Schnecke
Wie ist das bloß passiert?
Fragen Sie sich das auch manchmal? Wie konnte ich nur in eine solche Situation geraten? Warum ich?
Tja, warum nicht? Irgendeinen muss es ja treffen.
Nun, ich kann Sie beruhigen, wenn Sie denken, ihnen ist etwas Schlimmes widerfahren, dann sind Sie besser dran als ich.
Warum? Nun, weil Sie noch immer herumlaufen und das hier lesen können. Nein, warten Sie, das können Sie nicht. Ich schreibe es ja gar nicht auf. Ich phantasiere. Ich bilde Gedankengebäude, um mich von meiner Situation abzulenken.
Dieser Text existiert nur in meinen Gedanken. Sie existieren nur in meinen Gedanken.
Verdammt! Nicht aufhören! Lesen Sie weiter, solange Sie lesen denke ich, und solange ich denke, lebe ich!
Nun, wenn man meinen Zustand noch leben nennen kann.
Ich sehe schon, Sie verlieren langsam die Geduld. Ich muss mit Einzelheiten herausrücken, um Sie bei der Stange zu halten.
Also gut. Ich erzähle Ihnen, wie es angefangen hat, aber seien Sie gewarnt, es ist noch nicht vorbei, ich kann also nicht absehen, wie lange die Geschichte wird.
Bevor ich aber anfange, würde mich interessieren woran Sie jetzt denken? In welcher Situation befinde ich mich wohl? Nein, sagen Sie es mir nicht. Nur seien Sie nicht enttäuscht, wenn Sie von der Profanität meiner Lage erfahren.
Immerhin habe ich die Zeichen gesehen. Ich habe sie nur nicht beachtet. Na gut, hinterher ist man immer klüger, aber was würden Sie denken, wenn Sie eines Tages nach Hause kommen, und eine Schleimspur führt aus dem Ausguss im Waschbecken zum Kühlschrank?
Nun gut, es hatte viel geregnet und wir hatten eine Schneckenplage. Draußen krochen unzählige von diesen schleimigen, hauslosen Exemplaren herum. Ihre Schleimspuren waren überall zu finden, beim Gathering waren sie sogar in die Zelte gekrochen. Gott sei Dank ist damals noch niemand befallen worden.
Ach, wen belüge ich? Hätte ich gewusst was mir bevorstand, hätte ich mit Freuden andere mein Schicksal ereilen lassen, wenn es mir dadurch erspart geblieben wäre.
Aber entscheiden Sie selbst.
Vielleicht hätte es ja schon gereicht, den Eisschrank auszuräumen und zu desinfizieren. Aber es war nichts darin zu sehen!
Nichts! Keine Schnecke, kein Schleim - absolut sauber!
Wer weiß? Vielleicht war es auch gar nicht der Eisschrank, vielleicht holt es einen einfach so. Vielleicht sind ja die Anderen auch noch dran?
Jedenfalls bin ich eines Morgens aufgewacht und konnte mich nicht bewegen.
Also, ich lag da in meinem Bett und war bei klarem Verstand, aber mein Körper gehorchte meinem Willen nicht.
Nein, das ist nicht ganz richtig. Mein Kopf schien in Ordnung zu sein. Ich konnte meine Augen öffnen und schließen, meine Kiefer auf und zu klappen, mit den Ohren wackeln und mit der Zunge rollen.
Eine Menge nutzloser Fähigkeiten waren mir also geblieben. Aber ich konnte nicht sprechen und auch nicht atmen.
Ich weiß, was Sie jetzt denken: "Wie kann er noch leben, wenn er nicht atmet?", nicht wahr?
Nun, ich sagte nicht, dass ich nicht atmete, ich sagte nur, dass ich es nicht mehr konnte.
Wissen Sie, ich bin ein sehr analytischer Mensch. Und so versuchte ich, meine Situation zu ergründen.
Ich war also am Leben, das bedeutete, dass die wichtigsten Körperfunktionen noch intakt waren. Mein Herz schlug, das konnte ich an dem Rauschen in meinem Ohr hören, und ich atmete.
Aber, auch wenn Atmen eine mehr oder weniger automatische Körperfunktion darstellt, ist man dennoch in der Lage, es bewusst zu kontrollieren. Aber ich war dieser Fähigkeit beraubt. Ich konnte weder die Atemfrequenz verändern, noch meinen Atem anhalten.
Was meinen Körper nicht davon abhielt, diese Dinge trotzdem zu tun. Mein Atem fing an, stoßweise zu gehen, abgewechselt von ruhigen Phasen.
Etwas atmete für mich. Es schien, als ob dieses Etwas versuchte, die Funktionen meines Körpers zu ergründen.
Als mein Atem plötzlich aussetzte, glaubte ich schon, mein Ende wäre gekommen. Ich hatte schreckliche Angst. Die Hilflosigkeit meiner Lage machte es noch schlimmer. Ich fing sogar an zu heulen, eine weitere nutzlose Fähigkeit, die mir geblieben war.
Falls mein Gehirn noch in der Lage gewesen wäre, irgendwelche Befehle an den Rest meines Körpers zu schicken, hätte ich wahrscheinlich auch ins Bett gemacht.
Mein Zustand hatte also auch positive Seiten.
Obwohl, ich wusste ja nicht, was das Etwas noch so an Körperfunktionen ausprobieren wollte.
Nach dem Atmen schien es eine Weile zufrieden zu sein, nichts geschah.
Ich lag also da und überlegte, was ich tun sollte.
Abwarten! Ha! Was denn auch sonst?
Wann würde mich jemand finden? Die Nachbarn? Niemals, die hatten Besseres zu tun als sich zu fragen wo ich war. Ich hatte Urlaub, noch weitere fünf Tage die mich niemals vermissen würde.
Nun, zu dem Zeitpunkt wollte ich noch nicht mit dem Schlimmsten rechnen, ich hatte Hoffnung, dass mein Zustand sich verbesserte.
Das tat er aber nicht.
Er verschlechterte sich.
Nun, um genau zu sein, mein Körper begann, sich zu bewegen.
Ja! Stellen Sie sich vor, wie meine Arme und Beine sich langsam und ruckartig zuckten und ich ungelenk herumtanzte wie William Shattner, wenn er versuchte darzustellen, dass sein Körper von Außerirdischen übernommen worden war.
Falsch! Ganz falsch!
Das Etwas hatte wahrscheinlich nicht einmal eine abstrakte Vorstellung von Gliedmaßen. Es hatte gelernt, meine Muskeln zu bewegen. Der aufrechte Gang jedoch, blieb ihm verwehrt.
Stattdessen vollführte meine Haut kleine Wellenbewegungen, die meinen Körper langsam aber sicher vorwärts bewegten.
Wie eine Raupe.
Nein! Wie eine Schnecke.
Es kroch mit den Füßen voraus und schleifte meinen Kopf und die Arme hinter sich her. Ich lag auf dem Bauch, was sich mir nicht zum Vorteil gereichte, denn als es vom Bett herunterkroch, schlug ich mir auf dem Fußboden die Nase blutig, als mein Kopf irgendwann nachrutschte.
Es kroch mit mir etwa zwei Stunden im Zimmer herum, bis es eine Tür fand, die offen stand.
Als wir um die Ecke im Gang waren, bemerkte ich mit Schrecken, dass auch die Tür ins Treppenhaus offen stand. Von unten hörte ich die Geräusche der Eingangstür, die von sanftem Wind bewegt gegen die Wand schlug. Der Weg nach draußen war frei! Warum zum Teufel hatte ich nicht abgeschlossen?
Da fiel mir ein, dass ich mich gestern ja betrunken hatte, und nicht einmal wusste, wie ich nach Hause gekommen war.
Zu diesem Zeitpunkt begann in mir ein Verdacht zu keimen. War das Etwas etwa schon länger in meinem Körper und hatte nur auf die Gelegenheit gewartet, dass es freie Bahn nach draußen hatte, um ihn zu übernehmen?
Vielleicht hatte es mir auch nur deshalb die Kontrolle über meinen Kopf gelassen? Um sich über mich lustig zu machen? Um mir zu zeigen wie unheimlich schlau es war?
Gut, ich gebe zu, zu diesem Zeitpunkt begann ich auch wahnsinnig zu werden. Aber seien Sie ehrlich, wer hätte mehr Grund dazu als ich?
Das Etwas schien jedenfalls ein eindeutiges Ziel zu haben, denn es hielt direkt auf die offene Türe zu. Die Stufen hinunter zu kriechen würde meinem Kopf nicht gut bekommen.
Noch bevor wir unten angekommen waren, begann es dunkel zu werden. Mittlerweile wusste ich was es wollte. Ich konnte es in meinem Kopf hören.
"WASSER"
Es wollte zum Fluss und ich konnte es nicht aufhalten.
Inzwischen war es stockdunkel geworden. Wir krochen ohne Geräusch zur Tür hinaus.
Ich konnte die Nachbarn hören, wie sie hinter ihren Zäunen und Hecken lachten und sich im Schein von Teelichtern auf der Terrasse unterhielten. Niemand nahm von mir Notiz.
Wir waren fast über die Schwelle als mich eine unbändige Wut packte. Ich wollte das Ding nicht einfach so davonkommen lassen. Ich setzte ihm das Einzige entgegen dessen ich mächtig war.
Meine Zähne.
Jetzt liege ich gerade hier in der nächtlichen Dunkelheit an meiner Türschwelle und habe meine Zähne in die Aluminiumschwelle geschlagen, die das Innere meines Hauses von der Außenseite trennt. So hindere ich das Etwas, das unvermindert weiter zu kriechen versucht, daran sein Ziel zu erreichen.
Ich danke Ihnen, dass Sie mich bis hierher begleitet haben, auch wenn Sie nicht existieren.
Erinnern Sie sich? Ich hatte Ihnen am Anfang gesagt, die Sache sei noch nicht vorüber.
Mittlerweile ist es mir auch egal, was mit mir wird. Es geht mir nicht darum, meinen Körper zu retten, sondern das Etwas mit in den Tod zu nehmen.
Ich bin wohl doch wahnsinnig geworden. Schämen Sie sich, Sie haben schlechte Arbeit geleistet.
Es ist bereits die zweite Nacht. Wenn ich ein weiteres mal bis zur Morgendämmerung durchhalte, kriecht es zurück ins Haus. Anscheinend verträgt es keine Sonne.
Ich habe schrecklichen Durst, ich beginne das Etwas zu verstehen, aber ich will ihm nicht erlauben mich einfach so zu benutzen. Ich werde ihm zeigen, dass es sich den Falschen ausgesucht hat.
Nur noch wenige Stunden bis Sonnenaufgang. Die Anstrengung hat mich gestern bereits bis an den Rand meiner Kräfte gebracht. Meine Kiefer schmerzen, ich muss durchhalten, dann kann ich mich den Rest des Tages ausruhen.
Höchstens noch 3 Tage. Ich werde es schaffen.
In der Ferne donnert es und die ersten Tropfen fallen.
Ich glaube, ich höre ein Kichern in meinem Kopf