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Schokoeier
Schokoeier
Wie sie die Tüten aufs Fließband wirft: Scheinbar gleichgültig, nebenbei, als wäre sie gedanklich ganz woanders. Eine Tüte nach der anderen, gefüllte Schokoladeneier, reduziert, da Ostern endlich vorbei ist. Mindestens zwölf Packungen, vielleicht sogar zwanzig. Auf dem schmalen Rücken hängt der leere Rucksack. Da wandert das gleich alles hinein.
Ich stehe weiter hinten in der Schlange, sehe die junge Frau und meine Augen arbeiten sich Schicht für Schicht voran in ihren kantigen, sehnigen Körper in engen Jeans.
Über dem kräftigen Kiefer spannen sich die Muskeln. Sie bereiten sich vor. Liebes Kind, denke ich, was hast du vor, was tust du dir an?
Vor dem schmalen Rücken hängt der leere Magen...
Warum musstest du dich über die Feiertage so zügeln? Wie oft wurde dir die Torte gereicht, wie oft hast du "Nein, danke" gesagt? Und jetzt, da du aus dem Familienkreis zurückgekehrt bist in dein kleines Zimmer, jetzt überkommt es dich?
Meinst du, ich sähe nicht die Abdrücke deiner Zähne an deinen bläulichen Handknöcheln? Und wie du ganz leicht zitterst? Das ist der gierige Wolf, ich weiß, liebes Kind, du gierst doch nach etwas ganz anderem! Du brauchst Wärme! Wer hat dich bloß so verunsichert? Wie du die Augen vor dem Kassierer niederschlägst! Du schämst dich für dein Dasein!
In wievielen Supermärkten wirst du die Osterregale räumen?
Nach Hause rasen wirst du - da bist du sicher! - und die Tüten aufreißen, alles auf eine Haufen werfen, und dann wirst du loslegen: Die Blicke und Kommentare der anderen, Komplimente, Skepsis und fragendes Runzeln der Augenbrauen - alles, was dir begegnet ist, wegfressen; in dem Moment gibt es nichts anderes mehr als die Wucht der Schokolade, und vielleicht passt obendrauf noch das eine oder andere Toastbrot, das stopft sich so gut hinein. Womit wirst du all das hinunterspülen? Mineralwasser, Cola, ein paar Flaschen Bier? Zwanzig Minuten lang nicht denken müssen - ja, das gönne ich dir wohl, aber... liebes Kind ...
Ich weiß auch, was dann kommt. Das mit dem Finger, mit der Hand. In der Klinik kontrollieren die mit einem Blick unter der Tür hindurch, wie herum die Füße der Patientinnen vorm Klo stehen. Hast du sowas schonmal erlebt oder warst du noch nicht in Behandlung?
Ich wünsche dir alles Gute ... Mensch! Möge das Leben freundlicher zu dir werden und du selbst auch!
Sie zurrt ihren Rucksack zu; wie eilig sie es hat! Ob sie mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist?
"Steht da und kriegt überhaupt nichts mit!", knurrt jemand hinter mir und stößt mich leicht vorwärts. "Sie haben wohl alle Zeit der Welt!"
"Oh, Entschuldigung", murmele ich, schlucke einmal und lege meinen Bio-Einkauf aufs Fließband.