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Schmutzige Tricks
Ein ohrenbetäubender Knall ließ die Fensterscheiben klirren. Susans Schreibtischstuhl wurde von einem heftigen Ruck erschüttert.
Verwirrt blickte Susan sich um und überlegte, ob sie unter den Tisch kriechen sollte oder ob der Spuk schon vorbei war und sie aus dem Fenster schauen konnte. Sie entschied sich für die Sicherheit und nahm Zuflucht unter dem Tisch. Kein weiterer Schlag, kein neues Rumpeln erfolgte, sodass sich Susan schon nach kurzer Zeit unterm Tisch albern vorkam.
"Was ist denn hier passiert?" fragte ihr Freund Marc, der das Zimmer betrat und sich irritiert umschaute. Er rieb sich verschlafen die Augen. Nach einer durchgearbeiteten Nacht am Computer hatte er versucht, etwas Schlaf nachzuholen. "Hast du so einen Lärm gemacht, beim Unter-den-Tisch-Kriechen, oder wer war das? Was machst du überhaupt unter dem Tisch?"
"Wenn ich das nur wüsste. Hier direkt ist nichts passiert, aber draußen", sagte Susan, kam unter dem Tisch hervor und schaute aus dem Fenster.
Draußen auf der Straße quoll Rauch aus dem Erdgeschoss eines Hauses, nur wenige hundert Meter entfernt. Menschen flüchteten vor der Rauchwolke. Inzwischen hörte man auch die Sirenen von Feuerwehrautos. Vor und in dem Haus leuchtete es rötlich durch den Rauch.
Marc machte sein typisches, schlaues Gesicht: "Das sieht aus wie nach einer Explosion."
"Ja, denke ich auch. Was da wohl passiert ist?"
"Fragt sich, ob es ein Unfall oder ein Anschlag war", sagte Marc und schaltete den Fernseher an.
Im Fernsehen wurde noch nicht von der Explosion berichtet, doch während Marc noch die verschiedenen Kanäle ausprobierte, erschien bei vielen Sendern am unteren Bildschirmrand ein Laufband mit einem Hinweis auf die Explosion. Es dauerte nicht lange, da meldete sich ein Nachrichtensprecher zu Wort.
"In Boston kam es vor wenigen Minuten zu einer Explosion. Die Ursache ist zur Zeit noch unbekannt. Rettungskräfte befinden sich auf dem Weg zum Einsatzort. Wir erfahren gerade, dass mit mehreren Toten und vielen Verletzten gerechnet werden muss."
Inzwischen wurde die Rauchwolke und die fliehenden Menschen gezeigt. Die Kamera zoomte zu Flüchtenden, die blutüberströmt waren. Währenddessen berichtete der Nachrichtensprecher unaufhörlich von dem Ereignis.
"Die Explosion fand in der Innenstadt Bostons vor einer Bank statt. Erste Mutmaßungen gehen von einer Autobombe aus."
Draußen auf der Straße konnte man inzwischen eine Kakophonie von Martinshörnern hören. Die Rettungsmaßnahmen waren anscheinend im Anmarsch.
Susan hüpfte aufgeregt vor dem Fenster auf und ab: "Marc, schau doch mal! Vor unserem Haus liegen auch schon Verletzte. Die haben sich dort wohl hingeschleppt und sind dann zusammengebrochen. Ob wir nicht doch runtergehen sollten, um bei ihrer Versorgung zu helfen? Ich schau mal, ob ich unseren Verbandskasten finde."
"Du kennst dich doch gar nicht aus mit erster Hilfe. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, sich da einzumischen."
"Wenigstens etwas Wasser könnte ich ihnen doch reichen. Dafür braucht man keine Ausbildung."
"Lass es bleiben! Du kommst in Teufels Küche, wenn du da runter gehst. Allein schon wegen der drohenden Schadensersatzklagen, falls du einen Fehler machen solltest. Du kennst doch die Klagewut unserer Landsleute."
"Das ist mir schnurzpiepegal. Ich will helfen!"
Marc versuchte, Susan auf ihren Schreibtischstuhl zu drücken, doch Susan riss sich los, stopfte den Verbandskasten, mehrere Wasserflaschen und Plastikgläser von der letzten Party in ihren Einkaufskorb und stürmte aus der Wohnung.
"Bleib hier, Liebste! Du bringst dich in Gefahr mit deinem unsäglichen Leichtsinn!"
Doch Susan war schon außer Hörweite.
Marc schüttelte den Kopf. Man konnte ihm ansehen, wie er zwischen Besorgnis und überlegener Vorsicht hin und hergerissen wurde.
"Ich schau mir das Ganze lieber per Webcam an. Wofür haben wir kürzlich erst dieses Hochleistungsgerät installiert?" dachte sich Marc und hantierte an seinem Computer.
"Diese unvernünftige Frau. Immer wieder bringt sie sich durch ihren unüberlegten Helfertrip in Gefahr. Hoffen wir mal, dass es auch diesmal gut ausgeht."
Susan war unterdessen auf der Straße angekommen und näherte sich dem ersten der Verletzten. Von seiner Stirn tropfte Blut.
"Hallo, kann ich Ihnen helfen? Ich habe Desinfektionsmittel, Pflaster und Wasser zum trinken.", fragte sie den Mann, der so blass war, dass er fast schon grün wirkte.
"Wasser, Wasser, bitte geben Sie mir was zum Trinken!"
Etwas umständlich vor lauter Aufregung öffnete Susan eine Wasserflasche, goss ein Glas voll und hielt es dem Verletzten hin.
Dankbar nahm der Mann es entgegen und trank gierig.
"Oh, mir ist so übel! Dabei hat es mich doch gar nicht so schwer erwischt", klagte der Mann.
"Sie bluten an der Stirn. Vielleicht ist es auch der Schock", sagte Susan und fühlte sich wie Florence Nightingale. Endlich mal eine wirklich sinnvolle Aufgabe.
Auf die orange werdende Anzeige ihres Multi-Scanners am Handgelenk achtete sie nicht.
Derweil kümmerte sich Marc im Büro um eine Datensicherung auf sein Notebook, denn er befürchtete eine Evakuierung aufgrund des Anschlags. Da ihre weltweiten Kunden kaum Verständnis für Service-Einbußen wegen einer läppischen Bombe hinnehmen würden, wollte er möglichst gut vorbereitet sein. Nebenher hielt er die Nachrichtenticker im Auge und auch den Fernseher ließ er laufen, um auf dem akutellen Stand der Dinge zu bleiben. Seine Webcam zeigte Vorgänge, wie er es von zahllosen Anschlägen in Israel, Irak und Syrien seit Jahren kannte. Verwundete rannten ziellos durch die Gegend, Krankenwagen fuhren lautstark herbei und luden die Verletzten ein, um sie in Krankenhäuser zu bringen.
Wo war Susan in all dem Chaos?
Marc verfluchte Susans Neigung zu unüberlegten Goodwill-Aktionen, aber gleichzeitig zollte er ihrer Unerschrockenheit auch ein gewisses Maß an Respekt.
Sie folgte immer wieder ihrem spontanen Gefühl, im Gegensatz zu ihm, der bevorzugt sinnvoll handelte.
Der Multi-Scanner von Susan piepste ungehört. Sie half etlichen Verletzten mit Wasser, Desinfektionsmitteln und Pflastern. Sogar ihre Mullbinden kamen bei schwereren Fällen zum Einsatz. Wo blieben denn die Rettungskräfte, fragte sich Susan? Wie gut, dass sie mit ihrem Engagement eingesprungen war. Nach und nach arbeitete sich Susan zum Ursprung der Explosion vor. Mit einem Ohr lauschte sie dem Gespräch von zwei Menschen, die jedoch nicht verletzt schienen. Daher widmete sie ihnen nicht besonders viel Aufmerksamkeit. Die Verletzten gingen vor! Ein Verletzter nach dem anderen wurde von Susan versorgt. Ihr Multi-Scanner wechselte derweil von orange auf rot, doch Susan hatte keine Sekunde Aufmerksamkeit für solche Lappalien.
In den Nachrichten-Tickern fiel das Wort "schmutzige Bombe". Marc schreckte auf. Was bedeutete eine schmutzige Bombe? Er befragte die Suchmaschinen. Schmutzige Bomben enthielten radioaktive Bestandteile und verseuchten die Umgebung der Explosion.
Susan war in Gefahr dort unten!
In fiebriger Eile besorgte sich Marc zusätzliches Wissen über den Umgang mit radioaktiver Strahlung.
Er erkannte, dass schmutzige Bomben weniger schlimm als ihr Ruf waren und vorwiegend als psychologische Bedrohung wirkten.
Doch im Zentrum der Explosion war die Radioaktivität durchaus lebensgefährlich.
Genau dort, wo Susan sich gerade aufhielt und den Verletzten half.
Marc wurde fast übel, als er erkannte, in welcher Gefahr sich seine Susan befand.
Wie konnte er seine Liebste retten?
Vor Jahren hatten sie doch Kalium-Jodid besorgt, um vor eventuellen Kernkraftwerk-Unfällen geschützt zu sein.
Marc ging ins Badezimmer und suchte nach diesen Tabletten.
Ob sie Susan wohl helfen konnten?
Marc ärgerte sich enorm, bei dem Gedanken, in welche Gefahr sich Susan begeben hatte.
Doch wenigstens ihr Leben wollte er retten.
Wie konnte er sich ungefährdet in die Höhle des Löwen begeben?
Zuerst nahm er selbst zwei der Kalium-Jodid-Tabletten. Sicher ist sicher.
Dann suchte Marc nach den Papieranzügen, die sie kürzlich für die Renovierung ihrer Wohung angeschafft hatten. "Je besser verpackt, umso besser", dachte er sich.
"Hauptsache, ich kann Susan so schnell wie möglich retten. Zuerst versuche ich mal, sie telefonisch zu erreichen."
Den Verletzten ging es immer schlechter, stellte Susan fest. Manche übergaben sich, als wollten sie ihr komplettes Innenleben nach außen befördern. In der Nähe der Explosion waren inzwischen jedoch ausreichend Hilfskräfte eingetroffen, sodass Susan sich überflüssig fühlte. Wahrscheinlich war es auch besser, die Situation ausgebildeten Fachleuten zu überlassen. Ihr Wasser war dennoch heiß begehrt und Susan hatte den Eindruck, dass sich die Verletzten besonders gerne von ihr helfen ließen. Susans Multi-Scanner piepste immer lauter. Ein genervter Blick darauf zeigte Susan, dass der Scanner vor angeblicher radioaktiver Strahlung warnte. Sie deaktivierte das Piepsen.
"Was für ein Unfug", dachte Susan. "Das ist mal wieder typisch, dass dieses Ding Gefahren meldet, die es gar nicht gibt."
Susans Mobiltelefon piepste noch unangenehmer als ihr Multi-Scanner.
Sie hob ab, um den Anruf möglichst schnell abzuwimmeln.
"Hallo Liebste! Du bist in Gefahr, denn die Bombe war radioaktiv. Komm ganz schnell nach Hause."
Das war ihr Marc. Er machte sich offenbar Sorgen um sie.
Aber sie war doch so beschäftigt mit der Rettung der Verletzten.
"He Susan! Melde dich, es ist wirklich wichtig!"
Widerwillig antwortete Susan: "Ja, was gibts denn, ich bin beschäftigt."
"Die ganze Gegend ist radioaktiv verseucht, meine Liebe. Wenn du je Kinder bekommen willst, solltest du sofort nach Hause kommen. Bitte komm sofort, ich mach mir irrsinnge Sorgen um dich."
"Radioaktiv verseucht? Kinder kriegen? Was meinst du denn? Ich werde hier gebraucht, um Menschenleben zu retten."
"Die fremden Menschen sind mir egal. Nur du bist mir wichtig. Ich komme jetzt und hole dich."
"Ok, tu, was du nicht lassen kannst."
Marc konnte die Ignoranz seiner verblendeten Freundin kaum fassen. Vor lauter Hilfsbereitschaft hatte sie keinerlei Blick für ihre eigene Situation.
Er steckte das Kalium-Jodid in seine Overalltasche und eilte die Treppen hinab bis auf die Strasse.
Dann lief er in Richtung der Explosion, denn dort würde auch Susan sein.
"Genial, dass wir dieser Demokratenhochburg so einen Schlag verpasst haben..." tönte es an Marcs Ohr.
Doch er war viel zu sehr in Sorge um seine tollkühne Freundin, um sich um Politkgelaber Sorgen zu machen.
Marc brauchte eine geschlagene Stunde, bis er Susan inmitten der Verletzten fand.
"Susan, kommt mit! Die ganze Gegend ist radioaktiv verseucht."
"Oh Marc, das ist aber lieb, dass du kommst. Du könntest hier mal die Tropf-Flasche halten."
"Das tu ich ganz bestimmt nicht. Susan, wach auf, du musst heim kommen. Hier ist es tödlich gefährlich. Hier, nimm zwei von diesen Kapseln. Das wird dich vor dem Schlimmsten bewahren."
"Du immer, mit deiner Vernunft. Man hats nicht leicht mit dir. Aber ok, wenn du drauf bestehst, nehme ich diese blöden Tabletten. Hast du auch noch genug für die armen Teufel, die hier hilflos rumliegen?"
"Ein paar der Tabletten habe ich übrig. Aber es reicht nicht, um alle zu retten."
"Was machst du überhaupt für ein Theater, Marc?"
"Theater? Du hast sie wohl nicht mehr alle! Hier ist alles radioaktiv verseucht! Wann kapierst du das endlich mal?"
"Oh sorry, mein Lieber, das mit der Verseuchung halte ich für ein Gerücht. Man sieht doch gar keine Radioaktivität."
Marc schüttelte Susan in seiner Verzweiflung durch, bis ihm einfiel, ihr ihren eigenen Multiscanner zu zeigen.
"Schau Susan, auch dein Scanner zeigt, dass du dich in radioaktiv verseuchter Umgebung aufhältst."
"Oh je, du hast recht! Was ist denn hier los?" fragte Susan entsetzt.
"Der Anschlag war wohl eine schmutzige Bombe. Das bedeutet radioaktive Verseuchung. Und du steckst mittendrin!"
"Wie, wo, was? Hier ist alles verseucht? Ach darum laufen die neuen Helfer in so komischen Anzügen rum. Dann sollten wir wohl nach Hause gehen."
"Gottseidank, du zeigst einen Hauch von Vernunft. Ja, lass uns sofort nach Hause gehen."
Marc ergriff seine Freundin am Arm und zog sie mit sich nach Hause.
Susan versuchte zwar, zwischendrin anzuhalten, um den Verletztden Wasser zu geben, aber Marc setzte sich durch und zerrte Susan unbarmherzig in ihre halbwegs sichere Wohnung.
Dort angekommen riss Marc sich seinen Papieroverall vom Leib und zwang Susan dazu, sich auszuziehen. Anschließend duschten sie, um die verseuchten Staubpartikel loszuwerden.
Im Fernsehen hielt der Präsident gerade ein Ansprache.
"Liebe Landsleute! Unser schönes Boston wurde Opfer eines infamen radioaktiven Anschlags.
Unseren Erkenntnissen zufolge waren die Täter chinesische Terroristen.
Da die chinesische Regierung offensichtlich nicht gewillt ist, sich in ausreichendem Maße ihres Terrorismusproblems anzunehmen, werden wir diese Aufgabe übernehmen müssen.
Wer im Kampf gegen den Terrorismus nicht auf unserer Seite ist, ist als wäre er selbst ein Terrorist.
Ich fordere all unsere jungen Amerikaner auf, sich unserem Kampf gegen den Terror anzuschließen."
Susan runzelte die Stirn: "Das glaube ich nicht, dass es Chinesen waren. Ich habe da ein paar Wortfetzen gehört, die jetzt erst Sinn ergeben. Das war irgendwas wie: und sie werden glauben, dass der Anschlag von Chinesen verübt wurde und sich willig in den nächsten Krieg stürzen - haben wir das nicht gut hingekriegt? Die Leute, die das gesagt haben, waren nicht verletzt, weiß ich noch. Und wenn ich mich recht erinnere, hatten die so ähnliche Anzüge an wie du. Mein Multi-Scanner hat das Gespräch vielleicht sogar aufgezeichnet."
"Sehr merkwürdig. Ich mag mir ja gar nicht ausmalen, was das bedeuten würde, wenn es stimmt. Dass unsere eigenen Leute eine ganze Stadt opfern, nur um einen Krieg zu rechtfertigen! Dann würde auch der Spruch mit der Demokratenhochburg plötzlich Sinn machen, den ich unterwegs aufgeschnappt habe."