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Schnee
SIEBEN
Maria überlegte, den Brief hier zurückzulassen. Brief? Sie warf einen Blick auf das Papier, das sie in der Hand hielt; kaum eine halbe Seite, drei Sätze, das war ihre letzte Mitteilung. Drei Sätze, an niemanden gerichtet.
Niemand ist mir eingefallen.
VIERZEHN
So endet es. Von Anfang bis Ende. Von hier nach dort.
Und das war unvorstellbar.
EINUNDZWANZIG
Niemand sieht mich, weil es niemanden gibt. Auch das hab ich nicht für möglich gehalten.
VIERUNDZWANZIG
Der Fahrstuhl öffnete sich, sie ging die wenigen Schritte zur Tür, die aufs Dach hinausführte. Sie ging nicht gleich hinaus, sondern blickte kurz zurück; der Fahrstuhl war noch da.
Mein letzter Begleiter; einer, der nichts hört und sieht. Der meinen blauen Lieblingsmantel nicht sieht, den ich als letzten trage, shocking blue.
Die Kälte traf ihr Gesicht. Sie zog den Reißverschluss hoch.
Dann schritt sie zur Brüstung; sie sah die beleuchteten Fenster im Gebäude gegenüber, Lichterketten.
So ist das, hier stehe ich. Und es ist schon vorbei.
Zweiundsiebzig Weihnachten.
Und ich bin der einzige Gast. Das dritte Mal ohne dich.
Sie dachte an ihn; an seine am Ende gebeugte Gestalt, an die tiefen Furchen um seine Augen. Jetzt war es eine Welt ohne ihn. Ganz, ganz ohne ihn, denn Erinnerungen zählten nicht.
Es ist nicht schwer, es ist leicht.
Sie erinnerte sich. An die Orte, die Tage.
Ich denk zurück an viele Gesichter.
Sie weinte.
Dann zerriss sie den Brief. Die Papierfetzen zerstreuten sich auf dem Boden.
Am Himmel seh ich tausend Lichter.
Sie machte sich daran, auf die Brüstung zu klettern.
Und eins nach dem anderen wird gelöscht.
Zögerte.
Nur noch ein Meter. Ein langer Weg hierher, aber jetzt nur noch ein Meter.
Sie hörte hinter sich ein Geräusch; sie erschrak, nahm das rechte Knie von der Mauer, langsam, wandte sich um. Eine Gestalt stand hinter ihr, nicht weit entfernt, groß, still. Als ob sie sich eben noch bewegt hätte. Wie bei diesem Spiel, Ochs am Berg.
Maria zitterte. “Wolfgang?”, fragte sie.
Schweigen.
“Bist du es?”
Der Mann trat einen Schritt auf sie zu und schüttelte den Kopf. “Nein. Nein – ich heiße nicht Wolfgang.”
Er trug einen langen schwarzen Lodenmantel; hatte graues, schütteres Haar. Sein Gesicht erinnerte trotz der Falten an ein Kindergesicht, große Augen.
Er deutete auf die Brüstung.
“Du willst springen?”, fragte er.
“Nein”, sagte sie. “Ich … will allein sein.”
“In Ordnung”, sagte er.
Maria schwieg. Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie bemerkte, dass er nicht ging. “Ich schaue mir hier nur … die Stadt … von oben an.”
“In Ordnung”, sagte er. “Aber ich … glaube das nicht.”
“Und wenn ich es wollte? Was dann? Wenn ich einen Grund habe, wenn …”
Er hob die Hände. “Nein, ich …”
Sie fragte laut: “Warum nicht? Warum nicht?”
Er zögerte.
“Vielleicht”, sagte er schließlich. “Weil … es auch morgen noch geht?”
“Sind Sie mir gefolgt?”, fragte sie.
Er zögerte erneut. “Ja. Ja, das bin ich.”
“Wozu?”
Das schien er nicht zu wissen. Überlegte, bis er sagte: “Es … ist kalt. Könnten wir nicht … irgendwo einen Kaffee zusammen trinken … in der Nähe? Ich laufe schon lang herum und schau mir die Häuser an und … die Bäume … die Leute ...”
Er schwieg, betrachtete seine Stiefel.
Sie steckte die Hände in die Taschen des Mantels.
Weil es auch morgen geht.
Was macht das schon, ein Tag.
Beide stehen ohne Bewegung, den Atem wie Nebel im Gesicht.
“Gut”, sagt sie schließlich.
Sie setzen sich in Bewegung, gehen hinein. Fahren schweigend nach unten, betreten schweigend den Gehweg; festgetretener Schnee unter ihren Schritten.
Ein Café, nur drei Blocks entfernt.
Sie nickt.
Bei einem Abfalleimer bleibt er stehen, greift in die Seitentasche seines Mantels und zieht ein Stück Papier heraus, das er zerknüllt und hineinwirft.
Sie blickt nach oben in den Nachthimmel; es hat wieder begonnen zu schneien.