Schrei nach Liebe
Schrei nach Liebe
5:00 Uhr – „AUFWACHEN, Matthias!“, „jaaaaaaa“, antworte ich, ziehe die Decke über meinen Kopf und schlafe weiter. Kurze Zeit später, jedenfalls kommt es mir so vor, stürmt meine Stiefmutter wieder in mein Zimmer. „MATTHIAS GEISLER, STEH SOFORT AUF, DU HAST SCHON WIEDER VERSCHLAFEN!! ES IST 7 UHR VERDAMMT NOCHMAL!“. Noch halb verschlafen betrachte ich sie, wie sie mit schnellen Schritten zum Fenster läuft um es zu öffnen. Natürlich hat sie es wiedereinmal eilig, sie hat es IMMER eilig. Sie trägt einen schwarzen Bleistift Rock und darüber den passenden schwarzen Blazer, darunter trägt sie ein pinkes Oberteil. Ihre blond gefärbten, geglätteten Haare sitzen natürlich wie immer perfekt und sehen schön unnatürlich aus. Durch ihre schwarz geschminkten Augen schaut sie mich an und aus ihren pink farbenen Lippen ertönen wieder einmal diese Worte. Diese Worte, die ich ganz und gar nicht mag. Die Worte die ich mittlerweile hasse. Die Worte die in mir eine unbeschreiblich große Wut auslösen. Ich schalte ab. Ich höre nichts mehr. Betrachte nur weiterhin mit ausdrucksloser Miene ihre schneeweißen Zähne. Als sie bemerkt, dass ich nicht reagiere, zerrt sie mich aus dem Bett. Ihre schruppligen, alten Hände, mit den zu langen acryl Fingernägeln, umklammern mein Handgelenk sehr fest. Ihr Gesicht ist jetzt sehr nah an meinem. Ich sehe ihre blauen leuchtenden Augen von ganz nah, ihre aufgezeichneten Augenbrauen, ein paar Falten, die leicht unter den dicken Schichten Make- up hervor scheinen, und spüre ihren nach Pfefferminz riechenden Atem auf meinem Gesicht. Ich empfinde Eckel gegen diese Frau, gegen die Frau, die mir so nah ist und doch so fremd erscheint. Diese Wut kommt wieder in mir auf. Ich will das nicht, ich will nicht, dass sie mich berührt, ich will nicht, dass irgendjemand mich berührt. „Jetzt steh doch endlich auf, der Fahrer wartet auf dich und ich darf meinen Termin im Beautysalon nicht verpassen, in 5 Minuten bist du fertig!“ Sie verlässt mein Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Ich stehe auf, ich tue besser was sie sagt, ich möchte ja nicht diese Worte zu Ohren bekommen, erst recht nicht an meinem Geburtstag. Den Geburtstag den alle vergessen haben… Das einzige was mich jetzt noch aufmuntert ist der Brief meiner Mami. Sie hat mir für jeden Geburtstag, bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr, einen Brief geschrieben. Ich hole den Brief aus meiner Kommode heraus. Zwölf steht da drauf. Aufgeregt öffne ich ihn. Mamas Briefe geben mir immer Mut weiter durchzuhalten.
Kurze Zeit später stehe ich in meinem prall gefüllten Dressingroom. Alles Designerklamotten, die mein Vater mir aus Paris mitbringt. Diese engen, unbequemen Röhrenhosen, die jetzt auch für Jungs modern sein sollen und die ganzen überteuren Hemden und Pullis, hängen, natürlich nach Farben geordnet an hunderten von Kleiderbügeln. Ein Schrank im Dressingroom besteht nur aus Schuhen, Markenschuhe natürlich. Doch mich interessiert all das nicht, ich brauche das alles gar nicht, alles wonach ich mich sehne, ist ein bisschen Liebe, ein bisschen Zärtlichkeit, meinen Vater! Mit einer schwarzen, kaputten Jeans und einem schwarzen T.shirt verlasse ich den Raum.
„Wieder trägst du diese Lumpen? Wann wirst du endlich Stil und Klasse haben? Was werden meine Freundinnen sagen, wenn sie dich so sehen?“ Ich bin einfach nur still, sage nichts. „Naja egal, komm jetzt, ich verpasse sonst echt noch meinen Termin!“ Wieder fasst sich mich ganz fest am Handgelenk und zerrt mich ins Auto. Dieser Hass kommt wieder in mir auf, doch ich bleibe still. „Matthias, kannst du mir nicht einen Gefallen tun? Hast du denn all das, was ich für dich getan habe vergessen? Ich habe dich aufgezogen, ich habe dir die Liebe geschenkt, die dein Vater dir nicht geben konnte, nachdem deine Mutter gestorben ist. Ich habe sie ersetzt! Ja, das war alles ich. Kannst du nicht ein bisschen Dankbarkeit zeigen und dich angemessen benehmen?“ Diese Hexe! Was fällt ihr nur ein so etwas zu sagen?! Niemand kann meine Mutter ersetzen. Sie war die beste auf der ganzen Welt. „Vergleiche dich nicht noch ein weiteres Mal mit meiner Mutter, zwischen euch liegen Welten. Du wirst NIE so sein wie sie! Versuchs erst gar nicht!“ Sie ignoriert meine Worte, holt schnell ihren kleinen Spiegel aus ihrer Gucci Handtasche und betrachtet ihre „ Schönheit“. Ein bisschen Puder hier, ein bisschen Puder da, es ist als ob sie ihr wahres Ich unter Schichten von Make- up verstecken möchte.
An der Schule angekommen, reiße ich, noch bevor der Wagen vollständig steht, die Tür auf, steige wortlos aus, und knalle die Tür laut hinter mir zu. Und hier beginnt mein Alptraum erst richtig. Die ersten beiden Stunden habe ich verpasst. An der Klasse angekommen, reiße ich die Tür auf, richte meinen Blick auf den Boden und laufe zu meinem Platz, ganz hinten in der Ecke, rüber. „Der Matze ist ja schon wieder zu spät! Herr Storck, bedeutet das jetzt nicht endlich einen Tadel?“, ruft einer der „coolen Jungs“ der Klasse rein. „Ach halt lieber deine Klappe, sonst gibts Ärger!“, antworte ich. „Haben Sie das gehört Herr Storck, er droht mir auch noch!“ Die ganze Klasse bricht in ein Gelächter aus. Und ein weiters Mal werde ich wütend, sehr wütend. Ich empfinde sehr großen Hass gegen diesen Jungen, gegen alle eigentlich. Warum lassen sie mich nicht einfach in Ruhe? „Matthias, darf ich erfahren, warum du schon wieder zu spät bist? Das ist jetzt das dritte Mal in dieser Woche!“, unterbricht Herr Storck das Gelächter. „Ich... ich habe verschlafen.“, antworte ich. „Ach verschlafen! Hat denn der Matze keine Wecker zu Hause?“, kommentiert Flo. Lautes Gelächter bricht wieder aus. Ok, jetzt reichts alle Male! Ich stoße meinen Tisch zur Seite, stehe auf und nähere mich Flo. „Noch ein Wort aus deinem dreckigen Maul und es gibt Schläge!!“ warne ich ihn. „Habt ihr gehört Leute, der gute alte Matze droht mir“. Ein weiteres Mal fangen alle an zu lachen. Ich kann mich nicht mehr zügeln. Ich hole weit aus und schlag ihm in die Fresse. Abrupt hört das Gelächter auf. Seine Nase fängt an zu bluten. „MATTHIAS GEISLER! BIST DU VON ALLEN GUTEN GEISTERN VERLASSEN??!“ brüllt mein Lehrer „GEHE SOFORT ZUM DIREKTOR!“ Ich drehe mich um, nehme meine Schultasche und verlasse den Raum. Was vorgefallen war tut mir kein bisschen Leid. Ich bin sogar stolz auf mich! Jetzt habe ich es ihm wieder einmal richtig gezeigt! Nur weil er ein paar Zentimeter größer und ein bisschen breiter als ich ist, hat er trotzdem alle Male nicht das Recht mich so zu behandeln. Wann lernt er endlich, dass mit mir nicht zu spaßen ist?
Ich setzte mich auf einen der drei Stühle im Vorzimmer des Direktors stehen. Ich beuge mich vor und schaue auf den Boden. Eine Frau, die zwei Stühle weiter sitzt fragt mich plötzlich was mit mir los sei und warum ich so etwas sage. Ich muss wohl wieder vor mich hin geredet haben. Dies ist keine Seltenheit, da ich ja so oft alleine bin und keinen habe mit dem ich reden kann. Die ganze Situation ist mir sehr peinlich. Ich antworte nicht und starre weiter in auf hellen Fliesen. „Hallo, ich möchte dir helfen, sag mir doch was mit dir los ist!“ sagt die Frau. Diese Stimme. Diese weiche, zarte, leise Stimme. Ich blicke auf. Diese Frau schaut mich besorgt aber freundlich zugleich an. „Claudia ist mein Name, wie lautet denn deiner?“ Irgendwie fühle ich mich zu ihr hingezogen, sie erscheint mir so vertraut. „Matthias“. Ihr dunkelbraunes, langes, welliges Haar fällt sanft auf ihren beigen Pullover. Ihre Haselnussbraunen funkelnden Augen, ihre rosé frabenen Lippen, diese Stupsnase mit den viele Sommersprossen… einfach alles erinnert mich an meine Mami. Ich schließe die Augen und fange an drauf los zu reden. Ich erzähle ihr von dem, was gerade vorgefallen war, von dem Tod meiner Mutter, von den Reisen meines Vaters, von meinen Designerklamotten, die ich ja alle eigentlich gar nicht brauche, von meiner Stiefmutter und den Worten die ich hasse. „Ach und jetzt sitzt du also wegen diesem Flo hier, ja?“ „Genau“, antworte ich auf ihre Frage. „Gut, und wie ich annehme, wird deine Stiefmutter den Tag im Beautysalon verbringen und zu spät kommen?“ „Wahrscheinlich“, antworte ich ihr traurig. „Komm sei nicht traurig, ich mach das schon!“ Sie lächelt mir lieb zu und greift zärtlich zu meiner Hand. Zum ersten Mal nachdem Tod meiner Mutter fühle ich mich sicher und geborgen. „Um den Rest kümmern wir uns später!“ Ein unbeschreiblich großes Glücksgefühl durchdringt meinen Körper. Hand in Hand, gehen wir zusammen zum Direktor.
Nadine Hassan