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Schuld

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16.07.2009
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Schuld

„Freundschaft“, sagst du, „Freundschaft, die geht so schnell vorbei, wenn die ersten Gefühle kommen. Die fällt zusammen wie ein Kartenhaus und am Ende sagt man sich nichts mehr, nur noch: Die fehlte mir gerade noch ... Nicht: Du fehlst mir ... Man geht aneinander vorbei ... Nicht: Man geht aufeinanderzu. Da fehlen einfach die Worte.“

Du hast deine Unschuld auf dem Spielplatz verloren. Ein Junge, den du vorher noch mit Sand beschmissen hast, küsst dich auf die Wange. Ganz rau, die Zunge, und die Lippen voller Sand. Er hat sich am Schienbein verletzt, die Jeans ist aufgerissen, und Sandkörner kleben auf der Wunde. Du pfefferst ihm eine, dann rennst du zurück nach Haus. In der Wohnung liegt eine grüne Bierflasche auf dem Boden. Du stellst dir vor, wie ein Boot aus Streichhölzern gebaut dort drinnen aussehen würde; grün wie die Farbe der Flasche, auf einem grünen Ozean. Du legst dich aufs Sofa, siehst dir einen Cartoon an, mit deinem schiefen Kopf, der sich ab und zu die Flasche ansieht und sich das Boot darin vorstellt.
Hinter dem Glasfenster in der Tür zum Schlafzimmer siehst du die Köpfe deiner Eltern. Du verstehst sie nicht, dazu ist der Fernseher zu laut und die Tür zu dick, doch du hörst sie, hörst ihre Stimmen, dafür ist der Fernseher leise genug. Und als du wiederkommst (Du warst nochmal draußen auf dem Spielplatz, hast gewartet bis es dämmert, hast probiert wie schnell du auf der Rutsche werden kannst), als du wiederkommst ist die Flasche weg, das Schiff nicht mal mehr eine Erinnerung, und auf dem Boden hat jemand Scherben mit einem Kehrblech aufgefegt. Die Scherben sind weg. Weiße Glasspäne liegen noch auf dem Teppich. Du legst dich wieder aufs Sofa. Die Cartoons sind vorbei. Du denkst dir: „Mama wird ihm eine Neue kaufen müssen!“

Heute sitzt du in der Disco, deine Jeans ist zu weit, man kann deinen Hintern sehen, weil sie immer tiefer rutscht. Du spielst an dem Stirnband unter deinen blonden Haaren, darunter ist ein blauer Fleck vom... Du sagst, du seist mit der Stirn gegen einen Türrahmen gestoßen. Das ist dir peinlich. Auf die Frage nach deinem Alter sagst du erst: „17“, dann schüttelst du den Kopf, wirfst ihn nach hinten, bis dir die Strähnen aus dem Gesicht fallen. Du sagst: „16.“ Du sagst nicht 14. Du wirst rot, nimmst einen Schluck Gin Tonic. Dann siehst du mich wieder an und lächelst: „Und du?“, fragst du. „19“, sage ich und muss lachen.
Die Musik wird lauter. Der DJ, den ich noch aus der Schule kenne, legt Scooter auf. Er hat keine Lust zum Mixen. Dann legt er „Celebration“ von Madonna auf. Bei der Textzeile: „If it's too hot, we can go outside!“, nehme ich mich zusammen, nehme meinen ganzen Mut zusammen und flüstere: „Lisa!“. Du bewegst dich zum Takt, bewegst nur deine Beine. Tanzen kannst du nicht, genau wie ich. Ich nehme dich an die Hand, du lässt dich ziehen ohne zu laufen. „Mark!“, stotterst du. Ich ziehe dich raus, ziehe dich an dem Typen mit dem Stempel in der Hand vorbei. Du sagst: „Du bist zu schnell!“, doch wir sind schon draußen, allein. Die Sterne am Himmel sind blass, einfarbig. Ich sage: „Bleiben wir hier?“, doch du schüttelst den Kopf. Deine Lippen sind aufeinander gepresst, wie Luken. Nur kurzzeitig nimmst du sie auseinander. „Gehen wir lieber ein Stück“, flüsterst du und ziehst deine Hand weg.

Du hast den Jungen nie wieder gefunden. Du hast ihn gesucht, doch dann wurde es Winter, und Schnee lag auf dem Spielplatz. Der Sand war hart wie Beton. Mit einem T-Shirt bekleidet liefst du aus dem Haus und setztest dich auf die Schaukel. Den Himmel wolltest du erreichen. Schneeflocken fielen aus dem grauen Teppich, fielen dir auf die Nase und tauten. Weit kamst du nicht.

Ich gehe mit dir zu dem Spielplatz. Es ist dunkel. Nur die Umrisse der Geräte sind zu sehen. Du pulst die braunen Abdeckungen für die Schrauben aus den Kanthölzern und sagst: „Vor sechs Jahren ist hier mal jemand umgekommen. Ein Junge ist vom Gerüst gefallen und hat sich das Genick gebrochen. Er wollte springen, ist gestolpert und lag dann da. Die Haare voller Sand. Der Hals geschwollen. Der erste, der geholfen hat, war ein Polizist, der ihn einen Tag später entdeckte.“ Du setzt dich wieder auf die Schaukel und beginnst zu schaukeln. Die Scharniere quietschen. Ich stelle mich hinter dich, tue so, als wollte ich dich anschubsen, doch ich umarme dich und du wirst steif. Meine Hände umarmen deinen warmen Bauch, befühlen deinen Bauchnabel. „Ich war Schuld!“, flüsterst du, „Ich hab ihm eine gelangt und bin abgehauen. Dabei hat er mich nur geknutscht.“ Ich hab den Mund schon auf deinem Hals gelegt, will dich küssen, doch du bekommst eine Gänsehaut, also lasse ich es. Ich schaue auf die Uhr, werde nervös, schaue dich von hinten an. Auch die Stelle, die ich küssen wollte, ist ein blauer Fleck am Abheilen. Ich denke mir ..., dann sage ich dir..., flüstere aber nur: „Waren das deine Eltern?“
Du denkst nicht daran. Lichter gehen an, dann springst du auf, die Schaukel fällt zurück und pendelt sich aus. Dann weinst du und sagst: „Niemand!“. Du sagst: „Niemand sieht je, was hier passiert. Niemals!“
Du rennst davon, rennst nach Hause. Auf dem Boden im Wohnzimmer liegt eine grüne Bierflasche. Ein Tropfen hängt an dem Hals herunter. Du denkst wieder an das Boot aus Streichhölzern und siehst dich um. Der Schatten hinter dem Glasfenster könnte dein Vater sein. Oder doch nur eine Deckenlampe.

 

Hi Akachi,

Schuld setzt sich fort. Oft verkennen wir, dass uns Schuld genau so traumatisieren kann wie erlittenes Unrecht, uns blockiert, weil sie unser "Lebensrecht" infrage stellt.
Mir gefällt an deiner Geschichte die Schwebe. Es ist nicht klar, ob der Tod des Jungen real ist oder die Fantasie des Mädchens, das weggelaufen ist. Ebenfalls gefällt mir die aussichtslose Hoffnung, mit der der Erzähler versucht, gegen die Dämonen von gestern und heute anzukämpfen und das Mädchen zu erreichen.
Sprachlich finde ich den Text weniger gelungen, gerade, weil das Umgangssprachliche, das sich immer wieder einschleicht, ihm nicht dient. Es führt nur zu Ungenauigkeiten. Zwei Beispiele:

Du legst dich aufs Sofa, siehst dir einen Cartoon an, mit deinem schiefen Kopf, der sich ab und zu die Flasche ansieht und sich das Boot darin vorstellt.
nur der Kopf sieht sich ab und zu die Flache an?
Auch die Stelle, die ich küssen wollte, ist ein blauer Fleck am Abheilen
? - und "am Abheilen" geht ja wohl gar nicht.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo Akachi,

was mir an dieser Geschichte nicht gefällt, ist die Wahl des "Du" als Erzählperspektive. Eigentlich ist es ja keine Erzählperspektive, sondern einfach die unerhört direkte Art, mit der der Autor meine Vorstellung nach seiner Pfeife tanzen lässt, so vergleichbar mit einer Nötigung. So blieb mir nichts übrig, als diese Geschichte demonstrativ kühl und distanziert runterzulesen. So könnte ich es mir einfach machen und noch sagen: "Was das Inhaltliche betrifft, pflichte ich sim bei", das wär natürlich nicht nett.

Ich habe einmal selbst eine Geschichte hier veröffentlicht [DKmr2004], in der ich in der Schlusspassage aufs "Du" wechsele. Da hat es eine ganz andere Funktion: Distanzierung, statt Projizierung wie hier. Dennoch würde ich jene Geschichte heute anders schreiben, glaube ich.

 

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