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schwarz ist schön
Sie ging also fort von zuhause.
Man hatte sie aufgegeben. Es waren die Lehrer, die Eltern. Dabei war sie doch gar nicht so anders. Sie war bleich, zugegeben. Ein Verbrechen? Nein. Sie war dünn, fuchtelte beim Reden viel mit den Händen herum. Auch das scheint nicht schlimm. Aber was war denn nun anders an ihr?
Sie trug gerne schwarz.
Ihr bleiches, zartes Gesicht war ein solcher Kontrast zu ihrer Kleidung und ihrem Haar. Alles war so schwarz. Sie trug stets einen langen Schal, schwarz, um auch nur jeden winzigen Farbton ihrer Haut zu verbergen.
Sprach jemand sie auf ihren „Tick“ an, wurde sie wütend. Ballte ihre dürre Faust, schlug auf einen Tisch. Oder etwas, was gerade da war.
Ihre Eltern konnten sie nicht mehr verstehen. Was war denn nur mit ihr los? Sicher wollte sie mehr Beachtung. Dies entnahmen ihre Eltern jedenfalls einem Buch zur Kindererziehung.
Eines Tages las sie das Buch. Erst spät begriff sie, was das Problem war.
Man hatte ein Problem mit ihr.
Sie trug nun einmal schwarz. Zudem war sie auch ziemlich verschlossen. Aber irgendwelche okkulten Symbole trug sie nicht bei sich. Ihre Eltern fanden jedenfalls keine.
Nur ihre Großmutter fand den „Tick“ der Enkelin nicht schlimm. Es war weder Problem, noch Phase. Sie war doch noch so jung. Da denkt man ja schließlich nicht daran, was gewisse Dinge bedeuten können. Deshalb war die Großmutter stets erreichbar. Die Tür stand offen, jeder Zeit.
Auf der Beerdigung erschien das arme Mädchen nicht.
Da war sie schon fort.
Es war Sommer. Sie war allein. Die Trauer mit ihr. Sie ging einfach. Immer weiter. Irgendwann war sie so weit weg, dass sie nicht mehr umkehren konnte, wollte. Dort war ja eh niemand. Vor allem die Eltern fehlten.
Und Schule? Sie hatte sich an diesem Ort noch nie wohlgefühlt. Die Lehrer blickten sie komisch an, die Schüler sowieso. Dabei sagte sie ja kein Wort. Sie war zu eingeschüchtert. Später war sie dann nur noch gelangweilt.
Und so schritt sie einen der vielen Wege eines Parks hinunter. Es war schwül. Das Gras war braun und tot. Die Blätter grün und jung. Ihr war heiß, so heiß. Der Schal war unerträglich. Genau wie die Schuhe, die Füße, das bloße Gehen.
Sie ging schweigend zu einer blauen Parkbank. Zumindest war sie einmal blau gestrichen worden. Die Farbe war schon fast abgeblättert.
Sie setzte sich.
Dort saß sie. Stunde um Stunde. Sah die Menschen an wie sie alle an ihr vorbeizogen. Keiner blickte sie an.
Kinder kicherten. Ein verliebtes Paar spazierte nicht weit von ihr. Sie sahen alle so glücklich aus. Und sie? Weshalb war sie hier? Ging es ihr denn so schlecht? Ging es denn nicht jedem einmal schlecht? Sicher doch. Doch hatte doch auch jeder dann jemand anderen, zu dem er gehen konnte. Jemand, an dem man festhalten konnte. Sie hatte so jemanden nicht.
Und so blieb sie dort sitzen, auf der Bank.
Ein Mann setzte sich neben sie. Er verzog keine Miene. Er trug zwei volle Taschen mit sich. Bekleidet war er mit Hut und Mantel.
Er schien auf jemanden zu warten. Auf wen? Vielleicht wollte er sich mit einer Frau treffen. Vielleicht kannte er sich hier nicht aus. Er wirkte ein wenig merkwürdig. Er hatte einen leeren Blick, empfand sie.
Traurig war dafür kein Ausdruck mehr.
Sie saßen lange dort, zu zweit.
Gerne hätte sie ihn etwas gefragt. Wollte wissen, wie er hieße. Was er hier machte. Dinge, die man Menschen fragte, wenn man sich kennen lernen wollte.
Es dämmerte.
Die Leute verschwanden langsam in den Weggabelungen. Der Mann war immer noch da.
Wollte er wohlmöglich etwas von ihr? Sie ertappte sich, wie sie fantasierte. Das geschah oft. Auch in der Schule. Wunderliches sagte sie manchmal. Wunderlich für die anderen normalen Schüler. Für Lehrer, Eltern. Sie wusste noch, dass das Fantasieren aber ihre Großmutter herzlich amüsierte.
Regen.
Und der Mann saß da. Neben ihr. Er begann zu schluchzen.
Was sollte sie jetzt nur tun? Weggehen? Besser still sitzen bleiben und den Mann ignorieren. Auch wenn sie für andere sonderbar schien, war sie doch nicht herzlos.
Sie fing an sich mit dem Mann zu unterhalten. Er sagte allerdings nicht viel.
Nur: „Es sind meine Kinder.“
Und: „Schwarz ist übrigens meine Lieblingsfarbe.“
Nachdem es dies sagte, ging er.
Was war nur mit seinen Kindern? Waren sie weg oder sogar tot?
Muss das Leben wertlos erscheinen, wenn einem die Kinder genommen werden.
Sie war so arrogant. Saß da, badete sich im Selbstmitleid. Dabei ging es doch anderen Menschen nicht minder schlecht. Und diese Menschen verlieren auch ihre Großmütter, ihre Kinder.
Sie beschloss aufzustehen und zurückzugehen.
Es war mittlerweile dunkel geworden. Sie musste aus dem Park heraus und zur nächsten
U-Bahn Station. Alleine würde sie nicht mehr im Dunkeln spazieren gehen wollen.
An der Station angekommen, wartete sie auf den nächsten Zug nach Hause. Sie musste fast schmunzeln, dass sie so weit gegangen war. Aber sie hatte nun eine Einsicht. So schlecht war ihr im Leben doch gar nicht. Vielleicht würde sie mehr wagen. Zumindest dachte sie daran. Wie viel ein Tod doch etwas ändern konnte, erkannte sie.
Der Zug näherte sich der Station. Man konnte ihn schon hören. Sie trat zu den Gleisen, schaute aber nicht hinunter. Höhenangst hatte sie nicht. Aber in einer dunklen U-Bahn Station erscheint einem, vor allem ihr, vieles unheimlich.
Der Zug war nun ganz nah, fast schon angekommen.
Im Moment des Erscheinens drehte sie sich um. Nur Kurz. Für einen Augenblick. Sie sah dicht hinter sich den Mann von der Parkbank. Sie erschrak fürchterlich.
Drehte sich schnell wieder um, ergriff beherzt die Tür des Zugs. Freute sich auf Zuhause, fast jedenfalls.
Mit seinen Händen ergriff er sie dann. War ihr gefolgt.
Der Zug kam nach Plan an und fuhr nach Plan weiter. Ohne sie.
Schwarz ist schön.