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Schulstunde
Es ist 10.30 Uhr und die Schulglocke erklingt. Doch niemand nimmt sie wahr. Ich schreite ins Zimmer der Klasse 2g, blicke in die Reihen, setze mich auf den Lehrerstuhl und fahre fort in meinem Lieblingsbuch zu lesen. Auf den Gängen ist es noch immer laut und die Schulbänke sind leer. Nur die kleine Nora sitzt auf der Fensterbank und starrt in die verschneite Landschaft hinaus.
Es dauert einige Minuten bis die Klasse bemerkt, dass die Stunde begonnen hat. Marco sucht verzweifelt seine Hefte und Lisa isst ihr Brot fertig während Nina und Lea laut kichern. Nur das kleine Mädchen ist brav an ihrem Platz. Vor ihr: gespitzter Bleistift, Füller, Radiergummi und die Mathematikhefte. Ich schüttle den Kopf. Nur Nora schenke ich einen freundlichen Blick. Aber Nora sieht auf den Boden.
Weitere fünf Minuten vergehen bis ich mit dem Unterricht beginnen kann. Als ich aufstehe um an die Tafel zu gehen, springt Steffi auf und rennt nach vorne. Alle lachen, nur Nora nicht. Steffi vergisst immer die Tafel zu putzen. Obwohl ich diese heute gar nicht brauchen werde, sage ich nichts, setze mich mit einem Lächeln auf meinen Stuhl und sehe mir die Klasse an. Markus ist gerade eifrig mit SMS schreiben beschäftigt und lässt sich vom Unterricht keineswegs stören. Lea feilt ihre Nägel. „Ob sie vielleicht auch Nagellack dabei hat?“, denke ich mir. Sabrina gähnt völlig übermüdet und Marco sucht immer noch sein Zeug. Doch Nora sitzt aufrecht auf ihrem Stuhl, die Brille sauber geputzt und ganz hinten auf der Nase. Sie repetiert noch mal die Theorie der letzten Stunde.
Steffi ist fertig mit Tafelputzen und geht erschöpft zu ihrem Platz.
Nun verteile ich die neuen Aufgabenblätter und setze mich wieder in meinen Stuhl. Steffi schaut mich enttäuscht an, aber ich weiche ihren Blicken aus. Ich schaue mir Roland an. Er trägt einen alten, verwaschenen Pullover. Seine Mutter, ich nehme an alleinerziehend, stelle ich mir mit langen weissen Haaren, in wallenden Gewändern und mit selbstgemachten Steinketten vor. Eine Esoterikerin wie aus dem Bilderbuch. Doch sie gibt sich bestimmt sehr Mühe ihren Sohn zu Anstand zu erziehen. Rolands Haare hätten dringend eine Wäsche nötig und ebenso seine Hände. Ganz anders Nina. Sie trägt ein weisses rückenfreies Kleid, hautfarbene Strümpfe und weisse Sandaletten. „Ob sie mit denen Gehen kann?“, frage ich mich und schaue mir die Schuhe genauer an. Sie sind wirklich hübsch. Für meinen Geschmack etwas zu hoch, aber hübsch. Ihre Hände sehen ebenso gepflegt aus wie ihre Nägel. Sie haben die perfekte Länge, sind schön gefeilt und mit einem hellen Rosa lackiert. Nina trägt Silberne Ohrringe und eine passende Uhr. Auch Ihre Frisur sieht adrett aus. Sie hat braunes gelocktes Haar und trägt es hochgesteckt. Da könnte man fast neidisch werden. Wahrscheinlich kommt sie aus einer reichen Familie. Der Vater, bestimmt ein nobler Geschäftsmann, wird seiner Kleinen jeden Wunsch von den Augen ablesen und ihre Mutter, sicherlich eine solariumbraune Blondine, probiert Nina mit irgendwelchen Typen aus gutem Hause zu verkuppeln. Ich muss mich anstrengen nicht loszulachen und schaue weg.
Neben Nina sitzt Nora. Sie ist schon etwas seltsam. Nie sagt sie etwas und schreibt eine Sechs nach der anderen. Sie ist unauffällig und trägt immer dasselbe. Eine einfache Jeans und ein weisses T-Shirt. Dazu alte Turnschuhe und einen Pferdeschwanz. Sie sieht zufrieden aus. Im Gegensatz zu Marco. Er wirkt bedrückt und irgendwie einsam. Ganz am Rand sitzt er. Starrt auf sein Blatt als hätte er noch nie was von Mathe gehört und stützt dabei seinen Kopf mit beiden Händen auf. Er tut mir leid. Was wohl los ist mit ihm?
Ich schaue weiter in der Klasse umher und mein Blick trifft Tanja. Sie ist die Älteste. Lässig sitzt sie in ihrem viel zu kurzen Jupe da, die Beine übereinander geschlagen, einen Kaugummi im Mund und wickelt eine Haarsträhne um den Zeigefinger. Ich schmunzle. „Ob sie das mit Absicht tut?“, frage ich mich. Sie wirkt sehr selbstewusst, wenn nicht sogar arrogant. Doch ich glaube, dass das nur Fassade ist. Sie will die Coolste sein, die alle beneiden und bewundern, die jeden Typ haben kann auch wenn er schon 20 ist. Aber eigentlich ist sie ein ganz scheues, braves Mädchen, das nur etwas Anerkennung braucht.
Die Glocke erklingt. Alle springen auf, drücken ihre Hefte in ihre Taschen und rennen hinaus bevor ich ihnen die Hausaufgaben geben kann. Nur Nora sitzt noch brav an ihrem Platz und lächelt mich scheu an. Ich gebe ihr ein Blatt und sie bedankt sich. Sie packt ihre Sachen in den viel zu grossen Rucksack und verlässt das Zimmer zügig. Auch ich nehme meine Tasche und gehe in die nächste Klasse.