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Schnee über der Stadt
Dicht fällt der Schnee auf die Stadt herab. Beckmann steht am Fenster, eingemummt in eine Decke, betrachtet die winterliche Straße, lauscht den vor Kälte klirrenden Motoren einzelner Autos und beobachtet zwei Frauen die sich über die verschneiten Bürgersteige flüchten.
Neunzehn Grad unter Null. So kalt ist es nun schon, denkt Beckmann, der das Außenthermometer vor seinem Fenster abliest. Er reibt sich die kalten, alten, rauen Hände und schlürft zum Ofen hin, zerkleinert Papier- und Pappreste, lädt sie zusammen mit Holzspänen in die schwarze Öffnung hinein und entzündet ein Streichholz. Schnell züngeln und tanzen die kleinen Flammen wie treue Kameraden in das Innere des Ofens. So ist das nun, denkt er, so folgt der einen Generation die Nächste. Wir hinterlassen verbrannte Erde und schleichen uns heimlich davon.
Maria geht zum Herd, nimmt den kochenden Tee von der Platte, füllt ihn in die Kanne, gießt sich selber eine Tasse voll ein, trinkt, schmiert derweil Brote für den Tag, packt alles in eine Tasche und zieht Mantel und Schuhe an. An der Tür blickt sie noch einmal zurück, betritt dann eilends die Straße, wo ihr ein scharfer, eisiger Wind entgegenschlägt, sendet einen Blick an der alten Fassade hinauf und bemerkte, wie schon manchmal, die Silhouette eines Mannes in dem Zimmer über dem Ihrigen. Dann zieht sie ihr Tuch enger, wendet ihr Gesicht dem Wind und den Schnee zu und stapft davon.
Der Ofen ist mittlerweile ausgegangen und Beckmann steht noch immer am Fenster und schaut auf die Straße hinab.
„Was nützen mir Erinnerungen? Tag ein Tag aus wollen sie nicht von mir lassen, wiegen schwerer als Kohlen und gebrauchen kann man sie doch nicht. Was taugt das Geschwätz von besseren Zeiten? Einen Scheißdreck waren sie besser und froh sollte man darüber sein, dass sie aus unseren Köpfen verschwinden.“
Beckmann geht wieder zum Ofen, flucht über sein Ungeschick das Feuer ausgehen lassen zu haben, zündet es erneut an und stellt sich wiederum an das Fenster.
„Doch alte Geister jagen mich, rumoren in meinen Eingeweiden, dass mir der Appetit vergeht. Jedes Jahr mehren sie sich in meinem Hirn. Spielen mit mir. Kann sie nicht greifen. Blenden mich einmal mit diesem, mal mit jenem. Närrisch blitzen Fetzten vergangener Jahre wieder auf. Kaum langen dann meine knöchernen Finger nach ihnen, schwinden sie eilends. Welcher Strom treibt sie wohl zurück?“
Maria sitzt am Fenster eines Straßenbahnwaggons, dreht verstohlen ihren Kopf zur Seite und lässt die Scheibe mit ihrem warmen Atem beschlagen.
„Kälte. Im Winter sterben muss schrecklich sein. Auch wenn ich tot bin, ich möchte lieber als Leichnam im Frühling im warmen Grase liegen. Im kalten Schnee erfrieren..."
Maria entdeckt einen Invaliden im Schneegestöber. „Was wird der Ernst wohl gerade machen. Ob er noch an mich denkt, an seine Versprechen?“