase sprießend bis weit über das kleine Haus von Johannes Großeltern. Der Flötenspieler legte sein Instrument beiseite (das Seil blieb weiterhin steif), griff nach dem Seil und begann, daran hochzuklettern. Wie von einer fremden Macht beeinflusst kletterte der Junge, der keine Freunde, keine Familie und kein Geld hatte, als wäre es das normalste der Welt an einem riesigen Seil aus einer Vase hochzusteigen. Wie hypnotisiert kletterte Johannes weiter und weiter, ohne Angst zu haben, abzustürzen, und ohne sich zu fragen, warum er das tat. Er wusste nur, dass er klettern musste, klettern wollte, weit weg von seinem einsamen Leben. Es vergingen Stunden, die Johannes wie Jahre vorkamen, als er plötzlich ein regenbogenfarbenes Licht über ihn erblickte. Lächelnd und glücklich, endlich gefunden zu haben, wonach er schon so lange suchte, endlich in seinem Hogwarts angekommen zu sein, kletterte er in das Licht. Niemand sah Johannes jemals wieder.