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Schreiben im Café
Das Licht fällt schräg durch die großen Scheiben des Cafés, dessen Stühle nur zum Teil besetzt sind. An dem einzigen größeren Holztisch, der für Familienfeiern genutzt wird, sitzt eine bunt gemischte Gruppe, jeweils zu zweit oder dritt in Unterhaltungen vertieft. Angela, die Leiterin der Schreibwerkstatt, hat unabsichtlich ein Gesprächsthema gesetzt: violett prangt eine neue Strähne in ihrer blonden Mähne, ganz apart, und plötzlich drehen sich die Gespräche um Frisuren.
Als alle angekommen sind, gibt Angela noch einmal letzte Anweisungen: „Lasst euch auf den Ort hier ein, die Umgebung, die Leute, Getränke und Gebäck. Was haltet ihr davon? Für jeden einen eigenen Tisch, eigener Raum zum Dichten und Schreiben.“ Als Antwort Gemurmel, dann stiebt die Gruppe auseinander, jeder mit seinen Bestellungen beladen. Eifrig werden Blocks und schön gestaltete Notizbücher herausgekramt, Bleistifte, Kugelschreiber und Füller daneben gelegt.
Horst fühlt sich als Hemingways Erbe. Der hatte doch auch im Caféhaus geschrieben, und so manche Kneipe wird nach ihm benannt. Er selbst würde ja lieber in einer Pinte sitzen, bei Bier und Funzellicht und ungewöhnlichen Figuren. Irgendwas Abenteuerliches halt, Exotisches, was nicht so spießig ist wie dieser Raum. Gibt es bei Hemingway Polster aus Plüsch oder Goldrandgeschirr? Der hat doch über Krieg geschrieben und Stierkampf und solche Dinge. Andererseits, so wirklich spannend war „Der alte Mann und das Meer“ ja auch nicht. Gelangweilt schreibt Horst:
Vielleicht sollte er lieber von einer „Fiesta“ berichten, wie es ist, „in einem anderen Land“ zu leben oder „über den Fluss und in die Wälder“ zu gehen. Etwas ratlos blickt Horst zu seiner Tischnachbarin rechts hinüber.Er war ein mittelalter Mann, der allein in einem Café an der Ruhr saß, und er hatte nun seit 84 Tagen gesessen, ohne ein einzelnes Wort zu schreiben.
Irina sieht auf ihren leeren Zettel und stutzt. Was kann sie hier bloß schreiben? Langsam setzt sie an:
Wie kommt sie jetzt auf geringschätzig? Egal, die Protagonistin muss ja nicht so weltoffen sein wie sie selbst. Also weiter:Die Serviererin fragt höflich: „Was darf ich Ihnen bringen?“
Das Mädchen betrachtet sie geringschätzig ...
Gedankenverloren nippt Heidi an ihrem Glas Mineralwasser, zupft die Zitronenscheibe vom Rand und knabbert daran.... betrachtet sie geringschätzig und bestellt eine heiße Schokolade mit Sahne und ein Stück Schwarzwälderkirsch.
Iihhh. Gedankenverloren hat Irina fest in die Zitrone gebissen und schüttelt sich. Warum muss sie gerade jetzt eine Diät machen? Obwohl, muss sie wirklich? Sie zögert, überlegt, streift mit dem Daumen über ihren Hosenbund und trifft eine Entscheidung.Wenig später werden die Köstlichkeiten gebracht, und das Mädchen zieht an ihrem Strohhalm und genießt den süßen Trank. Lecker! Genau wie die Torte, von dem es vorsichtig die äußerste Spitze mit der Kuchengabel abbricht und sich langsam in den Mund steckt. Hmmmm. Während es kaut, lässt es die Gabel über die einzelnen Schichten der Torte gleiten, brauner Boden, rote Kirschcreme, Sahneschicht, wieder braun, dann Sahne und knusprige Schokoraspel, und verzückt hebt das Mädchen die Kirsche ab und steckt sie in den Mund.
„Junge Frau“, ruft sie nach der Kellnerin, „könnte ich noch etwas bestellen?“
Am Tisch neben ihr kaut Max an seinem Stift. Ihm schwirren die Gesprächsfetzen von eben noch durch den Kopf. Haare, immer wieder Haare. Die Farbe hat ihn noch nie interessiert, aber er steht eindeutig auf Locken. Kringel für Kringel bekritzelt er den Block.
Eigentlich hat er auch nie einen Psychologen gebraucht, um seine Vorliebe zu verstehen. Als kleiner Junge hat er mal ein Kissen aufgeschnitten und in die flauschige Füllung gefasst: warme, weiche Daunen hüllten seine ganze Hand ein, ein wunderbares Gefühl von Geborgenheit. Bestimmt das schönste seiner Kindheit. Und als er seiner ersten Freundin die Haare wuschelte, war es plötzlich wieder da: genauso intensiv, genauso sinnlich. Das konnte er hier natürlich nicht erzählen, so gut kennen sie sich ja nicht.
Er schlägt das Deckblatt um und schreibt
mitten auf das zweite Blatt.Locken
Und natürlich hat er auch nicht von seiner Frau erzählt, in dessen Dauerwellen er sich vor Jahren verliebt hat und die jetzt mit Haarspray und Gel klebrige Stacheln auf ihrem Kopf züchtet, hart und unanfassbar.
Lockende Locken.
Das hat was, vielleicht kann er daraus etwas machen. Einen Zweizeiler?
Ah, der Reim stimmt schon mal, der Rhythmus auch. Nur diese Wortwiederholung. Bei den Locken geht das ja mit der sich ändernden Bedeutung, aber der föhnende Föhn ist einfach nur doof. Hm, was kann ein Föhn denn noch?Föhnt der Föhn die Haare trocken,
können Locken wieder Locken.
Na ja.Heizen. Heizt der Föhn die Haare trocken ...
Upps, irgendwie ist er abgedriftet. Neidisch sieht Max zu seiner Nachbarin hinüber, die schon das dritte Blatt vollgeschrieben hat.Pusten. Blasen. Lutschen.
„Schreibe von dem, was du kennst“, hat eben jemand geraten. Heidi hat die junge Kellnerin angestarrt, und sofort musste sie an damals denken, ihren ersten Job nach dem Abitur. Damals hat sie für fünf DM die Stunde gearbeitet, vor Jahren schon ein Dumping-Lohn, obwohl man es noch nicht so genannt hat.
Damals ist noch alles möglich gewesen, erlernbar, man brauchte nur Mut und Eifer und Selbstvertrauen. Heidi denkt an die großen Umschläge in ihrem Briefkasten, an die vielen Schreiben, die mit „Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen ...“ anfangen und egal, wie sorgfältig sie formuliert sind, ein Gefühl von Wertlosigkeit und Versagen in ihr hinterlassen.Ich war nur das Sitzen am Schreibtisch gewohnt, das Büffeln für mein Abi. Plötzlich war das gar nicht gefragt, sondern sieben Stunden am Tag ging, ja teilweise rannte ich durch die Gänge des Cafés, Bestellungen aufnehmend und Erfrischungen bringend. Zwischen den Stoßzeiten, wenn es ruhiger wurde, hielt ich mich an der Theke zur Küche auf, an der ich die Zettel für die Bestellungen weiterreichen musste, und trocknete Löffel, Gabeln und Messer ab.
Corinna, meine erfahrene Kollegin, brachte mir bei, wie man drei Teller auf einmal balancieren kann.
„Zuerst den einen, klar. Am Rand anfassen, zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Dann den zweiten auf die übrigen drei Finger der linken Hand legen, genau, Mittel-, Ring- und kleinem Finger.“
„Und der dritte?“, fragte ich begierig.
Corinna lachte. „Übe erst mal das, und den dritten Teller legen wir dir später auf den Unterarm.“
Sie steckt sich einen Bissen vom Kuchen in den Mund und wundert sich, dass sie vor lauter Schreiben noch gar nicht zum Essen gekommen ist. Mit einem Schluck Tee spült sie den bitteren Geschmack in ihrem Rachen hinunter und freut sich, dass die Schreibwerkstatt die Kosten für diese Exkursion übernehmen wird.
Wie lange ist das her, dass sie in einem Café gesessen hat? Sonst ist sie schon froh, wenn sie in der „Tafel“ eine Backmischung ergattert. Noch ein Schluck Tee, dann muss sie weiter schreiben ...
Zoe sitzt still auf dem äußersten Stuhl am Fenster. Die anderen sind nett, das schon, aber sie fühlt sich immer als Außenseiterin. Nicht nur, dass sie vom Alter her das Nesthäkchen hier ist, auch ihre dunkle Kleidung und ihre schwarz gefärbten Haare setzen sie von den anderen ab, von den Piercings ganz zu schweigen. Gleich ist die Zeit um, die Exkursion vorbei, und sie hat noch nicht mal ihren ersten Satz geschrieben. Sonst erschafft sie dunkle Reiche und angsteinflößende Monster, aber was soll sie hier bloß zu Papier bringen? Sie starrt auf ihr Schreibheft, auf die Schattenmuster ihrer Finger und fühlt sich eingehüllt in das Licht, das schräg durch die große Scheibe fällt.
Ihre Schritte? Zoe wundert sich über das Bild, das sich in ihrem Inneren breit macht, aber schreibt weiter:Die Kellnerin schreitet unermüdlich durch den großen Saal. Ihre Absätze hallen nicht auf dem Boden, dicke Teppiche verschlucken ihre Schritte ...
Angela gibt ein Zeichen.Plötzlich platzt der Teppich vor ihr auf, und in seiner Mitte klafft ein schmaler, tiefer Spalt. Fransen ragen wie spitze Zähne, und ein Schrei ergellt zur Warnung. Zu spät, die Füße der Kellnerin tauchen hinein und verschwinden, lassen Blut spritzen und Knochen knirschen. Federn kratzen über Papier, schreiben mit rabenschwarzer Tinte. Das Ende naht, es ist soweit ...