Schnitzeljagd
Die U-Bahn ist brechend voll und ich erhasche Gott sei dank noch einen Sitzplatz. Völlig erschöpft lasse ich mich auf einem noch freien Platz neben einem korpu-lenten Mann mit penetrantem Schweißgeruch nieder. Meine Gedanken drehen sich um meinen nicht wirklich anspruchsvollen Job. Seit ca. 3 Jahren arbeite ich für eine Reinigungsfirma in einer Putzkolonne.
Meine Eltern starben als ich 4 Jahre alt war bei einem Autounfall. Da ich keine weiteren Verwandten hatte, wuchs ich überwiegend in Kinderheimen auf. Mit 13 Jahren wurde ich von einer eher bescheidenen Familie adoptiert. Ich kann nicht sagen, dass sie schlecht zu mir waren, aber sie haben sich nicht wirklich um mich gekümmert. Neben mir hatten sie noch weitere 5 Kinder, teils adoptiert, teils eigene, denen sie ebenfalls nicht viel Aufmerksamkeit schenkten. Ich mochte meine „Halb-geschwister“ sehr, wir haben viel Zeit miteinander ver-bracht. Letzten Endes waren wir allerdings alle auf uns selbst gestellt. Da ich in der Schule sehr faul war und auch keinen wirklichen Antrieb hatte mich geistig weiterzuentwickeln, verbrachte ich sehr viel Zeit auf der Straße. Ich kannte viele Kinder und Halbwüchsige denen es ähnlich ging und tauschte mich mit ihnen häufig aus. Ich war immer diejenige, die sie alle zusammenbrachte und schlichtete, wenn es Streit gab.
Im Grunde bleibt mir eigentlich nichts anderes übrig als diesen Job mein Leben lang weiter zu machen, denke ich. Es sei denn, eines Tages kommt mir noch eine Eingebung, wo meine wirklichen Talente verborgen sind und ich diese nutzen kann .
Mein Blick richtet sich wieder auf meinen beleibten Nachbarn, mittlerweile fängt er an zu schnarchen, auch er ist bestimmt von seinem anstrengenden Job erledigt. Mir gegenüber sitzt eine sehr attraktive Frau, ich schätze sie auf etwa Mitte Dreißig. Sie schaut mich mit Ihren glasklaren blauen Augen an, ihr Blick wendet sich nicht mehr von mir, ich bin überrascht, so wie ich aussehe habe ich bestimmt nichts wirkliches Ansehnliches oder Interessantes an mir. Sie zwinkert mir zu und deutet auf den Beleibten neben mir. Ich schaue mir Buddy genauer an, was will sie mir sagen. Ich sehe dass er ein T-Shirt trägt auf dem steht: „Null Bock“. Schnell hab ich begriffen, worauf sie hinaus will. Madame fordert mich auf, eine Unterhaltung mit Buddy anzufangen.
Wie kann es einem in den Sinn kommen, mit solch einem Menschen kommunizieren zu wollen, der totale Anti-Typ. Trotzdem sehe ich aus irgendeinem Grund eine große Herausforderung darin. Indessen richtet er sich wieder auf und schaut stumpf in die Nacht hinaus. Wie soll ich es anfangen mit einem Typen wie ihn ein Gespräch zu führen, was soll ich ihn fragen. Nach langem Überlegen gebe ich mir schließlich einen Ruck und frage ihn wie er die Informationsbildschirme in der U-Bahn findet, schließlich kann jeder die Zeit in der U-Bahn sinnvoll nutzen. Zuerst mustert er mich und deutet mit seinen Augen auf sein T-Shirt. Ich frage mich nur die ganze Zeit, was muss der arme Mann für Ent-täuschungen erlebt haben, dass er ein solches T-Shirt trägt. Aber ich lasse nicht locker, wäre doch gelacht, wenn ich den nicht aus der Reserve locken kann. Irgendwie bin ich wieder hellwach.
Die Lady mir gegenüber schmunzelt, ermutigt mich aber mit einem Nicken, weiterzumachen. Da hat sich doch jemand Gedanken gemacht, wie er die Menschen informieren und unterhalten kann während sie in der U-Bahn sitzen und darauf warten endlich an ihr Ziel zu kommen, sage ich weiter. Wieder keine Reaktion von ihm. Ok, denke ich mir, dann quatsche ich ihn jetzt einfach voll, irgendwann wird er sich schon regen. Ich finde die Idee echt super, wenn Du jeden Tag U-Bahn fährst, bist Du letztendlich immer ganz gut informiert. Vielleicht hast Du ja eine Idee, welche Informationen man noch so rüber bringen könnte, sage ich erwartungsvoll. Er guckt mich griesgrämig an und sagt: „Biste irjend eene Marketingtussi, willste mich wat verkoofen oder wat is?“ Oh je, der ist aber mächtig genervt, und dann auch noch dieser Blick. Hält mich allerdings nicht davon ab ihm zu antworten. Ne, sage ich, ich möchte mich einfach nur mal mit Dir unterhalten, weil ich finde dass Du sympathisch bist und ich Interesse daran habe mich mit Dir zu unterhalten, lüge ich, und muss mich mächtig zusammenreißen, dass ich nicht lospruste. Nun hatte ich erwartet, dass er mir einen niederträchtigen Blick zuwirft oder mich aufs Böseste be-schimpft. Selbst die Lady mir gegenüber ist mächtig überrascht, welche Worte ich gefunden habe, um ihn zu beeindrucken. Sie stimmt mir mit einem Augenaufschlag zu, dass ich genau auf dem richtigen Weg bin. Das ermutigt mich umso mehr ihn direkt in die Augen zu blicken.
Ich habe beruflich mit unzähligen Menschen zu tun. Die meiste Zeit säubern wir die Büros, wenn schon alle daheim sind. Hin und wieder kommt es dennoch vor, dass wir zu Zeiten präsent sind, wenn viele Mitarbeiter sich noch in ihren Büros aufhalten. Häufig ergeben sich Situationen, in denen ich mit einigen in ein Gespräch verwickelt werde. Einige sind unfreundlich, weil sie mich durch meinen Job als minderwertig ansehen, andere hingegen sind sehr freundlich und gesprächig und erzählen mir die interessantesten Geschichten. Dadurch habe ich schon eine Menge erfahren, aber letztendlich nicht nur durch das Zuhören, auch war ich immer sehr interessiert und stellte viele Fragen. Aber Sie waren auch alle sehr reserviert. Mit dem was nun folgt, hätte ich im Leben nicht gerechnet.
Plötzlich sieht er mich an und verändert seinen Blick, so kommt er mir schon fast liebreizend vor. Mit einem Lächeln, sieht er ganz anders aus, als wäre die Welt schlagartig für ihn wieder in Ordnung. „Weeste wat“, sagt er, „Du bist echt Knorke, dit nehm ick Dir sojar ab und weeste noch wat, jetz saje ick Dir mal wat mir so interessieren würde uff dit Bildschirm“. Immer noch fühlte ich seine wohlige Hand in meiner, was mir wirklich nicht unangenehm war.
Unerwartet plapperte er mit wilder Gestik und Mimik drauf los. Zuerst erzählt er mir fast seine ganze Lebensgeschichte. Es freut mich zu sehen, dass er ein Leuchten in seinen Augen hat, als er erzählt, dass er für sein Leben gern einmal nach Afrika reisen würde.
Es stellte sich heraus, dass Buddy, Thorsten heißt, 36 Jahre alt ist und gar nicht so muffelig ist wie er aussieht. Ich frage ihn, was ihn denn so an Afrika reizen würde. Na ja, sagt er, ich schaue mir gern die Tierwelt in der Freiheit an. Er möchte gern mehr über den Kontinent erfahren und würde sich deshalb wünschen, während seiner täglichen U-Bahnfahrt Tier- und Naturfilme zu sehen, das wäre doch mal ne jute Idee oder? Klar sage ich, vielleicht können wir gemeinsam mal ein Konzept entwickeln und dieses den Leuten von der Bahn vorstellen. Thorsten war begeistert! Später unterhielten wir uns noch über viele andere Dinge und ich bemerkte, dass er scharfsinnig und beigeisterungsfähig war. Wir verabredeten uns für die kommende Woche in einem Café in der Nähe des Zoos um weitere Details zu be-sprechen.
Beide waren wir so sehr in unser Gespräch vertieft, dass ich nicht mal bemerkte, dass die schicke Lady mir gegenüber schon längst ausgestiegen sein musste, oder war sie nie allgegenwärtig, existierte sie nur in meiner Phantasie. Auf dem leeren Platz auf dem sie vorher saß, lag ein Zettel. Ich nahm ihn, faltete ihn auf und las: „Versuchen Sie schweigend zwei Menschen, die Ihnen vollkommen ungeeignet für ein Zwiegespräch erschei-nen, zu einer Konversation zu bringen und beweisen Sie dies mit einem Foto“. Ich musste grinsen, das hatte sie wirklich genial gemeistert. Vermutlich war sie Mitglied einer Schnitzeljagdgruppe. Ich hatte mich schon gewundert, warum sie ab und zu mit ihrem Handy rum-zappelte, sie wird einen Schnappschuss von Thorsten und mir gemacht haben.
Mir war plötzlich bewusst, dass ich eine ganz besondere Gabe hatte mit Menschen umzugehen, vielleicht sollte ich das nutzen um mich weiterzuentwickeln. Auch war mir jetzt klar, dass ich was unternehmen musste. Ich bin 23 Jahre, mir steht die Welt noch offen. Mit meiner Energie und meinem Verstand, würde das bestimmt funktionieren. Ich musste an die Lady denken, sie hatte mit mir ein Spiel gespielt, ob sie nun existierte oder nicht, dies war ein Hinweis. Ich war durchaus zu mehr tauglich als ich je glaubte.
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*Eine Schnitzeljagd ist eine Art Geländespiel, bei dem eine Gruppe von Personen Hinweisen folgt, die von einer anderen Gruppe ausge-legt wurden, um entweder die zweite Gruppe zu treffen oder eine Belohnung an einem Zielort zu finden