- Beitritt
- 13.04.2003
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Schmelzendes Eis
»Schon wieder?«
Er lächelt.
Tatsächlich lächelt er und schaut mich an.
Als ich ihn gestern das erste Mal sah, hat er auch gelächelt und sich bedankt, höflich, wie man es tut, damit Erwachsene nicht auf die heutige Jugend schimpfen.
Dabei bin ich fünfzehn. So alt wie er etwa.
Ich war mit dem Fahrrad unterwegs, wie jeden Tag, fuhr auf der falschen Straßenseite, er kam mir auf der richtigen entgegen. Und weil wir uns an einer Baustelle trafen, musste ich anhalten, um ihn durchzulassen. Dafür hat er sich bedankt.
Und gelächelt.
Und dann ist er weitergefahren.
Eine kurze Begegnung mit einem Fremden, man steht sich im Weg, tauscht Konventionen aus und sieht sich nie wieder.
Heute treffe ich ihn an der gleichen Stelle, muss wieder anhalten. Obwohl ich früher bin als gestern, bestimmt zwanzig Minuten. Mir fällt auf, wie nett er aussieht. Sein dunkles Haar hängt ihm über die Augen. Überall hat er Sommersprossen und seine Lippen sind schmal. Vor allem aber lächelt er.
»Sieht so aus«, antworte ich und lächle auch.
Anders als gestern bremst er.
»So ein Zufall. Wo fährst du immer hin, wenn du hier unterwegs bist?«
Er lächelt nicht nur, er redet mit mir. Steigt extra von seinem Fahrrad ab, sieht mich an, als sei ich ein ganz normaler Junge, und fragt mich etwas. E kennt mich doch gar nicht.
»Nirgendwo hin«, stottere ich verlegen. »Ich fahre nur jeden Nachmittag Rad. Immer zu einer anderen Eisdiele in der Umgebung.«
Er schaut weder an meinem Körper herunter noch grinst er spöttisch. »Welche kannst du denn besonders empfehlen?«
Eis ist nicht gleich Eis. Und gestern hat es besonders gut geschmeckt. »Das in der Waldstraße«, sage ich, ohne zu zögern. »Dort war ich gestern und dort wollte ich gerade wieder hin.«
»Ganz schön weit.«
»Ja«, antworte ich und schaue, bevor er es doch noch tut, an meinem Körper herunter. »Aber wie du siehst, schlägt das Eis immer noch mit mehr Kalorien zu Bauche, als ich beim Fahrradfahren verliere.«
Jetzt lächelt er nicht nur, jetzt lacht er. Und er lacht mit mir, nicht über mich.
Wenn man dick ist, gibt es nur diese zwei Möglichkeiten. Entweder, man macht eine Show, ein paar Verrenkungen, fordert die Klassenkameraden zu rhythmischem Beifall auf, bevor man Anlauf nimmt, oder man trippelt wie eine fette Tunte, in der Hoffnung, wenn man die Augen schließt, schaut niemand hin, und schreit auch noch vor Schmerz auf, wenn sich die Kante des Sprungkastens in den Magen bohrt.
Ich mache die Show und sie lachen trotzdem über mich.
Der Junge lacht mit mir. »Na und?«, fragt er. »Dann ist das eben so.«
Ich nicke. Das kann eine Bestätigung oder ein Abschied sein, denn ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll. Also warte ich, bis er weiterfährt und mir Platz macht. Doch er dreht sein Fahrrad zur Fußgängerampel und drückt auf den schwarzen Knopf in dem kleinen gelben Kasten.
»Hast du was dagegen, wenn ich mit dir komme?«
»Von mir aus.«
Die Ampel wird grün, der Junge eilt mir voraus, während ich im Stehen versuche, mehr Kraft in die Pedale zu legen. Ich fahre immer im höchsten Gang, damit ich mich mehr anstrengen muss. Niemand soll mehr über mich lachen, niemand mehr warten, bis ich mein Shirt ausziehe, nur damit er laut meine Bauchfalten zählen kann. Niemand soll mich je wieder fette Sau nennen oder tuscheln, wenn ich im Schwimmbad bin. Aber dazu muss ich Fahrrad fahren. Damit ich das täglich einhalte, belohne ich mich mit Eis.
Als er sieht, ich kann ihm nicht folgen, wartet der Junge. Kein verzogenes Gesicht, keine Bemerkung darüber, wie lahm ich sei, keine Aufforderung, in die Hufe zu kommen. Er hält einfach an, lehnt sich mit der Schulter an einen Laternenpfahl, ohne einen Fuß auf den Boden zu setzen. Lässig sieht das aus, irgendwie elegant.
»Wo wolltest du eigentlich hin?«
Wir fahren nebeneinander, er mit nur einer Hand am Lenker.
»Von wollen kann keine Rede sein«, antwortet er. »Ich war auf dem Weg nach Hause.«
Schweigend radeln wir weiter, stellen uns in die kurze Schlange vor dem Tresen, er holt sich drei Kugeln – Vanille, Marzipan und Nougat – ich mir zwei – weiße Schokolade und Erdbeer.
Wir setzen uns auf die Pflastersteine, mit dem Rücken an eine Hauswand, und blinzeln in die Sonne, während das Eis auf unsere Hände tropft.
»Für gutes Eis könnte ich sterben.«
»Wie heißt du?«, fragt er mich.
»Gottfried.« nuschle ich leise. Niemand heißt so, erst recht nicht, wenn er ein fettes Monster ist.
»Ich heiße Felix. Das ist auch nicht besser.«
»Doch. Das ist um Längen besser.«
Der Junge streckt die Füße aus, sodass jeder, der vorbei möchte, darübersteigen muss. Aber das stört ihn nicht.
»Okay«, sagt er. »Dann nennst du mich Gottfried und ich nenne dich Felix.«
»Im Ernst?«
»Ja. Ich finde Gottfried schön. Es hat etwas Erhabenes, Allmächtiges.«
Lieber würde ich ihm ein paar meiner Pfunde abgeben. Die könnte er gut gebrauchen. Aber der Name ist ja schon einmal was. Auch, wenn ich es mir verwirrend vorstelle. »Felix heißt der Glückliche. Das ist doch auch erhaben.«
»Aber es ist gelogen. Zu dir passt es viel besser als zu mir.« Er lacht, als er das sagt.
»Gut«, antworte ich und reiche ihm die eisverklebte Hand. »Felix.«
»Gottfried.«
Er stört sich nicht daran, ergreift meine Hand, wischt seine Finger hinterher nicht einmal an der Hose ab.
»Das Eis ist wirklich gut. Ich kann das beurteilen.« Felix erzählt mir, er habe nach dem Hauptschulabschluss eine Konditorlehre angefangen. »Zum Glück muss ich nicht so früh aufstehen, wie die Bäcker. Aber es ist immer noch zu früh.«
»Es ist immer zu früh«, antworte ich, sehe auf seine Lippen, die erst vom Eis glänzen, dann vom Speichel, und denke daran, wie schwer es der Wecker jeden Morgen hat, mich aus dem Schlaf zu holen. Erst recht, wenn ich bis in die frühen Morgenstunden am PC gespielt habe.
Wir setzen uns auf unsere Räder, Felix und ich, fahren schweigend die Strecke zurück bis zu der Baustelle, an der er mich angelächelt hat.
›Unsere Wege werden sich trennen‹, denke ich. ›Er wird wieder Felix sein, ich Gottfried, die fette Sau.‹
Er hält an, als käme ich ihm wie vorhin entgegen. Dabei keuche ich hinter ihm. Die Hand reicht er mir, obwohl mein T-Shirt aussieht wie nach einem Platzregen. Bestimmt stinke ich. Felix wartet, bis ich ruhiger atme, zögert selbst dann noch. »Vielleicht fährst du ja mal wieder auf der falschen Seite«, sagt er. Und er lächelt.
»Bestimmt«, antworte ich.
Die von gbwolf vorgegebenen Wörter waren: Eis, sterben, Hoffnung, elegant, Huf