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Schmerz

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15.04.2003
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Schmerz

Der Schmerz ließ mich abrupt erwachen.
Hüpfte ich gerade noch in einem Traum von einem Traum in Gesellschaft einiger elfengleicher, äußert knapp bekleideter junger Nymphen lebensbejahend über eine blühende Frühlingswiese, so riss mich nun dieser bohrende, pochende, schneidende und in jeglicher sonstiger Hinsicht unerfreuliche Schmerz in die trübe Realität zurück. Sein Epizentrum befand sich in einem Backenzahn im linken Unterkiefer. Exakter ließ er sich leider nicht lokalisieren, da mir die gesamte Zahnleiste Empfindungen zuteil kommen ließ, als sei eine Horde marodierender Bauarbeiter im Miniaturformat, die nicht nur mit äußert leistungsfähigen Presslufthämmern ausgestattet waren, sondern zudem noch eine höchst virtuose Stepptanz-Darbietung einstudierten, über sie hergefallen.
Da an Schlaf ohnehin nicht mehr zu denken war, erhob ich mich stöhnend aus dem Bett, obwohl es, wie ein Blick auf den Wecker verriet, erst vor wenigen Minuten fünf Uhr geschlagen hatte. Ein Besuch bei einem dentalen Spezialisten war offenbar unumgänglich, doch war mir klar, dass ich in den nächsten Stunden, bis dieser sich bequemte, seine Praxis zu eröffnen, mir noch einiges an Pein bevorstand.
In dem Versuch, die vor mir liegende Zeit so erträglich wie möglich zu gestalten, bereitete ich mir eine Tasse Kaffee zu, nahm, noch im Bademantel gekleidet, am Küchentisch Platz und begann, mir das heiße Getränk schlürfend einzuverleiben.
Doch just in dem Moment, als die ersten Tropfen das Innere meines Mundes erreichten und vorsichtigen Kontakt mit dem gereizten Zahn aufnehmen wollten, bereute ich bereits, dass ich an jenem unsäglichen Tag vor knapp einunddreißig Jahren mich nicht einfach geweigert hatte, das Licht der Welt zu erblicken.
Rasender Schmerz zuckte von dem befallenen Zahn ausgehend quer durch meinen Kopf, über die Schulter in den Arm und stieß schließlich bis die Finger vor, die zuerst erbebten, sich dann verkrampften und angesichts der in ihr befindlichen heißen Tasse schnell den Rückzug antraten. Diese wiederum konnte, von der Umklammerung meiner Hand befreit, der Schwerkraft nicht lange widerstehen und sah sich gezwungen, einen Fall Richtung Erdmittelpunkt in Erwägung zu ziehen und auch zu beschließen. Gebremst wurde dieser jedoch durch das Zusammen mit meinem Schoß, der sich unglücklicherweise zwischen dem Ausgangspunkt und dem Ziel der Tasse aufhielt.
Kurzfristig war der Schmerz in meinem Gesicht vergessen, als sich der frisch aufgebrühte Kaffee wie ein Strom flüssiger Lava über meinen Unterleib ergoss.
Wenn mein Erinnerungsvermögen mich nicht täuscht, konnte ich einen Schrei, der zum Teil aus Schmerz, zum Teil aus Wut entstanden war, nicht völlig unterdrücken, und auch die Tasse, die nicht nur mit einem entzückenden Hündchen bedruckt, sondern auch noch ein Geschenk meiner Patentante und somit natürlich meine Lieblingstasse war, hauchte ihr Leben aus, als sie von mir mit voller Wucht gegen den Einbauschrank ‚Björndalen’ geschleudert wurde.
Zu meiner Schande muss ich eingestehen, dass ich einer dieser Menschen bin, die ihrem Schmerz durch Aggressionen Ausdruck verleihen. Ich beschloss, die angerichtete Unordnung einstweilen sich selbst zu überlassen und mich fürs erste einmal vollkommen meinen Schmerzen zu widmen.
In den folgenden Stunden lief ich unruhig in der Wohnung auf und ab, bis mir ein Blick auf die Uhr zeigte, dass erst acht Minuten vergangen waren. Als auch nach den nächsten zwei Stunden nur vier Minuten vergangen waren, konnte ich wohl einen lautstarken Fluch nicht unterdrücken, so dass nun auch noch die Katze geweckt wurde und mir mit erhobenem Schwanz und einem zudringlichen Schnurren um die Beine strich. An das Schicksal meiner Lieblingstasse denkend, stellte ich ihr ein Schälchen Kittekatt vor die Nase, um sie fürs erste von mir abzulenken und sie somit auch vor mir zu schützen.
Inzwischen war auch die Verbrühung meines Schosses zugunsten des zermürbenden Pochens meines Zahnes wieder in den Hintergrund getreten, so dass ich vor Schmerz einigermaßen von Sinnen war und mir nur noch schemenhaft bewusst ist, was sich in der Folgezeit zugetragen hat. Wie ich mir aus Erinnerungsfetzen und später aufgefundener, zuverlässiger Anhaltspunkte zusammenreimen konnte, zerschlug ich einige Möbelstücke, riss in zwei Zimmern die Tapete fast komplett von den Wänden, rannte wohl in der irrigen Hoffnung, mich meines Peinigers entledigen zu können, mit dem Gesicht gegen die Anrichte und verprügelte den Zeitungsboten, der das Pech hatte, bei der Verrichtung seiner morgendlichen Zustelldienste meine Aufmerksamkeit erregt zu haben.
Doch auch jetzt noch ist mir der weitere Verlauf der Ereignisse nahezu völlig schleierhaft, besteht meine nächste Erinnerung doch darin, wie ich die Praxis eines Zahnarztes betrete.
Als ich mich zur Empfangstheke begeben hatte, wandte ich mich an die äußert attraktive Sprechstundenhilfe, die mich mit verführerischem Lächeln begrüßte. Sie nahm meine Personalien auf und erkundigte sich, ob ich denn möglicherweise privat versichert sei, da dieser Umstand die ganze Angelegenheit möglicherweise ein wenig erleichtern könnte. Als ich die Frage zu meinem Bedauern jedoch verneinen musste, schien ihr zuvor noch verführerisch zu bezeichnendes Lächeln einige Grade in Richtung herablassender Höflichkeit zu verfallen. Ich meinte gar zu bemerken, wie ihre Augenbrauen sich zu einem Stelldichein über ihrer Nase zu treffen schienen. Kassenpatienten gehören nicht gerade zu den Lieblingskunden eines Arztes, wie ich nicht zum ersten Mal feststellen musste. Das Fräulein machte zumindest keinen Versuch, ihre Ablehnung mir gegenüber zu verbergen. Die schwefeligen Rauchschwaden, die aus ihren Nüstern schwärten, schrieb ich jedoch dem Einfluss starker Schmerzen auf meine ohnehin angeschlagenen Nerven zu.
Da ich natürlich keinen Termin vereinbart hatte, bereitete mich die junge Frau auf eine längere Wartezeit vor und wies mir den Weg zu dem entsprechenden Wartezimmer. Als ich die Tür öffnete, quoll mir eine Masse unzähliger wartender Personen entgegen, die meine Hoffnung auf eine baldige Linderung meiner Torturen schwinden ließ. Ich wandte mich erneut an die inzwischen bei weitem nicht mehr so attraktiv anmutende Sprechstundenhilfe, die mir nun gönnerhaft erklärte, ich könne ruhig noch einige Erledigungen in der Innenstadt tätigen, falls mir der Sinn danach stünde. Ich liefe dadurch auch keine Gefahr, die mir angestammte Position in der Reihenfolge der Patienten zu verlieren. Sie schenkte mir noch ein dämonisches Grinsen und wandte sich wieder ihren wie auch immer gearteten diabolischen Tätigkeiten zu, ohne mir noch die geringste Aufmerksamkeit zu widmen.
In Anbetracht der vor mir liegenden Wartezeit entschied ich tatsächlich, den Weg in die nahe gelegene Innenstadt anzutreten, um die Zeit sinnvoll für einige Dinge zu nutzen, die man sonst ohnehin nur vor sich her schiebt. So ließ ich mir zunächst die Haare schneiden, die Schuhe neu besohlen und nahm auch noch die Gelegenheit wahr, mich unverbindlich über das eine oder andere zinsgünstige Anlagemodell zu informieren. Doch war all dies nicht geeignet, meine Laune in irgendeiner Weise auch nur annähernd zu verbessern. So kehrte ich in einer Stimmung, der die Vokabel ‚gereizt‘ schon lange nicht mehr gerecht werden konnte, zur Praxis des Dentisten, dem ich vielleicht völlig unverdient mein Vertrauen schenkte, zurück, um festzustellen, dass sich die Situation nur unwesentlich verändert hatte. Im Wartezimmer erkannte ich die selben Gesichter wie zuvor, nur dass sie jetzt mehr als nur eine Spur Agonie ausstrahlen. Der Anblick meiner leidgeplagten Mitpatienten wirkte auf mich wie eine Darstellung des Fegefeuers von Hieronymus Bosch, nach einer durchzechten Nacht mit einem gewaltigen Kater, alles andere als gut gelaunt. Meiner Verzweiflung Ausdruck verleihend schlug ich zuerst die milchverglaste Wartezimmertür und anschließend den erneuten Weg in die Stadt ein.
In einem Stehcafe bestellte ich mir eine Tasse Kaffee, doch bei dem Versuch, sie zu trinken, war mir ein ähnlicher Erfolg beschieden wie schon am Morgen. Entmutigt gab ich jeden weiteren Versuch auf und ließ statt dessen meine Wagen generalüberholen und erwarb eine Eigentumswohnung in Stadtnähe, nachdem ich mit meiner Hausbank die Finanzierung geklärt hatte.
Mordlust in mir aufsteigen fühlend wieder in der Praxis angelangt, ließ die Schreckschraube hinter der Theke mich wissen, dass der Doktor voraussichtlich bald Zeit für mich aufbringen könne, sich das aber nie so genau abschätzen ließe und ich daher durchaus noch ein wenig frische Luft schnappen könne. Statt dessen schnappte ich nach der Kehle des grässlichen Weibsbildes und versicherte ihr, mich in allernächster Zukunft aufgrund meiner bereits arg strapazierten Geduld möglicherweise zu der einen oder anderen Gewalttat hinreißen zu lassen.
Mit einem Lächeln, das ich nur als satanisch beschreiben kann, sagte mir die Hexe zu, sie würde ihr Bestes versuchen, wolle mir aber keine voreiligen Versprechungen machen. Entmutigt verließ ich erneut das Gebäude und machte mich auf, um mich einer schon lange vor mir hergeschobenen Unterleibsoperation zu unterziehen. Nachdem ich das Klavierspielen gelernt und das erste Staatsexamen der Juristerei abgelegt hatte, unternahm ich entgegen aller Vernunft einen neuerlichen Versuch und sprach einmal mehr bei diesem Teufel in Menschengestalt vor, der angesichts der Leiden anderer Menschen tiefste Befriedigung verspürte.
Leider musste ich zu meiner Überraschung erfahren, dass der Herr Doktor zwischenzeitlich das Zeitliche gesegnet hatte und ich mich doch besser an eine andere Praxis wenden sollte.
Ich hatte gerade die komplette Inneneinrichtung in ein Trümmerfeld verwandelt und war dabei sämtliche noch anwesende Personen mit bloßen Händen zu strangulieren, als mir die Eingangstür, die just in diesem Moment von einem Sondereinsatzkommando der Polizei mit einem Rammbock aufgestoßen wurde, direkt in das Gesicht geschleudert wurde. Durch den plötzlichen Schmerz noch betäubt, spürte ich mit der Zunge in meinem Mund ein in diesem Moment nicht näher zu identifizierendes Objekt. Ich öffnete die Hand und spuckte den verdächtigen Gegenstand hinein. Die Verblüffung, die mich überkam, ist kaum noch in Worte zu fassen, stellte sich doch der Fremdkörper als der Zahn heraus, der das ganze Ungemach verursacht hatte.
Als der durch den Aufprall verursachte Schmerz in meiner Wange halbwegs abgeklungen war, wurde mir zu meiner Freude klar, dass auch jeglicher Schmerz innerhalb des Mundraums mit einem Schlag verflogen war. Außer mir vor Glück machte ich Freudensprünge durch den Raum und umarmte nacheinander alle recht verdutzt dreinblickenden Anwesenden, einschließlich der mit schusssicheren Westen und Helmen bekleideten Gesetzeshüter. Meine besondere Aufmerksamkeit widmete ich natürlich der liebreizenden Sprechstundenhilfe, diesem engelsgleichen Geschöpf, das mir mit selbstloser Fürsorge einer Heiligen gleich in diesen Stunden der Qual barmherzig beigestanden hatte. Überfließend vor Glücksgefühlen konnte ich nicht umhin, dieser Göttin umgehend einen Heiratsantrag zu machen, den sie jedoch aus Gründen, die sie im Moment nicht näher erörtern wollte, ablehnte.
Doch trotzdem tat das der Liebe, die ich für die ganze Welt empfand, keinen Abbruch, die auch den freundlichen Beamten galt, die mich nun baten, sie zu begleiten, um mir, wie sie verlauten ließen, noch einige Fragen zu stellen.
Nach Verbüßung einer mehrmonatigen Haftstrafe kehrte ich glücklich und zufrieden heim zu meiner Katze, die mittlerweile den Hungertod erlitten hatte. Mit einigen Worten des Abschieds beförderte ich sie zusammen mit den noch immer herumliegenden Tapetenresten zur ewigen Ruhe in die Mülltonne.

 
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Tag!
Deine Geschichte hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck.

Eindruck a)Sie ist technisch, brilliant, ausgefeilt und extrem witzig - erinnert an Kishon auf Ecstasy.

Eindruck b)
Ich habe soeben eine Geschichte seeehr ähnlichen Inhalts verfasst, ohne sie nun posten zu können, da deine besser ist - du Sack!

Möglicherweise ist die Zwiespältigkeit meiner Beurteilung durch einige minimale,persönliche Neideffekte im stolzesten Teil meines Gehirns begründet.Reden wir nicht drüber.

Fazit:

Solltest du nochmals eine Geschichte schreiben, in der Du
a) mir in Brillanz und Witz überlegen bist, wodurch du mir kostbare Lebensenergie raubst-

b)Diese dann auch noch ohne Skrupel postest-

..werde ich Luigi sagen, er soll es "wie einen Unfall aussehen lassen.":gunfire:

Danke für deine Aufmerksamkeit.

Onkel Jack

 

Hallo tflieger,

ich mag deinen Stil, wirklich und wahrhaftig. Ganz ehrlich. Schreib mehr davon, solange Luigi dich noch nicht gefunden hat.

Aber bitte, lies den Text vor dem Posten noch mal durch und korrigiere wenigstens die gröbsten Rechtschreibfehler. Dann kann ich über deine Einfälle sofort lachen, nicht erst nach automentaler Korrektur :)

Gruß
Rainman

 
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Erst einmal danke für die Blumen. Ich hatte schon befürchtet, dass nur ich das lustig finde.
Da ich tatsächlich alter Kishon-Fan bin, ist diese Geschicht wohl mehr als nur bisschen von seinem Stil beeinflusst. Ich hatte schon mit wüsten Beschimpfungen und Plagiats-Vorwürfen gerechnet. Aber es hat mir immer Spaß gemacht, so etwas zu lesen und musste feststellen, dass es beim Schreiben genauso viel Spaß macht. Zwar habe ich noch eine zweite Story dieser Art in der Schublade, hatte aber bisher Hemmungen, die hier auch einzustellen, weil die Ähnlichkeit doch sehr groß ist, zumindest stilistisch.
An Rainman: Automentale Korrektur? Meine Güte. :confused:
Ich habe gerade extra noch mal eine Rechtschreibprüfung durchgeführt und konnte nur zwei Kleinigkeiten finden, die ich korrigieren musste. Aber manchmal ist man ja auch mit Blindheit geschlagen. Vielleicht kannst Du nochmal konkret auf Fehler hinweisen, wenn Du Lust hast?
Und der Luigi, ne, der soll ma kommen! Da kanna wat erleben! :ak47:

 

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