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Schmacht

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14.11.2005
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Schmacht

Kippen, Kippen! Gott, gib mir doch bitte jemand eine Zigarette! Ich verschmachte!
Was seid Ihr alles nur für herzlose Menschen?
Dem Penner auf der Straße schmeißt Ihr ein paar Euro zu, wohlwissend, dass er sich davon was Neues zu saufen holt. Und was krieg' ich? Meine Hilfeschreie hört Ihr nicht, Ihr versteht sie nicht. Ich will Kippen, verdammt, ich habe seit drei Stunden keine mehr geraucht. Ohne Sex, damit kann ich leben. Ohne Essen, meine Güte, das geht auch. Trinken? Drei Tage ohne hauen hin. Aber ohne Zigarette wird jede Sekunde hier zur Qual. Ich habe mich verzehrende Langeweile, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Die gelben Finger sind beschäftigungslos.
Meine Nase bietet keine Popel, mit denen sie spielen könnten, meine Nägel sind bis zur Unkenntlichkeit abgekaut. Was soll ich nur mit meinen Fingern machen?
Hmm ... Fingerspielchen unter der Bettdecke wären wohl auch nicht von Erfolg gekrönt. Nach dem fünften Mal letzte Stunde hat es schon wehgetan.

Einerseits könnte ich meine Freunde treffen, andererseits könnte ich es aber auch lassen. Ohne Glimmstängel kann ich mir deren Gejaule keine zwei Minuten anhören. Er wäre der perfekte Puffer, um ihnen nicht gleich meine Meinung zu ihren Problemchen vor die Füße zu kotzen. Mein Freund hat mich verlassen! Ja, und? Mir geht es viel, viel schlimmer. Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr geraucht. Du findest schon einen neuen Stecher, aber ob ich jemals eine neue Zigarette finde, das steht in den Sternen. Also lieber nichts mit Leuten machen, auf die man in naher oder ferner Zukunft noch einmal angewiesen sein könnte.
Ja, ich könnte nach draußen gehen, mich an der Natur beglücken oder so. Doch beim ersten Zigarettenstummel, über den ich auf der Straße stolpere, wäre ich wieder da, wo ich jetzt bin. Und es wäre weitaus schlimmer! Die meisten rauchen nicht alles weg, lassen zwei, drei Züge dran. Welch Verschwendung dieser egoistischen Leute, die nur soviel rauchen, wie sie wollen. Nicht ein einziges Mal denken sie daran, dass das Zigarettchen sich auf diese Weise nie komplett entfalten kann. Der Anblick einer zertretenen, nicht aufgerauchten Zigarette würde mir das Herz brechen.
Ich könnte einfach nach oben sehen, doch das ist auch nicht ohne. Der Himmel ist genauso grausam. Überall sehe ich Wolken und Qualm. Qualm! Qualm, der aus meiner Zigarette kommen könnte, verdammt.

Nach draußen gehen ist also nicht. Und hier in der Wohnung bin ich ebenfalls nicht fündig geworden. Nicht einmal im Spülkasten habe ich was gefunden. Unter dem Bett nichts. Hinter allen Büchern vergeblich gesucht. Und meine letzte Ration an Notfallzigaretten habe ich vor drei Stunden zu Ende geraucht. Die vorletzte Ration ging heute Morgen in Rauch auf, die vorvorletzte heute Nacht.
Ich könnte meine Socken rauchen ... Nein, die Hoffnung stirbt zuletzt, und die Socken behalte ich als Plan B im Hinterkopf, falls meine Suche ergebnislos sein sollte.
Es schaut aus, als habe hier eine Bombe eingeschlagen. Als habe jemand einen Haushalt auf den Kopf gestellt, um an Omas verstecktes Sparschwein mit den Tausendern zu kommen. Aber ich will gar keine Tausender. Ich will ja nur Kippen! Ich bin bescheiden.
Mir ist im Leben doch nicht viel geblieben. Computer versteigert, um meine letzte Miete zu bezahlen. Wer ist schuld? Der scheiß Vermieter, der sein ganzes Geld für Autos und Häuser verprasst und nun mal eben mehr Geld wollte. Betriebskostenabrechnung ... Blablabla! Natürlich! Was kann ich bitte dafür, wenn der nicht mit seinem Geld umgehen kann?

Das Witzige ist ja, dass meine Ex mir das Gleiche vorgeworfen hat. Dass ich verantwortungslos wäre. Pah! Die habe ich rausgeschmissen, und der einzige Genuss an dem Tag waren meine Zigaretten. Die sind treu. Freundin also weg.
Wie der Job. Mein Chef, der blöde Kapitalist, der hat meine Raucherpausen nicht mehr eingesehen. Nicht eingesehen, dass Kippe bei mir gleich Kreativität und Kundenfreundlichkeit ist. Nicht eingesehen, dass Herr Müller von der Firma so und so mir nicht erlauben wollte, bei ihm im Büro zu rauchen, und er völlig zurecht von mir zurechtgewiesen und als ignoranter Scheißkerl tituliert wurde. Von Selbstbestimmungsrecht haben die wohl alle noch nichts gehört. Die denken alle nur an sich!

Moment, da, da vorne, hey, das ist doch ... Eine Zigarette! Dem Himmel sei dank! Gott muss ein leidenschaftlicher Raucher sein. Rechts hinterm Küchenschrank hat sie sich versteckt. Ich packe sie. Schnell Staub und Essensreste runterblasen, wo immer der Dreck auch herkommt.
Ich stecke sie mir in den Mund ... Scheiße! Wo zum Teufel ist mein Feuerzeug? Vermutlich im Wohnzimmer unter den Büchern und der umgedrehten Couch. Ich eile, dann dauert es nicht mehr lange. Dann ist es soweit. Nach unendlichen drei Stunden. Und es ist wirklich da, mein gutes, altes Zippo. Glück gehabt. Mein tolles Erinnerungsvermögen. Und da soll noch jemand sagen, dass das Rauchen die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen vernebelt. Jaja, alles Vorurteile, in die Welt gesetzt von Nichtrauchern. Alles Neidhammel, die nicht genießen können und das durch üble Nachrede zu kompensieren versuchen.
Ich renne zurück in die Küche und kugele mir dabei die Schulter aus, weil ich volle Pulle gegen den Türrahmen geprallt bin. Aber so kurz vorm Ziel gebe ich natürlich nicht auf.
Ich zünde dieses Prachtstück von Zigarette mit zittrigen Händen an. Ah, und wie sie schmeckt. Abscheulich! Ich sollte wirklich mit dem Rauchen aufhören. Nach dieser Zigarette. Wirklich.

 

Hi Martin!

Gut, die Satire auf obzessive Raucher ist nicht unbedingt das neueste Motiv, und zu beschreiben, wie er sich nach der nächsten Zigarette verzehrt, ist schon ein wenig zu abgegriffen, um wirklich noch jemanden vom Hocker hauen zu können.
Andererseits habe ich mich auch an keiner Stelle zwingen müssen weiterzulesen.

Du beschreibst den Weg deines Prots wie den eines Drogensüchtigen. Er weiß nichts mehr mit sich anzufangen als nach dem nächsten Kick zu lechzen, er isoliert sich von allen Mitmenschen, denen er ironischerweise den Egoismus vorwirft, den er selbst bis zum Äußersten betreibt.

Dass er allerdings die Kippe am Schluss abscheulich findet, das empfand ich als ein klein wenig unpassend, denn so eine Empfindung würde den Suchtfaktor enorm vermindern, was bedeutet, dass das vorherige Verhalten deines Prots plötzlich nicht nur überzeichnet, sondern auch bis zur Unglaubwürdigkeit übertrieben wirkt.
Deshalb denke ich, dass du ihn die Zigarette genießen lassen solltest und dir eine neue Pointe überlegen, damit die Ironie nicht raus geht.

Sprachlich ist der Text sehr schön ausgefeilt, allerdings: Für die Technik des Bewusstseinsstroms sind deine Sätze teilweise ein wenig zu lang. Spontane Gedankenströme äußern sich, wenn man sich keine fiktiven Dialoge vorstellt, immer nur in kurzen Wort- und Satzschüben. Teils ist dir das hier auch gelungen, aber an vielen Stellen eben auch nicht.

Doch beim ersten Zigarettenstummel, den ich auf der Straße oder im Wald entdeckte, wäre ich wieder da, wo ich jetzt bin.

Das wirkt so, als würde er es jemand anderem und nicht nur sich selbst erzählen.

Hast du schon in die Challengerubrik geguckt? Da haben die als Thema gerade den Bewusstseinsstrom. :)

Ciao, Megabjörnie

 

Ich finde, der Schluss passt gut, weil gerade das den Raucher und seine Dummheit ausmacht; der Raucher ist ein Psychopath, der sich den Genuss nur einbildet.

Nicht gefallen hat mir an einigen Stellen die Wortwahl:

Ich könnte mir einen wichsen, ja, aber nach viermal in eben diesen drei Stunden ist da nichts mehr rauszuquetschen.
Gibt es hier kein Smiley für sich übergeben? :confused:

 

Andererseits passt die Wortwahl auch gut zum Typus des sozial abgestiegenen Junkies, dem alles egal ist, wenn er nur seinen nächsten "Schuss" bekommt.
Ich habe auch überlegt, ob ich zu dem Punkt etwas sagen soll, aber dieser Stil erzeugt für mein Empfinden keine Dysharmonie oder Stilbrüche im Text.

 

Mit beinahe dreijähriger Verspätung will ich doch auf die Kommentare reagieren, die man mir einst geschenkt hat. (Es war unhöflich, nicht zu antworten, und darum zerfleddere ich nun meine eigene Threadleiche, um diesen Makel zu egalisieren.)

Danke für das Feedback!
Ich habe darüber nachgedacht und die Geschichte sprachlich etwas modifiziert, allen voran, zwei, drei unnötig vulgäre Ausdrücke rausgeschmissen, die ich mir lieber für wirklich passende Stellen aufsparen will (für die Stelle mit dem "Wichsen" habe ich schon an anderer Stelle eins auf den Deckel bekommen), und ein paar längere Sätze verkürzt bzw. voneinander abgetrennt.
Eure Anmerkungen waren in dem Punkt sehr hilfreich.

Was das Ende anbelangt, so ist das eindeutig Geschmackssache. Als Raucher kenne ich den immer wieder kehrenden Rhythmus vom Genießen und Aufhören natürlich bestens, und das kontingente Verabscheuen der Kippe am Ende ist stark übertrieben, aber im Grunde nur zeitlich komprimiert. Ob mein Prot nach einer Minute oder einem Monat wieder aufhören will, spielt keine Rolle - er tut es sowieso nicht.

(Ver)späte(te) Grüße

Maddin

 

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