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Schmelzende Schokolade
Schmilzende Schokolade
Sie liebte ihn von ganzem Herzen, aber nicht mit ihrem Verstand. Davon besass sie ohnehin nicht allzu viel, wie sie glaubte. Zuwenig jedenfalls, um sich auf ihn zu verlassen.
Sie mochte es, wenn er sie streichelte, sie küsste, ihr sagte, wie schön sie sei. Und schön war sie wirklich, das sagten alle.
Sie mochte nicht, wenn er über Ausländer debattierte, mit unkontrolliert lauter Stimme und betrunken, wie er es so oft war; wenn er vom „dreckigen Jugo“ erzählte, der ihm den Job weggeschnappt habe und den Muslimen, die sich hier einschleichen und bald die Schweizer Mehrheit ausmachen und damit die Abstimmungen domineren würden.
Sie hasste es, wenn er – ebenfalls betrunken – ihre Tochter, eine Gymnasiastin, als blöde Besserwisserin beschimpfte.
Als sie ihrem Exmann ein Foto von ihm gezeigt hatte, hatte dieser lauthals gelacht: „Was ist denn das für ein komischer Typ?“
Sie hatte beleidigt geschwiegen.
Er sollte bloss die Klappe halten, schliesslich hatte er seit ihrer Trennung keine Freundin mehr gehabt.
Ihr Exmann war Gymnasiallehrer, ein Langweiler, wie er im Buche stand. Tagsüber arbeitete er und abends schlief er vor dem Fernseher ein.
ER war da ganz anders. Er brachte ihr Blumen mit und kochte für sie; nicht besonders gut zwar, aber sie fand es nett, dass er es versuchte.
Wenn sie ihm etwas erzählte, küsste er sie und sagte, dass sie wahnsinnig intelligent und gutaussehend und seine Traumfrau sei.
Sie wusste, dass er sie nie betrügen würde. „10 000 Schweizer Männer gehen fremd“, so stand es heute im Blick, aber ER würde sie nie betrügen.
Ihre Tochter war wütend auf sie. „Wie kannst du mit diesem Blocher-Verschnitt zusammensein?“, fragte sie immer wieder.
Sie hatte ihr die Sache mit dem Herz und dem Verstand zu erklären versucht, aber die Tochter hatte nur den Kopf geschüttelt.
Sie war gerade frisch verliebt und ging den ganzen Tag verträumt umher, scheinbar ohne etwas von ihrer Umgebung mitzukriegen.
Sie redete nicht viel, und wenn, dann erzählte sie von ihrer grossen Liebe.
Sie seufzte. Die Liebschaften ihrer Tochter dauerten nie besonders lange und endeten meistens mit langen Shoppingtouren und einem übermässigen Taschentuchverbrauch.
Aber wenigstens schien sie während ihrer Beziehungen immer vollkommen überzeugt von ihrem Glück. Dafür war sie wirklich zu beneiden.
Vielleicht machte diese Überzeugtheit, die ihr selbst schon lange abhanden gekommen war, das ganze Glück aus.
Weiterhin an den Voraussetzungen einer glücklichen Beziehnung
herumstudierend, öffnete sie den Briefkasten. Die Zeitung, zwei Rechnungen, eine unleserliche Postkarte von der Tante, noch mehr Rechnungen und ein kleines Päckchen mit der Aufschrift „für Isabel“. Sie öffnete es neugierig.
Es war ein Schokoladeherz. Dazu ein Kärtchen: „Ich liebe dich, Tom.“
Herzhaft biss sie hinein – und spuckte gleich wieder aus. Marzipan.
Er wusste, dass sie Marzipan hasste. Sie waren seit zwei jahren zusammen und sie hatte es ihm immer wieder gesagt: Jedesmal wenn er wieder eines seiner Marzipanhäschen, -bärchen und –blümchen vorbeibrachte. Er musste es einfach wissen.
Wütend warf sie das angebissene Herz in den Mülleimer. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
Fünf Stunden später ass sie mit ihrer Tochter zu Abend und erzählte ihr alles. „Ich bin wirklich wütend auf ihn“, endete ihr Bericht. „Aber Mam, vielleicht hat Tom gar nicht gewusst, dass es ein Marzipanherz war, wo es doch mit Schokolade umhüllt war!“
„Ja, aber Schokolade schmilzt“, antwortete sie, als wäre das eine unglaublich kluge Erkenntnis.
Die Tochter schaute sie verständnislos an.
„Jedenfalls habe ich Schluss gemacht.“
„Wegen dem Herz?“, fragte die Tochter ungläubig.
„Weisst du, wahllose Geschenke und Schmeicheleien haben mir einfach nicht mehr gereicht. Das war mir nicht genug.“
„Ich verstehe. Das Herz hat nicht gereicht.“
„Ja. Der Verstand hat sich zu sehr eingemischt.“