Schlechter Mensch?
Ich bin kein schlechter Mensch.
Ich selbst halte mich für rechtschaffen und habe eine leise Ahnung, dass Vater Staat in diesem Punkt mit mir einer Meinung ist. Ich trenne meinen Müll, parke nur an erlaubten Plätzen und bringe die ausgeliehenen Bücher rechtzeitig in die Bibliothek zurück. Selbstverständlich würde es mir niemals einfallen, schwarz zu fahren oder beim Einkaufen etwas unbemerkt und unbezahlt an der Kasse vorbeizuschmuggeln. Wenn wir schon beim Thema Einkaufen sind: Ich ernähre mich sehr gesund, mit viel Gemüse und kaum Alkohol. Rauchen zählt nicht zu meinen wenigen Lastern, da es für mich und die Menschen in meiner Umgebung schädlich ist.
Meine Bekannten bezeichnen mich als freundlich und hilfsbereit, weil ich alten Damen über die Straße helfe und bei Umzügen gerne den Lastenträger spiele. Den Lärmpegel in meiner Wohnung halte ich dezent, obwohl ich mir die eine oder andere Feier mit meinen Freunden nicht verbiete.
Wenn ich vor dem Spiegel stehe, fällt mir ein weiterer Grund meiner Beliebtheit auf. Ich gelte als gut aussehend: sanftmütige Augen und feine Gesichtszüge. Aber meine Anziehungskraft nutze ich nie bewusst aus, weder beruflich noch privat. Ich möchte als Mensch geschätzt werden - denn ich bin kein schlechter.
Hielt er etwa mich für einen schlechten Menschen? Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Gerne würde ich wissen, was er denkt, doch im Anbetracht der Öffnung in seinem Schädel werde ich es wohl nie erfahren. Keine Angst ist in seinem Gesicht, nur Erstaunen. Die Art von Überraschung, wenn man plötzlich Besuch von einem Freund bekommt. Wir waren auch Freunde. In der Blutlache um seinen Körper kann ich mein Spiegelbild ebenso deutlich sehen. Wenn es das Gesicht eines Menschen ist, dann keines schlechten.