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Schlussstrich
Vorsichtig drücke ich die schwere Klinke hinunter und öffne die Tür. Im Zimmer herrscht Dämmerlicht, der Nachmittag verabschiedet sich gerade und macht der Dunkelheit Platz. Schemenhaft kann ich die Einrichtung erkennen – den Schrank, die Kommode, den Nachttisch. Das Bett. Er liegt auf dem Rücken und hat die Augen geschlosen. Sein weißer Haarschopf leuchtet in der Dunkelheit. Leise und vorsichtig trete ich an sein Bett. Er liegt unbeweglich, sein Atem ist kaum hörbar, der Brustkorb hebt und senkt sich unmerklich.
Ich betrachte ihn und fühle Hass in mir aufwallen; wie eine warme Welle nimmt er von meinem Innersten Besitz. 20 Jahre habe ich an der Seite dieses Mannes verbracht, habe mit ihm mehr schlechte als gute Tage erlebt. Habe Demütigungen ertragen, seine entwürdigenden Worte, seine Blicke, die anderen Frauen und nicht mir galten.
Für mich war es Liebe auf den ersten Blick, als ich ihn traf. Kennengelernt haben wir uns über eine Kontaktanzeige in der Tageszeitung. Ich war 48 Jahre alt und seit einem Jahr Witwe. Mein damals 15-jähriger Sohn und ich hatten uns mehr schlecht als recht in unserem Alltag eingerichtet und versuchten, ohne Mann und Vater unser Leben zu meistern. Finanziell war ich abgesichert, hatte ein großes Haus, fuhr ein teures Auto und kleidete mich elegant. Doch es gab viele einsame Stunden, in denen ich mich nach Liebe, Zärtlichkeit und einer Schulter zum Anlehnen sehnte.
Mehr aus Neugier studierte ich ab und zu die Kontaktanzeigen in der Tageszeitung. Zwei-, dreimal schrieb ich Männer an, traf mich mit ihnen in Cafés. Doch der Richtige war nicht darunter. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, als ich eines Tages auf seine Annonce stieß. Ein interessanter Mann, dachte ich bei mir, wenn er hält was er verspricht... Einen Versuch wollte ich noch wagen und formulierte ein Antwortschreiben. Ich musste wochenlang auf seinen Anruf warten. Dann endlich – wir verabredeten uns beim exklusivsten Italiener in der Stadt, Erkennungszeichen war unsere Zeitung.
Es traf mich wie ein Blitz. Er war in den besten Jahren, gut aussehend, braun gebrannt und teuer gekleidet. Seine blauen Augen haben mich sofort in ihren Bann gezogen und nicht mehr los gelassen. Er war unglaublich charmant, und umgarnte mich nach allen Regeln der Kunst. Ich fühlte mich wie im siebten Himmel, vergaß alle Vorsicht und nahm ihn bereits am ersten Abend mit zu mir nach Hause. Später erfuhr ich, dass er neben mir noch andere Frauen beglückte, die er über seine Kontaktanzeige kennengelernt hatte.
Dass er nicht mich liebte, sondern nur von meinem Geld und meinem Auftreten geblendet war, wurde mir bald klar, denn ein Mann wie er verliebt sich nicht in eine unattraktive, unförmige Frau – er hätte alle haben können. Aber ich wollte ihn und habe alles daran gesetzt, ihn zu bekommen.
Als wir heirateten, war ich die glücklichste Frau der Welt. Es war eine große Hochzeitsfeier, mein Sohn, die beiden Töchter meines neuen Ehemannes, Freunde, Bekannte, Verwandte – alle sollten mein Glück sehen. Mir war nichts zu teuer. Ich war nun die Ehefrau dieses gutaussehenden Mannes, dem alle Frauen hinterherschauten. Er gehörte nur mir.
Glücklich wurde ich nicht. Er war ein Choleriker, es gab oft Streit, nicht nur mit mir, sondern auch mit Bekannten und Nachbarn. Wenn es nicht nach seinem Willen ging, sah er rot. Er teilte nicht meine Leidenschaft für Kunst und Kultur, sein Interesse galt allein der Gartenarbeit. Eifersüchtig war er auch – auf meinen Sohn. Meinte, dass ich alles tolerieren und ihm ständig Geld zustecken würde. Mein Haus und mein Auto hatte ich nach unserer Hochzeit verkauft und war in das kleine Einfamilienhaus meines Mannes gezogen. Er hatte Schulden, weil er seiner Ex-Frau die Hälfte des Hauses auszahlen musste. Ich gab ihm Geld. Auch unsere Urlaube bezahlte ich, schließlich wollte ich nicht alleine fahren. Mein Sohn versuchte, sich nach dem Studium in Spanien eine Existenz als Zahnarzt aufzubauen. Das gelang ihm nur mit meiner Hilfe. Ein wenig Erspartes habe ich für mich zurückbehalten, so dass ich heute von den Zinsen leben kann, aber viel ist es nicht, und ich muss sehr auf mein Geld achten.
Zwei Jahre nach unserer Hochzeit rührte mich mein Ehemann nicht mehr an. Ich war gerade Anfang 50 und gierig nach seiner Liebe und seinen Zärtlichkeiten. Ständig musste ich mir seine Beleidigungen über mein Aussehen und meine Figur anhören. Aber ich schluckte auch das, schließlich liebte ich ihn. Ich weiß nicht, ob er mich je betrogen hat, gemerkt habe ich nichts. Wie er seine sexuellen Phantasien auslebte, will ich gar nicht wissen.
Vor fünf Jahren hatte er einen Schlaganfall. Seitdem konnte er nicht mehr richtig sprechen und schlucken. Nun brauchte er mich, war liebevoller zu mir, strich mir ab und zu über den Arm. Ich umsorgte ihn, pürierte sein Essen, war für ihn da, wenn er mich brauchte.
Nach Jahren fand ich heraus, dass er ein Jahr nach seinem Schlaganfall seinen Kindern das Haus überschrieben hatte. Ein Wohnrecht für mich war nicht vorgesehen. Es war für mich wie ein Schlag ins Gesicht, aber was sollte ich tun?
Kurz nach seinem letzten Geburtstag ging es mit seiner Gesundheit bergab und es wurde immer schwieriger mit ihm. Er fiel mehrmals hin, verletzte sich und kam ins Krankenhaus. Verzweifelt habe ich eine Pflegestufe bei der Krankenkasse für ihn durchgesetzt. Ich wollte ihn in einem Pflegeheim unterbringen, denn es wurde mir alles zu viel. Die Töchter sollten sein Haus verkaufen und für den Pflegeplatz aufkommen; insgeheim hoffte ich, dass sie mir auch etwas Geld zukommen lassen würden, schließlich hatte ich mich jahrelang aufopferungsvoll um ihren Vater gekümmert. Ich stellte mir vor, dass mein Mann sehnsüchtig auf meine Besuche im Heim warten und endlich merken würde, dass er mich liebt und braucht.
Wir fanden einen guten Platz für meinen Mann. Aber wenn ich ihn besuche, ist er abweisend und kalt zu mir, denn nun ist er nicht mehr auf mich angewiesen. Seine Rente reicht zur Zeit aus, um die monatlichen Kosten zu decken – für mich fällt allerdings kein Cent dabei ab. Ich zog in eine kleine Einzimmerwohnung, die nicht viel Miete kostet. Das Haus meines Mannes wurde verkauft, das Geld floss an die Töchter. Mir haben sie nicht einen Euro überwiesen, obwohl ich all die Jahre für ihren Vater da war.
Seelisch und finanziell geht es mir jetzt überhaupt nicht gut. Mein Sohn hat sich in Spanien verkalkuliert und plant gerade seinen Umzug nach Deutschland; er will noch einmal ganz von vorn anfangen. Er braucht dringend Geld, um sich etwas neues aufzubauen, doch ich kann ihm keins geben. Es tut mir in der Seele weh.
Ich schaue auf meinen Mann hinunter. Seit ihm die Magensonde wegen seiner Schluckbeschwerden gelegt wurde, steht er nicht mehr auf, liegt nur noch im Bett. Aber diese Sonde kann dafür sorgen, dass er noch lange am Leben bleibt, schließlich wird er auf diese Art mit allen lebenswichtigen Nährstoffen versorgt. Das kann noch Jahre so gehen! Erst nach seinem Tod bekomme ich Witwenrente und muss mich finanziell nicht mehr so einschränken wie jetzt. Auch mein Sohn, den ich abgöttisch liebe und der meine Hilfe jetzt dringend braucht, könnte davon profitieren.
Dünn und kraftlos liegt mein Mann im Bett, er ist nur noch ein Fliegengewicht, dabei war er früher so breitschultrig und männlich.
Ich greife in die grüne Tüte, die ich bei mir habe und ziehe ein kleines Kissen heraus. Reglos liegt er da. Ich zittere. Wie oft habe ich in Gedanken diese Situation durchgespielt, doch nun fehlt mir der Mut. Wenn er auf einmal aufwacht und mich ansieht.... Ich muss es tun – j e t z t ! Mit aller Kraft drücke ich das Kissen auf sein Gesicht, fest, ganz fest. Plötzlich reisst er die Arme nach vorn und umklammert meine Hände. Er ist überraschend stark, strampelt mit den Beinen, wehrt sich aus Leibeskräften. Ich drücke und drücke. Lass es endlich vorbei sein! Meine Kraft lässt nach, Panik überfällt mich. Warum dauert es so lange? Ich kann nicht mehr....
Plötzlich weicht alles Leben aus ihm, er sackt in sich zusammen, sein Klammergriff öffnet sich und gibt meine Arme wieder frei. Reglos stehe ich da, erschöpft und innerlich vollkommen leer. Nach einiger Zeit reiße ich mich zusammen, nehme das Kissen von seinem Gesicht, schaue in seine weit aufgerissenen, starren Augen. Zitternd packe ich das Kissen in die Tüte zurück und beuge mich über ihn. Ich spüre keinen Atem, drücke seine Augen zu und bette seine schlaffen Arme auf die Decke. Es sieht aus, als würde er schlafen. Richtig friedlich!
In meinem Innersten macht sich ein Gefühl breit. Erleichterung?
Leise und vorsichtig schleiche ich durch das dunkle Zimmer zur Tür.