Was ist neu

Schreie

Seniors
Beitritt
03.07.2004
Beiträge
1.635
Zuletzt bearbeitet:

Schreie

Herr Wolpert schrie. Er saß bereits seit er vor zehn Jahren Rentner geworden war im Rollstuhl, aber erst an seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag zog er in das Pflegeheim. Er konnte kaum noch etwas alleine erledigen und seine Ehefrau war mit der ständigen Pflege überfordert. Jetzt war noch eine psychische Erkrankung hinzugekommen: Er schrie. Von Morgens bis in die Nacht. Und während einige Mitbewohner sich belästigt fühlten, meinten andere, die Pflegekräfte ließen ihn schreien ohne sich um ihn zu kümmern.

Herr Wolpert konnte das Schreien nicht steuern. Mir fiel aber mit der Zeit auf, dass er verschiedene Worte schrie. Üblicherweise schrie er "Hallo". Andere Bewohner benutzen den Klingelknopf, um eine Schwester zu rufen, aber Herr Wolpert verstand dieses Klingelprinzip nicht. Nun ja, eine Klingel kann man nur einmal drücken und dann muss man warten, bis eine Schwester kommt. Die Stimme kann unbegrenzt eingesetzt werden und bis heute ist bei Herrn Wolpert auch keine Heiserkeit eingetreten.

Ein anderer Ruf war "Rita". Rita war die Ehefrau von Herrn Wolpert. Sie lebte in ihrem Häuschen, mehrere Kilometer entfernt, so dass die Rufe ungehört von ihr verhallten. Wie sehr Herr Wolpert das Schreien gar nicht bemerkte, konnte man hören, wenn seine Ehefrau zu Besuch gekommen war. Sie saß neben ihm und er schrie "Rita!"

Das dritte Wort war "Hilfe". Und wenn Herr Wolpert "Hilfe" rief, kam sofort eine Pflegekraft. Denn der Hilferuf bedeutete, dass er zur Toilette musste. Und da er den Rollstuhl nicht alleine verlassen konnte, brauchte er für Toilettengänge Unterstützung. Mir wurde hier jedenfalls klar, dass die Pflegerinnen Herrn Wolpert nicht einfach schreien ließen, sondern genau darauf hörten, was er rief.

Es gab Bewohnerinnen, die schnell lernten, dass ein Toilettenruf umgehend beantwortet wurde. Frau Leisenstein konnte nicht lange stillsitzen. Sie trug den ganzen Tag einen Trainingsanzug. Vielleicht eine Gewohnheit aus ihrer Zeit als Langstreckenläuferin. Bevor sie ins Pflegeheim gekommen war, lief sie jeden Tag wenigstens dreißig Minuten lang. Jetzt musste sie einen Rollator benutzen und hatte nicht mehr die Kraft in den Beinen, um zu laufen. Nun ging sie den ganzen Tag mit ihrem Rollator die Gänge im Pflegeheim auf und ab und das so schnell, dass sie die Schwestern immer wieder überholte. Zu den Mahlzeiten kam sie in den Speisesaal, stand aber nach wenigen Minuten wieder auf und ab ging mit ihrem Rollator auf den Gang. Die Schwestern forderten sie dann auf, sich wieder zu setzen, aber wenn der Laufdrang zu groß wurde, wollte Frau Leisenstein auf die Toilette. Sie konnte alleine zur Toilette gehen, aber bei den Mahlzeiten ging eine Schwester mit, weil sie erfahrungsgemäß sonst nicht in den Speisesaal zurückkam, sondern weiter auf dem Gang entlanglief. Frau Leisenstein lebte nicht für sich, wie die meisten Bewohnerinnen, sondern schaute auf die anderen und hielt auch Kontakt zu ihnen. So bat sie beim Essen: "Herr Jürgens braucht einen großen Löffel", oder sie schaute bei ihren Gängen ins Zimmer von Herrn Wolpert und meinte: "Warum schreien Sie so?".

Aber die sozialen Kontakte von Frau Leisenstein waren die Ausnahme. Die meisten Bewohnerinnen redeten kaum mit ihren Nachbarn und blieben lieber für sich. Mir kommt da Frau Bormann in den Sinn. Sie war fast neunzig Jahre alt und trug seit dreißig Jahren die gleiche Kleidung. Größere Menschenansammlungen machten ihr Angst. So konnte es geschehen, dass sie in den Speisesaal kam und sah, dass schon zwölf Mitbewohnerinnen am Tisch saßen. Angesichts dieser Menge drehte sie mit ihren Rollator um und ging wieder auf ihr Zimmer. Meistens schaffte sie es dann in einem zweiten Anlauf, im Saal zu bleiben und sich an den Esstisch zu setzen. Aber es kam auch vor, dass eine Schwester sie holen musste und sie dann zu ihrem Platz geleitete.

Diese Scheu den Mitbewohnern gegenüber war öfter anzutreffen. Das Leben in einem Pflegeheim verlief ohne Wechsel. Arbeit und Freizeit, Einkaufen, Essen zubereiten, sich um die Familie kümmern - diese wechselnden Tagesabschnitte gab es hier nicht. Mir kommt Frau Lohberg in den Sinn. Sie war gerade vierundsiebzig Jahre alt und schien recht rüstig zu sein. Aber eigentlich wussten die anderen Bewohner nichts Näheres von ihr. Sie kam immer früh zum Esstisch, sprach mal ein Wort mit den Schwestern, aber nicht mit den anderen Bewohnern. Sie schien kein Interesse an der Gemeinschaft zu haben, denn sie ging, sobald sie mit ihrem Essen fertig war. Abends brachte sie oft eigenes Essen mit an den Tisch. Dann aß sie schon, während alle anderen noch auf die Austeilung des Abendessens warteten und ging, bevor die anderen ihr Abendessen erhalten hatten. Vielleicht fühlte sie sich auch nicht wohl, wenn viele Menschen um sie herum saßen. Als ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass Frau Lohberg nicht mit den anderen Bewohnern zusammen am Marktplatz saß und auch an den Freizeit-Angeboten nicht teilnahm. Offensichtlich erschien sie nur zu den Mahlzeiten und verbrachte ansonsten die Tage in der Ruhe ihres Zimmers. Am Frühstückstisch hatte sie beim Aufstehen einmal gesagt: "Ich gehe wieder in mein Bett." Ob die Bewohner nun den Tag in einem Liegesessel in Gemeinschaft oder im eigenen Bett alleine verbrachten, die Tage flossen gleichmäßig dahin, getaktet von den Mahlzeiten und der Nachtruhe - Tag für Tag und Nacht für Nacht.

 

Hallo @jobär,

nachdem ich zuletzt zwei KI-Geschichten kommentiert habe, bin ich nun ein wenig misstrauisch. Aber nur ganz kurz, denn ich kann und will mir nicht vorstellen, dass Herr Wolpert nicht echt ist, ich hör den doch ganz deutlich schreien. Immer im gleichen Tonfall, Haa-lloo, Rii-taa, Hiil-fee, erste Silbe hoch, zweite Silbe runter. Als würde er währenddessen fragen: Was soll denn das eigentlich. Wollen die mich an der Nase rumführen.

Am Anfang schreibst du:

Er saß bereits seit zehn Jahren im Rollstuhl, aber an seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag zog er in das Pflegeheim.

Irgendwas scheint mir an dem Satz nicht ganz treffend zu sein. Vielleicht fehlt da ein erst? Dass er erst nach zehn Jahren im Rollstuhl in das Pflegeheim zog? Sonst erkenne ich den Widerspruch hier nämlich nicht, der das aber rechtfertigen würde.

Ansonsten habe ich aber wenig bis nichts zu kritisieren, mir gefallen diese Miniaturen der Bewohner sehr gut. Obwohl, doch, ich habe etwas zu kritisieren: Den Erzähler. Denn der hat ein sehr feines Auge und schafft es, seine Beobachtungen treffend und unterhaltsam in Worte zu kleiden. Er überdramatisiert nicht, wird nicht zynisch, macht aus den Bewohnern vor allem keine Karikaturen. Das ist einer, dem ich gerne noch viel länger zuhören würde. Von dem ich mir fast wünschen würde, dass er zu einem anderen Schluss als diesem hier kommt:

Ob die Bewohner nun den Tag in einem Liegesessel in Gemeinschaft oder im eigenen Bett alleine verbrachten, die Tage flossen gleichmäßig dahin, getaktet von den Mahlzeiten und der Nachtruhe - Tag für Tag und Nacht für Nacht.

Klar, das ist realistisch und er ist ja in erster Linie ein sympathisch-realistischer Beobachter. Aber zwischendurch kam in mir der Wunsch auf, dass er a) seine Vorstellungskraft, die er ja eindeutig hat, ein bisschen mehr ausreizt. Ein bisschen über das tatsächlich Gesehene hinausgeht und etwas hinzudichtet. Wie die immer noch flinke Frau Leisenstein in ihrem Trainingsanzug das Personal regelmäßig überholt und vor Herr Wolpert in der Tür steht. Fragt, was das eigentlich soll mit dem Geschreie. Oder zurückschreit.
Oder b) selbst eine aktive Rolle einnimmt. Selbst mal den Kopf bei Herr Wolpert reinstreckt. Mal schon dasitzt und Frau Lohberg erwartet, wenn sie zu früh zum Esstisch kommt.
Wenn er diesen gleichmäßigen Fluss mal über die Ufer treten lässt - der kann dann ja am nächsten Tag wieder weiterfließen, wenn er möchte.

Aber auch in der jetztigen Form habe ich das gerne gelesen.

Liebe Grüße,
Akka

 

Hallo @jobär,

Er saß bereits seit zehn Jahren im Rollstuhl, aber an seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag zog er in das Pflegeheim
Dieses "aber" ergibt keinen Sinn. Du meinst wahrscheinlich 'aber erst'.


Bevor sie ins Pflegeheim gekommen war, lief sie jeden Tag ? wenigstens dreißig Minuten lang.
Hier fehlt etwas.

Sie konnte alleine zur Toilette gehen, aber bei den Mahlzeiten ging eine Schwester mit, weil sie erfahrungsgemäß sonst nicht zurückkam.
Warum kommt sie nicht zurück - was hat das mit den Mahlzeiten zu tun?

Sie war fast neunzig Jahre alt und trug die gleiche Kleidung wie dreißig Jahre früher. Größere Menschenansammlungen machten ihr anscheinend Angst. Das war wohl der Grund dafür, dass sie in den Speisesaal kam, wo schon zwölf Mitbewohnerinnen am Tisch saßen. Sie sah die Menge, drehte mit ihren Rollator um und ging wieder auf ihr Zimmer.
Dieses "Größere Menschenansammlungen machten ihr anscheinend Angst" ist - nach deiner Aussage - "der Grund dafür, dass sie in den Speisesaal kam, wo schon zwölf Mitbewohnerinnen am Tisch saßen". Das geht nicht auf. Es ist der Grund dafür, dass sie umkehrt.

Der Titel deiner Geschichte trifft nur auf Herrn Wolpert zu. Du könntest dem Ganzen Tiefe verleihen, etwas psychologisieren, die Befindlichkeiten der anderen Heimbewohner als indirekte Schreie auffassen (dem Leser müsste man dann aber noch eine entsprechende Brücke bauen, um die Sache so zu sehen).

Dies wäre ein weiterer Schritt dich vom anekdotischen Erzählen zu entfernen, hin zum literarischen. Ein wenig tust du dies schon in dieser Geschichte durch den melancholischen Schluss, der einen gewissen allgemeingültigen Blick auf das Leben aufweist.

Liebe Grüße,

Woltochinon

 

@Akka
@Woltochinon

Ich danke für eure Kommentare. Sie haben mir sehr geholfen. Aus der Aneinanderreihung kleiner Anekdoten ist jetzt ein etwas zusammenhängenderes Bild aus dem Pflegeheim geworden.

Liebe Grüße

jobär

 

Hallo @jobär,

du hast ja schon sehr viel geschrieben, und es fällt mir schwer, Kritik zu äußern, wenn ich weiß, dass der andere deutlich mehr Schreiberfahrung hat als ich.
Aber was Pflegeheime betrifft, habe ich eigene Erfahrungen und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es dort einen Menschen geben könnte, der schreit, und das auch noch nachts. Meiner Erfahrung nach würde so etwas unterbunden werden, entweder durch medikamentöse Behandlung oder indem die Angehörigen gebeten würden, die Person wieder nach Hause zu nehmen.
Eine solche Ruhestörung würde dort auf keinen Fall geduldet werden: Zum einen könnte sie ängstlichen, älteren Bewohnerinnen Angst machen, zum anderen würde sie den Schlaf der anderen stören und das Personal übermäßig belasten.

Mir hat sehr gut gefallen, wie du die kleinen Eigenheiten der Bewohner beschrieben hast, und ich hätte gerne noch mehr über sie erfahren.
Ich gestehe, dass ich darauf gewartet habe, dass etwas Außergewöhnliches passiert …etwas, das diesem Tagaus, Tagein eine Wende gegeben hätte.
So hinterlässt dein Text bei mir eine gewisse Traurigkeit, aber vielleicht war das ja genau deine Absicht.

Liebe Grüße
CoK

 

Mir wurde hier jedenfalls klar, dass die Pflegerinnen Herrn Wolpert nicht einfach schreien ließen, sondern genau darauf hörten, was er rief.
Bis zu diesem Satz war es sogar ein bisschen spannend. Der Titel machte neugierig, die Figur hatte eine Biographie und etwas wurde zu seinen Einschränkungen bekannt und es gab eine große Herausforderung, die das Leben für alle erschwerte (--> Konflikt). Dann brichst du plötzlich ab und wechselst zu einer anderen Person und völlig neuen Problemen.

Frau Leisenstein lebte nicht für sich, wie die meisten Bewohnerinnen, sondern schaute auf die anderen und hielt auch Kontakt zu ihnen. So bat sie beim Essen: "Herr Jürgens braucht einen großen Löffel", oder sie schaute bei ihren Gängen ins Zimmer von Herrn Wolpert und meinte: "Warum schreien Sie so?".
Hier dachte ich, du nimmst wieder den Weg zurück zur ersten Figur und dem Konflikt.
Mir kommt da Frau Bormann in den Sinn.

Mir kommt Frau Lohberg in den Sinn.
Aber dann wieder zwei neue Figuren und die Einführungen sind wogar wortgleich. Ich wollte eigentlich wissen, wie es mit dem Herrn Wolpert weitergeht... Schade.


nachdem ich zuletzt zwei KI-Geschichten kommentiert habe, bin ich nun ein wenig misstrauisch.
Hier im Forum? Darf ich erfahren, welche das sind?

 

Hallo @CoK

ich könnte jetzt flapsig sagen, die Zimmertüren sind sehr dicht. Aber tatsächlich schreit mein Mitbewohner häufig, die ärztlichen Behandlungen haben immerhin dazu geführt, dass er längere ruhige Phasen hat. Ich finde es bewundernswert, dass die anderen Bewohner das Geschrei hinnehmen.

indem die Angehörigen gebeten würden, die Person wieder nach Hause zu nehmen.
Es gibt Kurzzeitpflege, damit die pflegenden Angehörigen einmal Urlaub machen können, aber die Dauerpflege in diesem Heim könnte nur durch ärztliche Bescheinigung aufgehoben werden.

Liebe Grüße

jobär

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom