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Schutzengel
Sie blickte zurück auf die Stadt, in der sie zur Welt gekommen war, in dem Wissen, dass sie sie niemals wieder sehen würde. Danach schaute sie auf ihren sich bereits leicht wölbenden Leib und dachte traurig daran, dass dieses kleine, unfertige Geschöpf, das da in ihr heranwachsen sollte, ebenfalls niemals diesen Ort erblicken würde. Nichts könnte es jemals erblicken. Sie ging in die Bahnhofshalle hinein. Viele Leute liefen sehr beschäftigt von einem Ort zum anderen... Oder zumindest taten sie beschäftigt.
Sie lehnte sich an eine Wand um noch einmal diese Menschen zu beobachten, da fiel ihr Blick auf eine Gruppe kichernder Mädchen. Es war ein fröhliches, ausgelassenes Lachen, doch in ihren Ohren klang es wie Spott, beinahe Hohn.
Er drehte sich von dem Informationsschalter weg und sah das Mädchen mit diesen furchtbar traurigen Augen. Was bewegte sie so?
Er folgte ihrem Blick und sah, dass sie ein paar lachende Mädchen beobachtete. Machten die sie vielleicht so traurig? Was war nur mit ihr los? Irgendwie bewegte ihn dieses Mädchen und sein Schicksal.
Als er sie weggehen sah, guckte er auf seine Armbanduhr und beschloß ihr zu folgen.
Sie ging auf Gleis 3. Wieder schaute sie sich um. Es gab ihr einen schmerzenden Stich mitten in ihr bereits so verletztes Herz, als sie ein junges Paar, das gerade einen innigen Kuss teilte, erblickte. Wieder sah sie auf ihren Bauch und musste an den Vater des Ungeborenen denken. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, dass sie mit ihm gesprochen hatte. War das wirklich erst gestern gewesen? Es kam ihr vor als lägen Jahre zwischen ihrem letzten Treffen und jetzt. Als sich die Scene vor ihrem inneren Auge abspielte, sie noch einmal sah, wie er sich mit angewidertem Blick von ihr abgewendet hatte, rann ihr eine Träne über die kalte Wange. Nie hätte sie ihm so etwas zugetraut. Nie. Energisch wischte sie sich über die Augen. Sie hatte schon genug wegen ihm geweint. Damit sollte endgültig Schluß sein, doch immer wieder kamen ihr die Tränen.
Jetzt weinte sie doch tatsächlich! Am liebsten hätte er sie in die Arme geschlossen und getröstet. Was war nur mit ihr los? Hatte sie Ärger zu Hause und wollte nun weglaufen? Er malte sich hunderte mögliche Ursachen für ihre Tränen aus.
Langsam folgte er ihr an einen Platz des Bahnsteiges, der von den anderen Reisenden schwer zu überblicken war. Er stellte sich in den Schatten eines Eisenpfostens und sein dunkles Haar und die schwarze Kleidung verschmolz mit ihm. Nur sein Gesicht blitzte aus dem Schwarz hervor.
„Der ICE nach Duisburg fährt auf Gleis 3 ein. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.“, dröhnte ihr die gelangweilte Stimme einer Bahnhofsangestellten ins Ohr. Das letzte, was sie sah waren zwei graue Tauben, die sich unter ihr auf den Gleisen um einen besonders großen Brocken Brot stritten. Dann schloß sie die Augen.
Was tat sie denn da? Hatte sie nicht gehört, der Zug fuhr ein! Was hatte sie nur vor? Sie konnte doch nicht...?
Sie fühlte den Luftzug, der den ICE ankündigte angenehm auf ihrem warmen Gesicht. Der Wind wurde immer stärker und sie hörte bereits das ratternde Geräusch des sich nähernden Zuges. Jetzt! Jetzt war er nahe genug. Sie kniff die Augen fest zusammen, breitete die Arme aus und ließ sich nach vorne fallen.
Plötzlich fühle sie, wie sie zurückgezogen wurde. Der Zug sauste wenige Millimeter an ihrer Nasenspitze vorbei und hielt dann quietschend an. Sie öffnete die Augen und drehte sich langsam um. Da stand ein Junge, er konnte nicht älter als siebzehn sein, und hielt ihren zitternden Arm. „So sehen also Schutzengel aus“, dachte sie. Er hatte ihr Leben gerettet und plötzlich war sie ihm unheimlich dankbar.