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Schnädelbach

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15.05.2007
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Schnädelbach

Auf einmal traf ich Schnädelbach.
Er zog mich in eine Nebenstraße, drängte mir den Besuch eines kleinen italienischen Cafes auf und ich entschloß mich, ihm nachzugeben.
Einige Tische und Stühle standen vor dem Lokal auf der Straße. Schnell setzten wir uns in den Schatten des Hauses hinein. Die ungesunde Hitze dieses Sommers peinigte den menschlichen Körper und machte jede überflüssige Bewegung zur Qual.
Der Kellner kam mit müdem und desinteressiertem Gesicht näher.
Schnädelbach fragte mich, Kaffee? Ich nickte und er bestellte zwei. Der Kellner wartete noch einen Moment, ehe er sich langsam abwandte.
Wir saßen und blickten aneinander vorbei.
Die Straße war schmal und für den Autoverkehr gesperrt. Mein Blick glitt an der gegenüberliegenden Hauswand entlang und blieb an einem Fenster hängen; ein Staublappen wurde ausgeschüttelt, eine Hand hielt ihn mit zwei Fingern, ganz entfernt eine Frauenstimme, kehlig.
Wie lange ist das her, sagte Schnädelbach, genau zwanzig Jahre ist es her, beantwortete er selbst seine Frage. Tatsächlich hatten wir uns mit dreizehn, vierzehn Jahren das letzte Mal gesehen. In der Grundschule saßen wir eine Zeitlang nebeneinander. Ich hatte fast gar keine Erinnerung an diese Jahre, an die anderen Schüler, die Lehrer, an Schnädelbach.
Wie ist es dir ergangen? fragte er. Der Kellner brachte den Kaffee in zwei kleinen Täßchen. Eine Taube gurrte um unsere Stühle.
Aus einer Haustür trat ein älterer Mann. Er warf uns einen prüfenden Blick zu. Langsam schlenderte er an unserem Tisch vorbei. Er hinkte leicht.

Schnädelbach lachte leise. Erinnerst du dich an Frau Wiese? Die Religionslehrerin?
Ich wandte den Kopf zur Seite. Ich mochte diese Art von Erinnerungen nicht. Weißt du noch, der und der? Und was für eine schöne Zeit das doch damals war… Natürlich, warum sollte ich mich nicht an diese blöde Kuh von Religionstante erinnern – aber war es nötig, daß ich meine Erinnerung unbedingt an diese Person verschwenden sollte?
Aber sag mal, was hast du gemacht, nach der Schule? Hartnäckig hakte Schnädelbach nach. Er sah noch genauso aus wie damals. Ein rundes pausbäckiges Gesicht mit Sommersprossen. Die Haare so geschnitten, als habe ihm jemand einen Topf aufgesetzt und einmal rundherum die Schere angesetzt, so einen Bubikopf eben. Seine Zähne waren immer noch so weiß, seine Finger immer noch so schmal. Er hatte etwas Unterwürfiges an sich. Schon damals wirkte er immer eine Spur zu devot. Ich hatte vieles vergessen, die Schulzeit, die Ängste, die Strafen.
Ich sah ihn an, antwortete nicht, trank den Kaffee.

Ich seh dich noch, wie du der Silvia Kolata nachgerannt bist und ihr an den Zöpfen gezogen hast. Und auf der Treppe hast du ihr von hinten in die Waden gekniffen, weißt du noch? Einmal hat sie dir eine geklebt und du bist die Treppe rückwärts runter gestürzt, erinnerst du dich? Und er lachte sein bubihaftes Lachen.
Ich hatte alles vergessen. Er irrte sich bestimmt.
Na ja, sagte er, vielleicht war’s auch der – der – wie hieß der doch – Gohlke, erinnerst du dich noch an Gohlke? So ein großer, bißchen blöd im Kopf, der immer auf dem Schulhof in die Ecke gepinkelt hat. Und hat der nicht auch geschielt?
Nein, auch an den pinkelnden, schielenden Gohlke erinnerte ich mich nicht mehr.

Aus einem anderen Fenster flatterten weiße Gardinen ein Stück heraus. Ich hätte gern in fremden Wohnungen herumgeschnüffelt. Ich trank den Rest und bittere Krümel sammelten sich auf meiner Zunge.
Er beugte sich zu mir. Diese Zeit, diese Jahre, die wir gemeinsam verbrachten, ich habe sie nicht vergessen. Für mich ist das alles, als ob es erst gestern war.
Ich habe fast gar keine Erinnerung an die Schulzeit, sagte ich unwillig.
Wohnst du in dieser Gegend? fragte ich und wollte das Thema gerne wechseln. Schnädelbach rief den Kellner. Nein, nein, nicht hier. Und du? grinste er verschmitzt bübisch.
Bin zufällig hier, murmelte ich, da hinten ist ein Antiquariat, da bin ich manchmal.
Ach, sagte Schnädelbach und sah verwundert an mir vorbei – oder durch mich hindurch?
Der Kellner schlurfte heran. Schnädelbach lud mich zum Eis ein. Ich sagte nicht nein und verlangte drei Kugeln, Nuß, Zitrone, Tiramisu, nein, keine Sahne. Er bestellte fünf Kugeln, nur Schokolade. Ich mochte keine Schokolade. Der Kellner sagte Gracie. Ich wollte ihn fragen, ob er aus Sienna wäre. Im vorigen Jahr war ich in Sienna. Eine schöne alte Stadt. Oder war es vor zwei, vor vier Jahren?
Er sagte, was suchst du da, in dem Antiquariat?
Manchmal weiß ich’s selbst nicht, sagte ich, einfach so mang den alten Schwarten rumschnüffeln, das gefällt mir.
Und? kaufst du auch alte Bücher? bohrte er weiter und hielt auf einmal eine Zigarette zwischen den Fingern. Sein demutsvoller Blick klebte auf meinem Gesicht. Ich bedankte mich schnell für das Eis und den Kaffee. Die Haut seiner Wangen war rosig, sie luden zum streicheln ein, rosig waren sie, wie bei einem dreizehn- vierzehnjährigen Jungen.

Die Taube hatte Gesellschaft bekommen, anscheinend war’s ein Pärchen das da mit ruckenden Köpfchen gurrend um uns herumpickte. Immer hatten die was zum Picken.
Ja, ich sammle alte Bücher, Reiseberichte besonders, sagte ich und warf den Tauben ein Stück von der Waffel zu, die in einer Eiskugel steckte.

So richtig alte, wertvolle? fragte Schnädelbach lauernd und lachte gleich darauf, was mich irritierte.
Nein, wehrte ich ab, nicht so teure, aber manchmal...
Da unterbrach er mich heftig. Ob ich mich denn noch an Kippert erinnere, unseren Klassenlehrer, der mit dem großen Bauch? An den mußte ich mich doch erinnern, an die Ohrfeige, die ich einmal von ihm bekommen hatte. Und an die Art, wie er das Klassenzimmer betrat, schnell und zielstrebig seinen Tisch ansteuerte, manchmal den Stapel Diktathefte unterm Arm, eine Zigarre im Mund, daran mußte ich mich doch erinnern.
Ja ja, der Kippert, sagte ich nur.
Ein Junge kam angeskateboardet. Die Täubchen schreckten hin und her und flatterten auf einen Balkon. Sie äugten zu uns hinunter.
Drei Eisklumpen lagen in meinem Magen. Schnädelbach starrte mich an, als wollte er mich auffressen. In seinem Blick lag eine wilde, ferne Faszination.
Ich erinnere mich an keine Ohrfeige, sagte ich endlich. Er verdrehte die Augen. Eine plötzliche Blässe schoß in sein Gesicht. Kein Wunder, er hatte das Eis irre schnell in sich reingestopft.
Nicht? Du erinnerst dich nicht? Ich erinnere mich ganz genau. Für mich war das alles erst wie gestern gewesen. Aber jetzt – warte mal, an den mußt du dich erinnern, der saß vorne in der ersten Reihe, dieser Dicke, nicht der ganz fette, der andere, komm, erinnere dich, Ulrich hieß er, nicht? Der hieß doch Ulrich oder? Bloß sein Nachname fällt mir nicht ein – ihr habt immer eure - Späße mit mir gemacht. Weißt du noch?
Sein käsegelbes Gesicht bekam rote Punkte. Die Zigarette verglühte ungeraucht im Aschenbecher.
Ihr habt mich an den Armen festgehalten – du immer am rechten, ich erinnere mich da ganz genau, komisch, nicht? – und habt daran gezogen. So richtig fest, daß es mir ordentlich weh tat...

Schnädelbach fasste sich an die rechte Schulter. Ein schmerzhaftes Lächeln begleitete diese Geste. Und dann habt ihr mir noch mit den Füßen in die Kniekehlen getreten, so daß ich natürlich hingefallen wäre, wenn ihr mich nicht festgehalten hättet. Aber manchmal habt ihr euch auch einen Spaß gemacht und losgelassen. Und dann fiel ich auf die Schnauze und ihr seid so schnell weggerannt und habt gelacht und gejohlt, wie ich da so unbeholfen auf dem Boden rumgekrabbelt bin. Erinnerst du dich nicht? Und einmal hat euch Kippert dabei erwischt und du konntest nicht mehr abhauen. Er schrie dich an – über den ganzen Schulhof hat er gebrüllt – und du standest da mit hochrotem Kopf. Ein Häufchen Schülerelend. Und dann gab er dir eine Ohrfeige. Das tat mir gut, glaubst du?
Ich starrte ihn an. Nun war sein Gesicht feuerrot. Mir war, als würden die Sommersprossen jeden Augenblick platzen.
Ich weiß zum Beispiel auch noch genau, daß du mir deine Rechenaufgaben nicht zum Abschreiben geben wolltest, dabei hattest du sie gerade selber irgendwo abgeschrieben, von der kleinen Renate vor uns, weißt du noch? Die hat schon mit zwölf so große Titten bekommen. Jedenfalls kam Kippert und kontrollierte die Hausaufgaben. Und ich hatte sie nicht, wieder mal nicht, ich konnte doch nicht gut mit Zahlen umgehen, obwohl du mir dein Heft hättest geben können, Zeit war immer noch genügend da, aber du hast dich geweigert, was für ein Theater du gemacht hast...
Hättst ja woanders abschreiben können, warf ich erregt dazwischen.
Nein, schrie Schnädelbach, nein, von dir wollte ich die Aufgaben haben, du hast neben mir gesessen – d u warst mein Freund, du!

Wieder erschien der Staublappen in der Fensteröffnung. Die Tauben entfernten sich endgültig aufs Dach. Hinter mir rollte der Junge wieder heran. Der Kellner stellte sich in die Tür und glotzte mit verschränkten Armen zu uns herüber.

Ach, sagte ich, viele haben abgeschrieben, bis auf die wenigen, die selber zu Hause...
Darum geht’s ja auch nicht, sagte er und schlug sich auf die Oberschenkel. Es geht um die Gemeinheiten, um die Quälereien.
Du warst auch kein Heiliger, verteidigte ich mich.
Ich habe mich nie so gemein und hinterhältig benommen wie ihr, wie du. Wie war das denn beim Schwimmunterricht? Unter Wasser hast du mich gedrückt oder mir im Becken die Badehose runtergezogen. Aber das hast du alles vergessen, nicht?
Sag mal, sagte ich, was willst du eigentlich von mir?
Gerechtigkeit, entfuhr es ihm blitzschnell, und Rache, zischte er und seine kleinen mausgrauen Augen blitzten, die Sommersprossen leuchteten.
Ich winkte dem Kellner.
Du bist natürlich genau wie die anderen, sagte Schnädelbach, von euren Gemeinheiten, die ihr begangen habt, wollt ihr nichts mehr hören, habt alles vergessen. Ich habe nichts und nichts vergessen, keinen Tag, keine Stunde, alles ist hier oben sorgfältig registriert, sagte er und tippte sich an die Stirn. Ich weiß noch genau, wer von euch mir welche Schandtat zugefügt hat. Mit jedem wird abgerechnet, hörst du?
Der Kellner hatte aufmerksam zugehört und längst die Rechnung auf den Tisch gelegt. Bevor ich zum Portemonnaie greifen konnte, hielt Schnädelbach schon einen Geldschein in die Höhe. Langsam gab der Kellner das Wechselgeld heraus, hörte zu was Schnädelbach in seinem Wahn ausplauderte.

Ich weiß viel über euch, sagte er drohend, über dich am meisten, weil du damals – weil du mich am meisten enttäuscht hast. Denn ich dachte immer – d u wärst mein Freund. Eine Zeitlang waren wir richtig intime Freunde, weißt du noch?

Ich stand auf. Es war unerträglich heiß geworden.
Schnädelbach sah mich von unten herauf an, wie eine Katze blickte er, unterwürfig, bettelnd.
Der Staublappen fiel wie ein toter, fetter Falter aus dem Fenster. Ein ferner Aufschrei begleitete den langsamen Fall. Ein junges Mädchen mit kurzen roten Haaren kam heran geschlendert, grüßte den Kellner, blieb stehen, redete mit ihm. Mitten in ihr Lachen hinein Schnädelbach: Ich werde mich rächen, die Großkotzigkeit wird euch und besonders dir zum Verhängnis werden. Dein Schicksal ist besiegelt, japste er.

Ich drehte mich um und ging.
Ich hatte alles vergessen.
Er tat so, als habe er all die Jahre minutiös in Erinnerung behalten. Einfach absurd. Er wackelte hinter mir her, blaffte: Kaum hattest du mal einen Groschen in der Hand, spieltest du den Angeber. Ich hatte fast nie Geld. Meine Mutter war allein. Du weißt, daß sie in der Fabrik schuften mußte. Nie hast du was abgegeben. Meine Bleistifte hast du zerbrochen, meine Schulbücher mit Tinte beschmiert, meine Schultasche in die Ecke geschmissen, daß sie aufplatzte.
Ich ereichte den Viktoria-Luise Platz. Die Ampel zeigte rot. Ich rannte trotzdem rüber. Soll er doch hinter mir her rennen und in ein Auto hinein. Soll er doch umkommen, dieser Idiot.

Ich versuchte die Begegnung zu vergessen. Dennoch blieb ich stehen und drehte mich nach ihm um. Er stand mit erhobener Faust auf der anderen Seite und röhrte über den Platz: Und der Wandertag, erinnerst du dich? Ihr habt mir meine Turnschuhe geklaut und sie in den Kanal geworfen. Ich habe euch angefleht, es nicht zu tun, habe geheult. Aber ihr Bastarde wart so stur in eurer Gehässigkeit. Euch allen gilt mein ewiger Fluch. Die Püffe und gemeinen Schläge werdet ihr teuer bezahlen. Hast alles vergessen, was? War für dich nicht wichtig, was? Kinderspielchen, hä?
Schnädelbach kreischte hysterisch.
Armes Schwein. Ich sah mich verstohlen um. Die Leute sollten nicht denken, daß ich der Empfänger seiner bösartigen Beschimpfungen war.

Einige Querstraßen weiter war das Antiquariat, ein schmaler Laden, im Hintergrund, etwas erhöht, ein Räumchen, nur von einer schwachen Funzel beleuchtet. Der Antiquar kam aus dem Halbdunkel hervor, beäugte mich als sei ich ihm unbekannt. Jedesmal das gleiche Theater. Dann zuckte sein Gesicht das Wiedererkennen heraus.
Ich fragte, ob er etwas Neues an Reiseberichten über Persien hereinbekommen hatte. Er wiegte bedenklich den Kopf hin und her, schnaufte, wiederholte langsam meine Worte und ohne eine Antwort zu erhalten machte ich mich selbst auf die Suche. Alles war wie immer. Wie ein Ritual. Er zog sich in seine Kammer zurück.
Bis unter die Decke reichten die Regale, vollgestopft mit den alten, manchmal dreckigen und eingerissenen, abgegriffenen und eingestaubten Schwarten. An einigen Stellen auf den Kanten der Regalbretter klebten vergilbte Zettel mit Sachbezeichnungen, die aber längst nicht mehr stimmten. Ich stieg die Leiter hinauf. Ganz oben befanden sich die Bücher zum Thema Geographie und Reiseliteratur. Mein Blick glitt über die Rücken der schräg stehenden Bücher. Ich entzifferte die Titel, mitunter kaum lesbar, ließ meine Augen rasch von einem zum anderen huschen, darunter viele alte Bekannte entdeckend. Hin und wieder zog ich ein Buch etwas heraus oder kippte es leicht an, um den Titel besser lesen zu können, erreichte so das Ende dieser Reihe, gerade noch hätte ich das letzte Buch mit ausgestrecktem Arm erreichen können, weiter wanderte mein Blick, nun am von meinem Standort aus unerreichbarem Regal neben dem Fenster vorbei, durch die schmutzige Scheibe hindurch auf die Straße und da stand Schnädelbach, das Gesicht fest gegen das Glas gepreßt.
Ich flüchtete aus dem Geschäft. Draußen hätte ich mich beinahe auf ihn geworfen, hätte ihm, wie damals, vors Schienbein getreten, hätte ihn angespuckt, ihn an den Bubihaaren gezogen, ihn noch einmal die Torturen von damals spüren lassen wollen. Aber ich beherrschte mich. Der kriegt mich nicht. Nach Jahren taucht er plötzlich auf und reibt mir seine unverdaute Schulvergangenheit unter die Nase.

Was soll das? herrschte ich ihn an, was willst du denn?
Ich habe dich seit damals quasi nicht aus den Augen gelassen. Dich und einige andere. Ach – übrigens – der Ulrich Breiner, von dem wir vorhin sprachen – also, der hatte letzte Woche einen Unfall – man kann es wenigstens so nennen – schon davon gehört?
Sein spitzbübisches Gesicht machte mich rasend. Na und? rief ich und wischte mit der Hand in der Luft herum. Gleich drehten einige vorbeigehende Mitbürger ihre Köpfe. Willst du mir drohen, ja? schrie ich und nun blieben einige sogar stehen. Mich sahen sie entrüstet an, nicht ihn, nicht Schnädelbach, nicht den, der mich anscheinend in eine Falle locken wollte.
Schnädelbach grinste noch breiter und zuckte mit den Schultern. Ich ließ ihn stehen und hastete davon.
Ich blicke nicht zurück, dachte ich und: Ulrich hatte einen Unfall?
Was wollte er mir damit sagen? Lächerlich. Aber ich bekam ein ungutes Gefühl und dann blieb ich stehen und blickte doch zurück. Von Schnädelbach keine Spur.

Aber dann stand er schon vor meiner Haustür.
Ulrich, sagte er, war ein begeisterter Radfahrer und wurde von einem Kleinbus so mir nichts dir nichts auseinandergerissen. Na ja, der Tod lauert immerzu um uns – zwei süße Kinderchen sind nun Halbwaisen und seine noch schöne Frau ist Witwe geworden, aber Hauptsache, er hat seine gerechte Strafe bekommen.
Ich wollte nicht mehr auf seine Wort achten, wollte mir sein dämliches Gelaber nicht länger anhören, war bemüht meine Betroffenheit, die sein Erscheinen bei mir ausgelöst hatte, zu unterdrücken. Schnell war ich ins Haus gegangen, zwei Stufen auf einmal nehmend in die dritte Etage gespurtet, hatte schon unterwegs die Schlüssel aus der Hosentasche gezerrt und schloß nervös und unkonzentriert die Wohnungstür auf.
Eine Weile blieb ich im Korridor stehen, lauschte, aber im Treppenaufgang blieb es still. Ahnungsvoll ging ich ins Wohnzimmer. Zögernd trat ich ans Fenster. Natürlich. Schnädelbach auf der anderen Straßenseite. Als er mich bemerkte, hob er drohend die Faust und öffnete den Mund. Gottseidank verstand ich nichts.
Beobachtet will er mich haben? Und Ulrich? Wie hieß er noch – Breiner –
Ich suchte im Telefonbuch. Zwei Ulrich Breiner gab es, gleich beim ersten war ich richtig.
Großes Erstaunen. Allmählich erinnerte er sich, sprach etwas schwerfällig und klang leicht angesoffen. Ich dachte, also spinnt Schnädelbach von vorne bis hinten. Ich dachte, sagte ich, ich hätte dich kürzlich mit’m Fahrrad gesehen. Er besitze überhaupt kein Fahrrad. Es gehe ihm momentan nicht so gut, seine Ehe sei im Eimer, begann er zu jammern.
Ich hörte kaum zu, ließ ihn ein bißchen reden, merkte, daß er nebenbei Pausen einlegte, schluckte, also doch besoffen. Irgendwann unterbrach ich ihn und sagte, daß ich Schnädelbach getroffen hatte. Es dauerte, bis ihm klar war, wen ich meinte.
Nee, sagte er, da haste dich getäuscht. Denn kannste nich getroffen haben, der iss doch damals gestorben. Erinnerste dich nicht? Irgend so’ne Blutkrankheit, weißte nicht mehr?
Langsam legte ich den Hörer auf.

War es in der sechsten, in der siebenten Klasse? Auf einmal kam Schnädelbach nicht mehr. Dafür trat unser Klassenlehrer Kippert vor uns hin und sagte, daß Schnädelbach im Krankenhaus sei. Und ein paar Wochen später sagte Kippert dann, Schnädelbach sei gestorben und zwei Schüler sollten ausgesucht werden, um als Abordnung der Klasse an der Beerdigung teilzunehmen. Ich sei doch sein Freund gewesen, hieß es, ich müßte mitgehen. Aber ich weigerte mich. Nein, von Freundschaft war doch nie die Rede, wir waren kaum zusammen, log ich, denn in Wahrheit hatte ich ihn oft zu Hause besucht und er war einige Male bei mir gewesen. Wir hatten gespielt, waren Baden gegangen im nahen Schwimmbad und wir hatten unsere Körper mit gegenseitiger Neugier angefaßt und uns lustig gemacht. Es kam auch vor, daß wir uns umarmten, vielleicht, weil wir zu Hause niemanden hatten, der uns in die Arme nahm, uns liebkoste. Wir spielten Eheleute und in seiner Wohnung legten wir uns ins Bett und taten so, als wären wir Mann und Frau. Einmal aber überraschte uns seine Mutter, die gegen Mittag von der Arbeit kam, wie wir im Bett lagen, so nackt, so unschuldig. Danach durfte ich nicht mehr zu ihm und meine Mutter verbot mir, mit ihm zu spielen. Kurz danach verschwand Schnädelbach aus der Schule, aus meinem Leben.

Ich trat ans Fenster, sah hinunter.
Schnädelbach, mit spitzbübischem Grinsen, devot heraufblickend und wenn er lachte zeigte er eine Reihe kleiner blendendweißer Zähne. Zögernd schob ich die Gardine zur Seite. Dann öffnete ich das Fenster und winkte ihm zu. Er wartete eine Weile, dann überquerte er, hüpfend wie ein fröhlicher, sorgenfreier Junge, die Straße.
Ich ging zur Tür, öffnete und wartete auf Schnädelbach...

 

Hallo Hawowi,

habe deine Geschichte schon vorgestern gelesen, dachte lass mal erst andere einen Kommentar abgeben. Leider tut es niemand, also fange ich an.
An deiner Geschichte gibt es nichts zu meckern, realistisch geschrieben, als Leser ist man neugierig, wie die Geschichte zu Ende geht und doch das Ende gefällt mir so gar nicht. Warum hast du nicht weiter geschrieben? Das ist gemein, auch ich warte auf Schnädelbach ... mich so im Regen stehen zu lassen, na warte, irgendwann wenn ich nicht mehr zu den Lebenden gehöre, komme ich und nimm Rache.:D

Bis dahin liebe Grüße aus der Weltflucht

 

Hallo, Hawowi,

Deine Geschichte gefällt mir & ich habe wie Weltflucht zunächst gedacht, darum jetzt ein paar Worte.

„Schnädelbach“ beginnt mit einem Paukenschlag: „Auf einmal traf ich Schnädelbach.“ Kein Mensch weiß zunächst, wer das ist, selbst nicht der Ich-Erzähler. Seit zwanzig Jahren haben beide sich nicht mehr gesehen, damals waren sie höchstens vierzehn Jahre alt gewesen. Sie waren einmal Klassenkameraden. Alte Erinnerungen wirft S. auf und lügt, „was für eine schöne Zeit das doch damals war.“ Denn S. ist von seinen „Schulfreunden“ gedemütigt worden und sinnt nun auf Rache… und das weitere Geschehen auf den ca. sechs Seiten will ich nicht verraten, sofern das Ende nicht schon durch Weltflucht angedeutet ist.

Die Geschichte ist gut erzählt, bis auf einige schwächelnde Formulierungen. So schreibstu: „Die ungesunde Hitze dieses Sommers peinigte den menschlichen Körper und machte jede überflüssige Bewegung zur Qual.“ Wahrscheinlicher ist aber, dass jede Bewegung zur Qual wurd’ und darum vermieden wurde, soweit sie sich vermeiden ließ.

„Ein Junge kam angeskateboardet.“ Besser: er kam auf dem Skateboard daher(oder: angedonnert).

Die Rechtschreibung ist bis auf die Verwendung des „ß“ m. E. i. O. Die Regel lautet, dass nach stimmlosen s-Laut nach kurzem Vokal doppel-s geschrieben wird (in der Reihenfolge der Erscheinung): Nuss; muss(t(e)); schoss; dass; gepresst; schloss; bisschen; angefasst

Letztlich wird Gott sei dank auseinander, der Gottseibeiuns aber zusammen geschrieben.

Gruß

Friedrichard

 
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Hallo Weltflucht

danke für deinen Beitrag zu meiner Geschichte, freut mich, wenn du nichts zum Nörgeln gefunden hast - na ja, fast nichts. Das mit dem Ende ist doch ganz praktisch: Du kannst dir selber was ausdenken, oder nicht. Ich hab es offen gelassen, weil die Geschichte an der Stelle einfach zu Ende ist. Der Erzähler hat erfahren, dass er sozusagen einer Einbildung aufgesessen ist. Warum das so war? Da sollen sich psychologisch Geschultere als ich mal den Kopf zerbrechen.
Außerdem: Ich lass dich nicht im Regen stehen. Wenns regnet müssen wir beide untern Schirm.

Ich grüße dich vielmals
Hawowi

Hallo Friedrichard

Freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.
Zu dem Ende kann ich nur auf meine Antwort an Weltflucht verweisen. Ich weiß jetzt auch nicht, ob ich nochmal über den Text gehe und mir eine andere Lösung ausdenke, eher nicht.
Über den langen Satz mit den heißen Sommer aber mache ich mir schon Gedanken, habe aber noch keine befriedigende Lösung gefunden. Aber da bleib ich dran.
Ebenso mit dem angeskateboardet, obwohls mir gefällt.
Die neue Rechtschreibung ist bei mir noch nicht so wirklich angekommen. Danke für die Hinweise.

Viele Grüße
Hawowi

 

Hallo Hawowi,

wie meinste das, wir beide unter einem Schirm und wer hält ihn dann?:D

lg. Weltflucht

 

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