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Schneewittchen in Blau
„Entschuldigung, ist hier noch frei?“
Arne blickt auf und sieht Theresa. Ein rundliches weißes Gesicht, das von dichtem schwarzen Haar in lockeren Wellen umrahmt wird.
„Theresa“, der Name rutscht ihm heraus, bevor ihm klar wurde, dass die junge Frau nicht Theresa sein kann. Noch bevor er registriert, dass die Nase dieses Mädchens ein bisschen breiter ist, die Lippen schmaler und die Augen blau statt braun. Erst, als er es gesagt hat, nimmt er den Ring in ihrer Augenbraue wahr, die leuchtend blaue Strähne, die sich zwischen den dunklen Locken ringelt und die Jugend des Mädchens. Theresa ist keine zwanzig Jahre mehr alt, wie damals, als er sie zuletzt gesehen hat.
„Bitte?“ Verwirrung ist auf das Gesicht des Mädchens getreten und Arne kann es ihr nicht verdenken. Ärgerlich über sich selber winkt er ab.
„Nichts, entschuldigen Sie bitte, Sie erinnern mich an jemanden. Natürlich können Sie sich setzen.“
Sie lächelt flüchtig, schiebt den Korbstuhl zurecht und lässt sich darauf fallen. Mit einer Hand legt sie eine überdimensionierte schwarze Umhängetasche neben sich auf einen Stuhl, mit der anderen greift sie nach der Getränkekarte auf dem Tisch. Arne mustert sie, während sie konzentriert blättert.
Sie trägt eine leichte Tuchhose in einem leuchtenden Blau und ein ärmelloses Top in der gleichen Farbe. Ihre bloßen Füße stecken in blauen Ledersandalen. Sie ist durch die Hitze gelaufen und Schweißperlen glitzern auf ihrer Stirn. In ihren Achselhöhlen haben sich dunkle Flecken gebildet. Schneewittchen in Blau, denkt Arne und muss lächeln.
Außer den dunklen Haaren hat sie kaum etwas mit Theresa gemein. Sie ist kleiner und rundlicher, mit einem Gesicht, das zum Lachen gemacht scheint. Trotzdem ist es fast schmerzhaft, sie anzusehen. Er hat so lange nicht mehr an Theresa gedacht, hat geglaubt, sie vergessen zu haben, alles überwunden und begraben. Und nun sitzt hier dieses Mädchen und plötzlich sind all die Erinnerungen und Bilder wieder da, so frisch wie damals, nach der Verabredung.
Sie legt die Karte auf den Tisch und lächelt Arne an. In einem Anflug von Scham wird ihm bewusst, dass er sie angestarrt hat. Verlegen erwidert er ihr Lächeln, und überlegt sich, wie schnell er von hier weg kann. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagt ihm, dass es noch mindestens eine halbe Stunde dauert, bis Björn ihn zum Kino abholen will. Wie immer ist Arne viel zu früh dran. Einen Augenblick lang zieht er in Betracht, einfach sein Buch aus der Tasche zu nehmen und zu lesen. Alles, nur um dieses Mädchen nicht ansehen zu müssen.
„An wen erinnere ich Sie?“
„Was?“ Ihre Stimme ist so unvermittelt in seine Gedanken eingedrungen, dass Arne einen Moment orientierungslos ist.
„An wen ich Sie erinnere. Eine Freundin?“ Ihr Lächeln ist offen, freundlich. Er spürt, wie ihm das Blut ins Gesicht steigt. Er greift nach der Karte und blättert darin, ohne zu lesen.
„Eine Bekannte“, antwortet er, den Blick auf das Foto eines Eisbechers gerichtet. „Ist schon länger her. Wir kannten uns aus der Uni.“ Ungebeten kommen die Bilder wieder.
Ein Pfiff, der ihr nachhallte, während sie über den Campus ging. Schwarze Haare, die flogen, als sie sich zu dem Pfeifer umwandte und ihn aus zornigen Augen musterte. Theresa, eine Schönheit, die es nicht sein wollte. Eine zornige Göttin. Arne konnte ihre Augen nicht von ihr wenden, wenn sie ihn passierte. Niemand konnte das, zumindest kein Mann. Sie beachtete sie nicht, keinen von ihnen.
Sie trug immer hochgeschlossene, weite Pullover und lange Hosen, als müsse sie sich verstecken. Alle Männer waren sich einig, dass sich darunter nur ein perfekter Körper verbergen konnte. Doch niemand wagte es, sich mit ihr zu verabreden, der Zorn in ihren Augen war zu groß. Bis Arne sie eines Tages in der Cafeteria abpasste. Es war eine Wette mit Björn gewesen, er hatte verloren und nun die Pflicht, sie zu fragen. Zu seinem größten Erstaunen sagte sie zu, ohne auch nur die Andeutung eines Lächelns.
„Ich bin Martha.“ Das Mädchen streckt ihre Hand über den Tisch und lächelt, als Arne sie ergreift.
„Arne“, erwidert er. „Martha, ist das nicht ein ziemlich ... ungewöhnlicher Name für...“ Er unterbricht sich und flucht innerlich. Musste er immer den gleichen Fehler machen?
„Für jemanden meines Alters meinen Sie?“ Martha lacht. „Ja, wahrscheinlich schon, aber meine Mutter fand den Namen toll. Und mir macht's nichts aus. Nicht mehr.“
„Theresa, ist das nicht ein ziemlich ... alter Name?“ Er war nervös, schwitzte, seine Hände waren feucht und fühlten sich an wie Fremdkörper. Sie saß ihm gegenüber in der Kneipe, steif, das Gesicht beinahe unbewegt. Nur eine kleine, steile Falte, die sich zwischen ihren Augenbrauen bildete.
„Ja und?“ Abweisung in ihrer Stimme, sie war gekränkt. „So heiße ich nun mal. Was dagegen?“
Erschrocken über ihre Aggression duckte Arne sich unmerklich zusammen und senkte den Blick auf die Tischplatte. „Tschuldigung“, murmelte er, wusste aber nicht, ob sie es gehört hatte.
„Tut mir Leid, ich wollte Sie nicht kränken.“ Es ist leichter, das in Marthas lachendes Gesicht zu sagen, als damals in Theresas. Erleichterung durchläuft ihn.
„Macht wirklich nichts, ich hab mich an den Namen gewöhnt. Früher, in der Schule, haben sie mich manchmal damit geärgert, aber inzwischen bin ich eigentlich ganz froh drüber. Wenigstens ist er nicht so gewöhnlich.“
Er nickt nur, weiß nicht, was er sagen soll. Der Kellner rettet ihn aus seiner Verlegenheit.
„Einen Latte Macchiato, bitte!“, bestellt Martha und beginnt, in ihrer Tasche nach einem Portemonnaie zu kramen. Leise schimpfend zieht sie mehrere Bücher heraus und stapelt sie auf den Tisch. Statistik, Mathematik, Analysis.
„Sie studieren?“ Was für eine blöde Frage. Martha legt ihren Geldbeutel auf den Tisch und stopft die Bücher zurück in die Tasche.
„Ja, Mathematik.“
„Ungewöhnlich...“ Wieder unterbricht sich Arne und sieht sie verlegen an.
„Was studierst du?“ Die Frage schien harmlos genug, sie konnte sie nicht verärgern. Tatsächlich sah sie für einen Moment fast entspannt aus.
„Mathematik“, erwiderte sie, einen Anflug von Stolz in der Stimme.
„Ist das nicht ziemlich ungewöhnlich, ich meine, für eine Frau?“
Sofort verhärtete sich ihre Miene wieder.“Ach, du glaubst wohl, Frauen sind zu blöd, oder was?“
„Nein, nein. Natürlich hab ich das nicht gemeint. Ich kenne nur wenig Frauen die...“
„Ach, vergiss es!“, unterbricht sie ihn. Er schämt sich, dass er sie schon wieder verärgert hat.
Martha zuckt mit den Schultern. „Ja, es gibt nicht viele Frauen in meinem Semester. Immer noch nicht.“
„Seltsam, wie lange sich Vorurteile halten. Dass Naturwissenschaften nichts für Frauen sind und so was.“ Er ist erstaunt, wie flüssig er den Satz heraus bringt. Sie lacht.
„Ja, das sehen selbst ein paar Professoren noch so. Die sind immer ganz verbittert, wenn ein Mädchen ihnen eine richtige Antwort gibt. Oder es wagt, Fragen zu stellen.“
Er muss lächeln. Warum hatte das Gespräch mit Theresa damals nicht so verlaufen können. Hat er sich geändert? Oder ist es die Zeit, die alles verändert hat?
„Ich verstehe das. Ich selber habe Sozialpädagogik studiert. Sie hätten die Blicke der Mädchen in meinem Semester sehen sollen.“ Martha lacht wieder. Arne stellt verwundert fest, wie entspannt sie ist.
Der Kellner bringt ihren Latte Machiatto. Sie bedankt sich mit einem Lächeln und beginnt, mit dem Strohhalm im Glas herum zu rühren, einen Ausdruck höchster Konzentration auf ihrem Gesicht. Plötzlich hat Arne das Bedürfnis, ihr von Theresa zu erzählen, sie zu fragen, was er damals falsch gemacht hat. Er fragt sich, was er sucht. Absolution?
„Sie sind ihr gar nicht ähnlich, wissen Sie?“ Blöd. Warum sollte sie auch, nur, weil sie auch Mathematik studiert?
Martha nippt an ihrem Kaffee und betrachtet ihn aufmerksam. „Theresa? Wieso, wie war sie denn?“
Arne überlegt. Sieht Martha zu, wie sie den Milchschaum von ihren Lippen wischt. Versucht, sich Theresa ins Gedächtnis zu rufen. Er kann ihr Gesicht noch vor sich sehen, aber mehr fällt ihm nicht ein.
„Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich hab mich einmal mit ihr getroffen, aber wir haben kaum geredet. Ich weiß nicht, warum, irgendwie habe ich sie wohl verletzt.“
Martha sieht ihn weiterhin fragend an. Arne verspürt das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen.
„Ich weiß auch nicht, was mit ihr los war. Wir ... haben nur geredet. Aber sie war irgendwie ... verschlossen. Als wäre die Welt ihr Feind.“ Er seufzt. „Kurz darauf hat sie ihr Studium abgebrochen und irgend so einen Typen geheiratet, zumindest habe ich das gehört.“
Seine Hände waren immer noch feucht, als sie beide aufstanden.
„Kann ich ... können wir uns irgendwann nochmal treffen?“ Ihr Gesicht war unbewegt, als sie den Kopf schüttelte.
„Ich denke nicht, danke.“ Und dann hatte sie sich auch schon umgedreht und verließ die Kneipe. Er blieb zurück mit seiner Nervosität und seinem schlechten Gewissen. Er wusste immer noch nicht, was er falsch gemacht hatte.
Martha stellt ihr Glas ab und mustert ihn ernst. „Vielleicht hatte sie Angst.“
„Vor mir?“
„Vor sich selber.“
Er sieht sie lange an. Versucht, zu verstehen, was sie meint. Beinahe gelingt es ihm.
„Wollen wir los? Der Film fängt gleich an.“ Björn ist neben seiner Schulter aufgetaucht, grinst ihn an und wirft einen fragenden Blick in Richtung Martha.
„Möchtest du mitkommen?“, rutscht es Arne heraus, bevor er noch lange darüber nachdenken kann. Björn sieht verdutzt aus, Martha belustigt, aber sie nickt.
„Warum nicht.“ Sie legt das Geld für ihren Kaffee auf den Tisch und steht auf.
„Wer ist das?“, flüstert Björn Arne zu.
„Meine zweite Chance“, wispert er zurück.
Martha grinst. „Oder Theresas“, erwidert sie gelassen.