- Beitritt
- 23.08.2001
- Beiträge
- 2.936
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Schneetreiben
Als ich erwachte, sah ich bereits dieses ganz typische Licht von draußen hereinbrechen. Genau beschreiben kann ich es nicht, es ist irgendwie hell und gleichzeitig sanft und gedämpft, wie eine Decke, die liebevoll ausgebreitet wurde. Aber vielleicht empfinde ich das auch nur so, weil die Ursache des Lichtes dieser Beschreibung sehr nahe kommt.
Meine ersten Schritte vor die Tür wurden von einer weißen, weiten Fläche gedämpft, die zu dieser frühen Stunde noch rein und makellos war. Unter meinen Füßen knirschte es, doch schien dieser Laut nicht weit zu kommen, keinen Hall zu besitzen. Ich kam mir vor wie in einer Märchenwelt. Wäre Schneewittchen oder die Hexe von Hänsel und Gretel um die Ecke gebogen, ich hätte mich kein bisschen darüber gewundert.
Statt Schneewittchen kam meine Nachbarin aus ihrer Haustür, grüßte freundlich und sagte etwas Belangloses über den Winter und dass sie gut darauf verzichten könne, aber ihre Kinder würden sich immer so freuen, wenn sie endlich rodeln könnten. Ich nickte und erwiderte höflich irgendetwas, ohne wirklich bei der Sache zu sein. Wie konnte jemand den Winter nicht lieben? Unbegreiflich. Während ich zu meinem Gartentor ging, peinlich genau darauf bedacht, den Schnee nur auf das Nötigste beschränkt zu zerstören, kuschelte ich mich tiefer in den Kragen meines Mantels, vergrub die behandschuhten Finger tief in den Taschen und freute mich auf diesen Morgenspaziergang. Das flache, rechteckige Päckchen, welches ich in der linken Tasche trug, drückte sich gegen meine Fingerspitzen und brannte darauf, herausgezogen zu werden. Ich widerstand diesem Drang, es war noch nicht so weit.
Auf meiner üblichen Runde schien alles zugleich vertraut und doch völlig neu zu sein: ich kannte jedes Haus und jeden Strauch, doch hatte der Schnee ihnen eine puderzuckrige neue Existenz verliehen, welche mir immer wieder mit ihrer Schönheit den Atem raubte und mich in meinem gewohnt schnellen Schritt unwillkürlich innehalten ließ. Die Bäume wirkten wie aus Papier geschnitten, die Gräser waren von glitzernden Kristallen nachgebildet, der See war überzogen von schlierigen Mustern, welche der Wind darauf gemalt hatte, als er mit den Schneeflocken seinen Hochzeitstanz einlöste.
Ich ging weiter, nahm wie immer den Weg hinaus in die Felder, vorbei an den letzten Häusern, hin zur Weite der norddeutschen Tiefebene. Hier war ich zuhause, hier konnte ich leben und atmen und von einem Horizont zum anderen blicken. Nichts hinderte mein Auge, kein menschlicher Baumeister beschnitt mich in meiner Bewegungsfreiheit. Das letzte Haus auf der linken Seite lag etwas zurückgezogen zwischen dunklen Kiefern und Eiben, wegen seines Efeubewuchses und der Tatsache, dass es seit Jahren verlassen war, nannte ich es insgeheim "das Hexenhaus". Heute schien die Sonne ganz vorsichtig auf die obersten Fenster und zeigte mir so deren winterliche Schönheit im vollen Ausmaß: der Frost hatte Eisblumen darauf gezeichnet, welche nun im Licht erblühten, als wären sie lebendig. Ich blieb eine Weile so stehen und nahm dieses Bild in mich auf, drückte auf den Auslöser meiner inneren Kamera, um so das Bild für mein späteres Leben zu bewahren.
Die Wiesen hatten sich in endlose Weiten verwandelt, eine Mondlandschaft in weiß, auf der vereinzelt silbrige Bäume ihre kahlen Zweige in den Himmel reckten. Mein Atem stand als weiße Wolke vor meinem Mund, mein Herz schlug bis zum Hals und schenkte mir eine seltene Lebendigkeit.
Als ich wieder zurückkehrte, sah ich, dass meine Nachbarin bereits ihren Weg bis auf die Platten vom Schnee gereinigt hatte und nun dabei war, auch den Gartenzaun wieder in seinem natürlichen Rot erstrahlen zu lassen. Konnte sie nicht wenigstens warten, bis es dunkel wurde, bis es keiner sah? Der Zaun wirkte auf mich wie eine frische Wunde, welche durch den reinen Verband durchblutet. Ich musste wegschauen, so sehr schmerzte mich dieser Anblick. Wieder stießen meine Finger an dieses kleine Päckchen, doch erneut hielt ich sie zurück. Nein, noch nicht.
Zurück im Haus kochte ich mir einen heißen Kakao, setzte mich damit an den Kamin, in welchem es gemütlich prasselte und nahm ein Buch zur Hand. Während ich mich in die Handlung vertiefte, meinen Kakao trank und hin und wieder Holz nachlegte, um dem Kamin genügend Nahrung zukommen zu lassen, vergaß ich alles um mich her. Als ich einige Zeit später aufsah, dämmerte es bereits, und als wäre das sein Stichwort gewesen, begnn mein Magen, laut und vernehmlich zu knurren. Ich stand auf und ging in die Küche hinüber, auf der Suche nach Nahrung. Pudding, Brot und Sambal Olek, ein Ei, Wurst. Ich nahm zwei Scheiben Brot, etwas Sambal Olek und ging ins Wohnzimmer zurück. Während ich begann, das Brot in die scharfe Sauce zu dippen und es dann genüsslich aufzuessen, las ich weiter. Erst, als es dunkel geworden war, legte ich das Buch beiseite, stand auf und zog wieder meinen Mantel an.
Meine Nachbarin hatte inzwischen jeden Stein in ihrem Garten blitzblank geputzt, nur der Rasen durfte noch eine weiße Decke tragen, welche jedoch von Kinderfüßen überall zertrampelt und von schweren Rollspuren eines werdenden Schneemannes durchzogen war. Der Schneemann stand mit schiefem Kopf und ebensolchem Grinsen am Tor und sah mich fast mitleidig an, als ich vorüber ging. Ich winkte ihm fröhlich zu und stapfte von dannen.
Als ich schließlich dort angekommen war, wohin es mich schon seit Tagen gezogen hatte, klopfte mein Herz so laut, dass ich meinte, jeder im Umkreis von zehn Schritten hätte es hören müssen. Zum Glück war weit und breit keine Menschenseele zu erblicken. Ich sah mich nach links und rechts um, dann betrat ich schnell das fremde Grundstück, nahm das Päckchen aus meiner Tasche und öffnete es. Ich betrachtete eine Weile den Inhalt, welchen ich nun in der Hand hielt, ging dann nah an das Haus heran und suchte nach einer geeigneten Stelle. Als ich sie gefunden hatte, steckte ich alle 40 Wunderkerzen in Form eines Ausrufezeichens in den Schnee, entzündete sie so schnell ich konnte und entfernte mich dann eilig vom Haus.
Wieder zuhause, machte ich mir zur Feier des Jahresendes eine Feuerzangenbowle. Dank meiner Großmutter hatte ich sogar alle dazugehörigen Utensilien und konnte so den Zuckerhut ordnungsgemäß entzünden und langsam in die Bowle tropfen lassen. Nach und nach stieg mir der Alkohol zu Kopf, doch war ich klar genug, um Lesen zu können. Mein Buch wartete auf mich, es schien mich zu locken und zu rufen. Ich las, trank und fühlte mich rundum wohl. Endlich hatte ich die Botschaft abgeschickt, welche mir so lange auf der Seele lag, endlich würde ich wieder ruhig schlafen können.
Gegen acht, die Bowle war fast alle und ich ziemlich betrunken, schaltete ich den Fernseher ein und zappte mich durch die Kanäle. In der Tagesschau brachten sie einen Bericht über einen Brand. Ich wollte schon weiterschalten, als ich das Haus erkannte. Für einen Sekundenbruchteil war ich wieder nüchtern, bevor der Alkohol sein Recht forderte und ich bewusstlos zu Boden stürzte.
__________
04.01.2003