- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Schreibtischattentat
Kira war einsam. Der Kummer ihr alleiniger Begleiter. Ich sehe sie in einem Jugendzimmer sitzen, weiß nicht recht, was von dem Zimmer zu halten ist. Schwarz sehe ich es häufig, aber auch in Weiß. Manchmal prasselt Regen gegen das Fenster, manchmal fällt Sonnenlicht hinein, oft ist es Nacht, doch manchmal, in den engsten Momenten, ist das Zimmer fensterlos.
Ein Buch hat sie in der Hand, mit dunklem Einband, dann ein weißes, strahlend klar. Das Haupt gebeugt, das Haupt gereckt, Kira ist sehr wandelbar.
Und ich nähere mich der Holden, streiche hin und streich zurück. O komm doch, will ich schreien, du Süße, gemeinsam finden wir ins Glück. Doch kein Glück ist’s, was wir finden, bleibt sie doch allein zurück, denn das Einzige, was man kann erhoffen, ist doch nur ein schneller-
Maag hatte sich schon wieder hinreißen lassen, starrte mit Unwillen auf das Papier: Die Druckerschwärze funkelte wie Blut auf reinem Laken. Gierig zog er an einer Zigarette, die Glut fraß sich durchs Papier. Maag merkte, dass er rauchte, hustete zweimal, riss sich die Zigarette aus dem Gesicht und rief: „Ich muss sie umbringen!“
Kira, nicht mehr in den besten Jahren, saß auf dem Bett und aß Torte. Schwarzwälderkirschtorte stopfte sie in sich hinein, einen Mohnkuchen, eine Erdbeertorte, einen Nougatstreusel, einige Arten Eclairs und Pralinen, einen Früchtekuchen, einen Obstsalat, zwei ganze Schmalzkringel und einen Liter dickster Schokoladenmilch.
Der Busen wuchs, während sie fraß. Ihr Bauch schwoll an, ihre einst so zarten Schenkel wurden dick und unförmig. Die Haut riss vernehmlich an verschiedensten Stellen und die mächtigen Brüste drückten ihr die Lebensader ab.
Krümel von Mohn trompeteten in den Ohren. Glitten die edlen Rundungen entlang, saugten Fress-Schweiß willfährig auf. Und ein Krümel, ein ganz mutiger, trat den beneidenswerten Abstieg von ihrem Kinn an. Rutschte am wogenden Busen herab, umschiffte die klaffende Lücke, die ihr Nabel war, und irrte durch buschige Wälder schließlich in eine feuchte, nasse, herrlich warme Lagune der ewigen –
„Verdammt noch mal!“, schrie Maag, der sich kräftig über die Augen rieb, um wollüstiges Fleisch zu verdrängen. Die nächste Zigarette hatte sich in seinen Mund gestohlen und wurde nun noch grober als die letzte von dort entfernt.
Kira lag in ihrem Bett und keuchte. Die Schwindsucht nagte nicht mehr an ihr, sie kaute. Das einst perlend schwarze Haar hing in den Kissen. Der vormals so zarte Hals, aus dem Töne geflogen waren, um die eine Nachtigall sie beneidet hätte, sang nur noch in Röcheln und Rasseln. Und ihr Geist, ihr edler, großzügiger Geist, war vom Fieberwahn zerfressen wie von Würmern.
Die Augen huschten delirierend durch die Höhlen, suchten am Weiß der Decke nach einem Punkt, der lang nicht mehr war. Blut hustete sie in ein perlend weißes Taschentuch, das ihr ein Pfleger vor den Mund hielt, der ihren ausgemergelten Körper aufrichtete, ihr über den Rücken mit einem Waschlappen strich, am sichtbaren Rückgrat vorbei, das aus ihrem Leib getreten war wie bei einem prähistorischen Tier. Zärtlich strich der Pfleger über den Rücken der Todgeweihten, ahmte jede Bewegung ihres morschen Körpers nach, hauchte, wenn sie hauchte, röchelte, wenn sie röchelte, stöhnte, wenn sie stöhnte. Wie ein Spiegelbild, ein Pendel, ein Zwilling. Wie ein chiraler Wiegengefährte.
„Diesmal!“, brüllte Maag und hämmerte rasselnd im Stakkato auf die Tasten der Schreibmaschine. „Ich mach es selbst!“
Ich lege die Hände um Kiras schwindenden Kehlkopf, press die Nase in ihr strohenes Haar, während ich sie würge, reibe mich am klammen Rücken und drücke jeden Atemzug in ihre Lunge zurück. Wie Spinnenbeine krabbeln ihre Finger über das Laken, greifen und reißen am weichen Stoff, ich spüre den Kehlkopf, der unter dem Druck meiner Pranken nachgibt und-
Maag hustete schwer über der Schreibmaschine und kniff die tränenden Augen zusammen.
Endlich war das Zimmer leer und ruhig. Der Pfleger besah seine Arbeit: Ein makelloses Bett. Durchs Fenster schien gleichgültig weiß die Sonne.
Er rieb seine Hände am Laken trocken, ohne Spuren zu hinterlassen.
„Hast hier lang genug gelegen“, sagte er. „Wurde wirklich Zeit für etwas Neues.“
Doch als er zur Türe schritt, in eine so viel größere Welt hinaus, hörte er hinter sich eine Stimme krächzen: „Ich glaube, wir sind hier noch nicht fertig.“
Maag starrte ungläubig auf das schmutzige Papier und griff um Atem ringend zu einer weiteren Zigarette.