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Schnee von Weihnachten®
Da habe ich mir solche Mühe gegeben! Habe im Katalog praktisch alles abonniert: Essen® mit Baum, Baum mit Musik, Aussicht®, Geschenke, Überraschung. Und jetzt sitzt Mutter da und starrt verloren aus dem Fenster und Miriam tritt unterm Tisch die Luft mit ihren Füßen.
„Was ist das denn!“, hat Mutter ausgerufen, als sie das Fenster sah.
„Hallstatt“, habe ich geantwortet, „im Winter. Erinnerst du dich nicht, es war Opas liebste Aussicht®!“
"Lass Opa in Frieden. Außerdem ist das keine Aussicht, es ist eine Projektion."
Als hätte man früher mit Filmprojektionen ganze Zimmer beleuchten können! Das Sonnenlicht ist mittlerweile so gut kopiert, dass der Körper sogar Vitamin D bildet, wenn man lange genug am Fenster sitzt. Weswegen wir auch normalerweise den Strand von Koh Phi Phi laufen haben, nämlich für Miriam: das starke Licht soll positiv auf das Wachstum wirken. Sicherheitshalber nehmen wir natürlich auch die Tabletten.
Also Mutter schmollt wegen Hallstatt. Dabei war es normalerweise richtig teuer. Als Opa noch lebte, war's ein fetter Posten im Budget, jeden Monat. Bei Weihnachten© gibt es Hallstatt mit See für die nächsten zehn Tage fast geschenkt, mit Schneefall und allem. Und mich erinnert es an Opa. Miriam nicht.
„Das ist doof, Helene hat jetzt Beteigeuze mit Einmarsch der Vogonen.“
Das hat mir gefehlt! Mein Wohnzimmer mit Aussicht auf Fantasylandschaften und plündernde Horden.
Es klingelt, das ist das Essen. Als ich zurückkomme, haben die beiden bereits den Tisch gedeckt, und zwar so, dass sie demonstrativ mit den Rücken zum Hallstätter See sitzen, obwohl der Tisch an der Schmalseite für beide zu eng ist und kaum die Teller nebeneinander Platz haben. Ich öffne die Packung und verteile den Inhalt.
„Was ist das?“ Miriam streckt die Beine unter dem Tisch aus und drückt den Rücken gegen die Stuhllehne.
Ich schaue kurz aufs Etikett.
„Karpfen®“, lese ich vor, „mit Dampfkartoffeln an Pfannengemüse.“
„Das ist kein Karpfen“, stellt Mutter.
„Was ist Karpfen?“, will Miriam wissen.
Ich bin mir nicht sicher. „Fisch? Mutter, Karpfen ist Fisch, oder?“
Mutter macht eine ausladende Handbewegung nach hinten, die vermutlich besagt: Klar, früher war Karpfen Fisch, oder auch: Früher war alles besser.
„Dies ist kein Fisch.“ Sie pikt mit dem Finger in die weißgraue Masse.
„Iih!“, macht Miriam.
„Da hast du's!“, macht Mutter.
„Ich erwarte nicht von meinem zwölfjährigen Kind, dass sie sich erwachsen aufführt. Aber von meiner Mutter erwarte ich das! Es ist nicht meine Schuld“, zische ich sie an.
„Ich habe nicht gesagt, dass es deine Schuld ist, aber es ist auch ganz sicher nicht deine Aufgabe, mir ständig eure muffigen Errungenschaften unter die Nase zu reiben. Wenn du meine Meinung nicht hören willst, dann frag halt nicht!“
Ich weiß, dass es ein Fehler ist. Ich weiß, ich sollte den Mund halten. Statt dessen sage ich, was ich immer sage, seit fünfundzwanzig Jahren:
"Klar Mutter, neunzig Prozent der Menschen wollten lieber über als unter der Erde wohnen, damals. Die kannten aber auch nichts anderes! Und wenn 73 Prozent der Meinung waren, dass die Versiegelung der Landschaft gebremst werden müsste, waren satte 87 Prozent der Überzeugung, dass sie unbedingt eine asphaltierte Garageneinfahrt brauchten. Das war eine demokratische Sackgasse."
Mutter tappt mit der Gabel auf dem Essen herum.
"Noch nie besaßen wir so viele Daten", fange ich wieder an, "Noch nie lebten wir so friedlich. Einfache Korrelation."
Mutter legt die Gabel auf die Tischdecke, die ich eben erst abgewischt habe. Wann haben wir eigentlich aufgehört, uns zu streiten?
„Kannst du nicht einmal mitmachen? Und sei es nur der Kleinen zuliebe? Einmal ein nettes Weihnachten®, nur wir drei, ist das zu viel verlangt?“
„Und warum feiern wir nicht unser eigenes Weihnachten wie früher? Du wirst doch Essen in deinem Wohnloch haben! Dann singen wir ein paar Lieder, machen es uns gemütlich am Strand von Kofifi mit Wein und Schokolade. Wie früher.“
Mir ist der Appetit vergangen, ich streue Salz über den Teller. Miriam hat sich umgedreht. Mit offenem Mund sitzt sie da und starrt auf das Fenster. Draußen schneit es. Im dichten Gestöber verschwindet das Städtchen am See.
„Sie hat noch nie Schnee gesehen“, flüstere ich. Opas Hallstätter See war die alte Version gewesen, ohne Wetter. Und wahrscheinlich kann sich Miriam auch daran nicht erinnern, sie war zu klein, als er starb.
Mutter streicht Miriam über den Kopf. Typische Geste von ihr, hat sie bei mir auch immer gemacht und manchmal, wenn sie steht und ich sitze, macht sie's wieder.
Bevor sie meiner Tochter erklärt, dass da draußen kein Schnee ist, weil es kein draußen gibt, oder vielmehr, weil die bösen Chefs ihrer Mama keinen rauslassen, füge ich hinzu: „Ich habe drei Karten für Schnee®!“
„Schnee?“
„Wir werden heute rausgehen, du und ich und Miriam. Nach oben! Sie haben Schneekanonen aufgestellt, es gibt Musik und Licht und Geschenke und es ist tatsächlich draußen! Oben!“
Keine von uns war seit der Schließung oben gewesen. Was sollte man auch draußen, in den Stürmen des Starkregens, zwischen den Überflutungen und den Böen, die Busse von der Straße fegen konnten.
„Draußen? Ist das nicht viel zu gefährlich? Ist keiner zurückgekehrt, oder?“ Mutter steht auf und leert die Teller in den Müllschlucker.
„Das ist anders, es ist komplett von Weihnachten® organisiert. Sicherheitskräfte und alles. Eine halbe Stunde mit Geschenken. Wir müssen uns warm anziehen. Du freust dich doch, Mutter?“
Jetzt guckt auch sie abwesend auf den Hallstätter See. Die weiße Eisfläche zieht die Blicke meiner Mutter und meiner Tochter an, beide scheinen im Schnee zu versinken.
Auch ich erinnere mich an Schnee. Ich war neun Jahre alt und ging durch unsere Straße nach Hause, da war die Kontinentalversiegelung schon weit fortgeschritten, das Wetter außer Kontrolle, aber Mutter und ich wohnten noch in einem Haus mit Garten und Straßenlaterne an der Ecke. Es war dunkel, es schneite, und ich blieb unter der Laterne stehen. Ich drehte das Gesicht nach oben, die Kapuze rutschte mir vom Kopf. Über mir sah ich hunderte und tausende Sterne auf mich niedersinken. Sie schimmerten weiß und schienen kalt und warm zugleich. Sie traten in das Licht der Laterne und fielen langsam, so langsam, und doch gelang es mir nicht, einer den ganzen Weg bis auf meinen Mantel mit den Augen zu folgen. Klein waren sie, scharfkantig, aber wo sie aufeinandertrafen, bildete sich ein Flausch auf meinen Armen. Ich schaute in das Licht, das ununterbrochen auf mich zu schwebte. Ich war das Mädchen im Märchen, das mit Sternen beschenkt wurde. Langsam öffnete ich meinen Mantel, damit die Flocken auf meinen Hals fallen konnten, auf meinen Pulli und den blauen Winterrock. Als ich meinen Mund öffnete, um es in mich hinein schneien zu lassen, riss mich jemand am Arm.
„Hier ist noch ein Kind“, schrie eine Stimme.
„Alles in Ordnung?“ Die Frau hatte mich bei den Schultern gepackt und rüttelte an mir. Plötzlich war mir kalt. Sie packte mich zu ein paar anderen Kindern und Erwachsenen in ein Auto und wir fuhren durch den Schnee zum Eingang. Hinter dem Weiß des Schnees breitete sich das Grau der Kontinentalversiegelung in jede Richtung aus. In unserem Städtchen oder vielmehr in den paar Straßen, die noch bewohnt waren, war es mir nie so aufgefallen. Jetzt starrte ich auf die weißen Streifen, die links und rechts die Fahrbahnen markierten, und auf den Schnee, der allmählich eine graue Fläche bedeckte, die kein Ende zu haben schien. Deren Ende jetzt das Meer war. Ich wurde nach unten gebracht und in eine der unterirdischen Schutzschulen umgesiedelt. Opa kam in den Seniorenschutz.
Mutter folgte als eine der letzten. Meine Mutter, die Aktivistin. Ich war fast vierzehn, als ich sie wiedersah, und sie sah nicht gut aus. Sie hatte mit den anderen Aktivisten einen Wald nach dem anderen besetzt, war aus einem Wald nach dem anderen herausgetragen worden, mal die Hände, mal die Füße zusammengebunden, einmal auch Hände und Füße zusammengebunden. Eine Schlacht nach der anderen hatten sie verloren. Die Wälder, Wiesen, Felder, die Flussläufe, auch die Gärten und Parks, alles wurde von der Versiegelung geschluckt, dem größten Bauprojekt aller Zeiten. Wenn man von der asiatischen Kontinentalversiegelung absieht, natürlich.
Irgendwann war es vorbei: In den letzten Bäumen hingen die letzten Aktivisten, und Mutter kehrte zurück. Zu mir, zu Opa, ich weiß es nicht. Das letzte Gestrüpp wurde planiert, mit Sand bedeckt und endlich mit Asphalt übergossen.
Hier unter der Erde sind wir vor der Witterung sicher, und das Regenwasser, ganz gleich, wo es fällt, kann abgeleitet und gerecht verteilt werden. Während Mutter die Teller in den Spülschrank räumt, lasse ich den mitgelieferten Weihnachtsbaum in den Müllschlucker gleiten. Ein hübscher Tischbaum, der „Weihnachten bin ich zuhaus'“ spielt, wenn man ihn ausklappt. Für Mutter ist er vor allem eins: kein Baum. Ich finde etwas Schokolade und eine Dose Frisches Obst®.
„Das ist nicht frisch, das ist aus der Dose“, murmelt sie.
„Wenn ihr euch streitet, will ich nächstes Weihnachten® wieder zu Papa!“
„Zieh dich lieber warm an!“
Miriam guckt mich nur an, mit dem leeren Teenagerblick, der schon alles gesehen hat. Natürlich, wie soll sie sich warm anziehen! Es waren ja immer zweiundzwanzig Grad, oder achtzehn in Schlafräumen und auf den Fluren.
„Mutter, wir müssen sie warm anziehen!“
Miriam lacht, sogar Mutter lacht, als wir durch den Korridor Richtung Ausgang gehen. Miriam in der Mitte, Mutter hat sie bei der Hand genommen wie ein kleines Kind. Wir tragen Schals über Jacken und Strümpfe über Strumpfhosen und bunte Tücher auf dem Kopf – abenteuerlich sehen wir aus. Warm ist mir! Und wir gehen hinauf, hinaus! Erst den Generalkorridor entlang, der zu den Bahnhöfen führt. Unser Ausgang 49.447880,11.081175 ist nicht weit, ein alter Abzweig, der nur zu Wartungszwecken geöffnet wird. Unterwegs stoßen weitere Grüppchen zu uns, ebenfalls fest eingewickelt, jemand scheint einen Vorhang um die Schultern zu tragen, eine Frau hat sich eine Daunendecke vor der Brust verknotet. Einige singen, vermutlich ein Weihnachtslied, Mutter kennt es; ich summe, Miriam miaut leise mit. Wir kommen zu der ersten Stahltür, die in die Schleuse führt. Hier werden wir gescannt. Ich bin stolz, lege meinen Arm um Mutters Schulter. Sie trägt meinen alten Arbeitsblouson: „Daten schaffen Wissen – Wissen schafft Frieden“ steht darauf. Hätte nie gedacht, dass Mutter den je auch nur anfassen würde. „Institut für angewandte Personen-Studien“ auf der Rückseite. Wir gehen durch einen schmalen, fahlen Gang, hier ist von dem Weiß und Gold der Generalkorridore nichts mehr zu sehen. Die zweite Stahltür steht offen. Wind.
„Das ist Wind“, erkläre ich Miriam und zupfe an ihren Schals.
Wir steigen die Stufen hinauf ins Licht. Aus Lautsprechern scheppert Blasmusik. Hände, die uns die Stufen hinaufhelfen. Da ist Straßenpflaster, nass, nicht ausrutschen! Vor uns liegt auf einer Kühlfolie eine Art Schneehaufen. Über uns tanzen Flocken im Licht. Kinder kreischen, sie haben in den Schnee gefasst. Eins fällt auf die Knie und weint bitterlich. Jemand bückt sich, um es wegzutragen. Ich streiche Miriam über ihren Kopftuchturm, sie steht stocksteif. Scheinwerferlicht, kalte Luft, hinten ein rötlich schimmerndes Gemäuer, und über uns, sich immer und immer erneuernd, der Tanz der Schneeflocken. Miriam schaut nach oben, die Kleine ist hypnotisiert. Ich küsse Miriams Kopftuch und richte mich auf, mit der linken Hand greife ich nach Mutters rechter. Mutter? Ich drehe mich zu ihr, da steht ein Mann mit einem Kleinkind auf den Schultern, ich wende mich zurück: Wo ist Mutter? Die Schneekanonen werden lauter, die Flocken fallen dichter.
„HoHoho! Willkommen bei Schnee® von Weihnachten®! HoHoHo! Es gibt Geschenke! Wollt ihr Geschenke? Dann singt mit: Heiligabend bin ich zuhaus'! Zwo-Drei-Vier!“
Die Musik setzt wieder ein. Miriam miaut mit, den Kopf immer noch nach oben gereckt. Sei hat die Arme leicht angehoben, ihr Mantel öffnet sich ein wenig. Dass sie sich nur nicht verkühlt!
„Mutter? Anna!“ Ich rufe sie mit ihrem Namen, drehe mich um mich selbst. Der erste Kordon der Sicherheitskräfte hat sich aufgelöst, sie verteilen Glühwein, helfen den im Schneematsch herumrutschenden Zuschauern und bringen schreiende Kinder in Sicherheit. Aber weiter hinten, kaum zu erkennen im Schneegestöber, zeichnet sich eine zweite Reihe ab, hinter hohen Plexiglasschilden. Ob ihre Gesichter uns zugewandt sind oder ob sie hier sind, um uns vor etwas anderem zu schützen, etwas, das da draußen ist und das uns bedroht, ohne das wir es kennen - ich kann es nicht erkennen.
Ich ziehe Miriam ein paar Schritte rückwärts. Hier war einmal eine Straßenecke, braunrote Mauern, vermutlich Teil eines Historischen Monuments, das nicht abgetragen wurde.
Jetzt flüstere ich: "Anna?"“
Niemand ist hinter mir. Die Musik wird lauter: "Weihnachten bin ich zuhaus'". Sogar die Sicherheitskräfte singen mit. Miriam greift meine Hand. Vor uns Schnee®, der aus donnernden Kanonen ausgestoßen wird, hinter uns die Schwärze der Nacht. Asphalt.