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Schlittenfahrt
Mühsam zog David den Holzschlitten hinter sich her.
In einer Stunde ging die Sonne auf, und selbst dann dauerte es noch eine Weile, bis die ersten Kinder hierher kamen.
Davids Eltern hatten nicht bemerkt, wie der Junge frühmorgens aus dem Haus geschlichen war. Handschuhe und Mütze in einer Plastiktüte verstaut, freute er sich darauf, den Hügel ganz für sich alleine zu haben.
Oft wünschte er sich, irgendwo in Süddeutschland zu leben, wo es unendliche Möglichkeiten zum Schlittenfahren gab. Aber hier im Flachland musste man sich halt um eine künstlich geschaffene Erhebung streiten, von der aus eine lange Rutsche führte. Auf der anderen Seite der Kuppe befand sich eine Wiese, und mit genügend Schwung schaffte man es von oben bis zu den ersten Bäumen des angrenzenden Parks.
David stöhnte unter der Last des Schlittens, der leise hinter ihm herglitt.
Der Schneefall hatte nachgelassen. Nur vereinzelte Flocken gesellten sich noch zu der dichten, weißen Decke, die im Mondlicht die gesamte Anlage in einen bläulichen Schimmer tauchte.
Der Kiesweg wurde steiler. In einer leichten Rechtskurve führte er direkt auf die Metallsprossen der Rutsche zu, deren glatte lange Bahn von dieser Seite aus nicht zu sehen war.
David holte tief Luft, und beschleunigte seinen Gang.
Erschöpft kam er schließlich oben an. Er ließ die Kordel des Schlittens los, und sah in Richtung Park. Von hier aus konnte er bis zum anderen Ende blicken, wo sich ebenfalls ein Spielplatz befand. Einer mit Seilbahn. Die gab es hier leider nicht, aber dafür fehlte dort hinten ein Hügel.
David zog sich Handschuhe und Mütze an, positionierte den Schlitten an der steilsten Stelle, nahm Schwung, und genoss das Gefühl des dahingleitens. Schneeflocken wehten gegen sein Gesicht. Er lächelte.
Dann, nach ein paar Sekunden, war er wieder auf normaler Höhe, doch der Schlitten fuhr in beinahe unverminderter Geschwindigkeit weiter über den zugeschneiten Rasen. Die Wand aus kahlen Laubbäumen kam näher. Der Junge fragte sich, ob er es bis zu ihren Stämmen schaffen würde.
Zwei Meter vor ihnen kam er zum stehen.
"Schade", sagte er, und erschrak über seine eigene Stimme. Die Stille war ihm bislang gar nicht richtig aufgefallen, und ihm wurde etwas mulmig.
David stand auf, wühlte nach der Kordel im Schnee, und drehte sich um.
Von hier aus wirkte der Hügel gar nicht so hoch, wie es von oben betrachtet den Anschein hatte. Die paar Meter schaffte er locker. Er sprintete, stolperte einmal über eine im Schnee versteckte Grasnarbe, fing sich schnell wieder, und stand kurze Zeit später erneut mit dem Rücken zu den Sprossen der Rutsche.
Er sah die Spuren, die von den Kufen herrührten. Bis zu den Bäumen ... das muss doch zu machen sein, sagte er sich.
Mit vollem Anlauf sprang er auf den Schlitten, und schoss sprichwörtlich nach unten. Seine Stirn tat weh in der Kälte.
Wieder näherte sich die Baumfront, und er hatte noch eine ziemliche Geschwindigkeit inne. Vor ihm lag die Spur. Ihr Ende rückte näher, während er allmählich langsamer wurde. Dann ließ er sie hinter sich.
Wenige Zentimeter vor einem Stamm blieb der Schlitten schließlich stehen. Ein dumpfes Gefühl entstand auf seiner Stirn.
Vorsichtig beugte sich David nach vorne. Er konnte das Holz berühren.
Voller Stolz sprang er auf, nahm die Kordel in die Hand, drehte sich um, und ... da oben stand jemand.
David hielt inne, starrte auf den dürren, hochgewachsenen Schemen.
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Plötzlich wünschte er sich, zu Hause geblieben zu sein. Er hatte von Kindern gehört, die verschleppt worden waren. Er, mit seinen kurzen Beinen konnte unmöglich ... sollte er schreien? Neben dem Park waren Wohnhäuser. Vielleicht hundert Meter entfernt.
Jede Sekunde rechnete der Junge damit, dass die Gestalt den Hügel herunter gerannt kam, doch sie blieb einfach stehen, rührte sich keinen Zentimeter.
David bemühte sich darum, seine Aufregung in den Griff zu bekommen. Ein morgendlicher Spaziergänger. Ein alter Herr vielleicht, oder ein Jogger; mit sehr seltsamer Statur allerdings.
Die Gestalt drehte sich um, und kletterte die Sprossen der Rutsche hinauf. Dann verschwand sie aus seinem Blickfeld.
Der Junge stand noch eine zeitlang so da, ohne sich zu rühren. Kälte kroch über seinen Körper. Der Schneefall nahm wieder zu. Am Horizont bildete sich ein dunkelblauer Streifen. Bald schon sollte die Sonne aufgehen.
David ging zögerlich los. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Hügel erschien ihm jetzt unendlich hoch und mühsam zu besteigen. Und wenn er oben erwartet wurde?
Und wenn er kommt? Dann laufen wir!
Fast stolperte er über dieselbe Grasnarbe wie vorhin. Die Kufen des Schlittens schienen lauter geworden zu sein.
Dann war er oben angelangt. Auf den Stufen stand niemand.
Es kostete ihn einiges an Überwindung, sich umzudrehen. Mit seinen Füßen rückte er den Schlitten gerade, bereit, mit ihm nach unten zu sausen, wenn es darauf ankam.
Sein Blick blieb an einem der Bäume haften. Ein großer Zweig war abgebrochen, und ...
Eine Hand umfasste seine Schulter.
Es war einer jener Schrecken, bei denen man nicht einmal noch zuckt, sondern nur still dasteht, und innerlich tausend Tode stirbt.
Sein Atem bildete weiße Wolken. Stoßweise.
Eine dunkle Stimme durchbrach die Stille.
"Du hast zuviel Anlauf genommen", sagte sie.
David erkannte den Jungen, der neben dem abgebrochenen Zweig lag von hier oben nicht. Aber die Mütze, mit den beiden Bommeln daran, die hatte ihm seine Mutter gestrickt.
Die Hand zog ihn fort.