Schwarz oder weiß
Es hat sich sehr schnell herumgesprochen, dass ich hier stehe. Obwohl, wenn es um mich geht, dann sind sie immer ruckzuck informiert. Vor nicht einmal zehn Minuten sind die beiden Jungs vom Bauer Frieder hier vorbeigekommen und haben mich gesehen.
„Was macht denn der Bimbo da auf dem Sockel unseres Freiheitskämpfers?“, hat der Jüngere gebrüllt.
„Der muss da runter! Wenn nicht anders mit Gewalt! Los, holen wir die anderen! Das müssen sie unbedingt sehen!“
Und schon sind sie losgelaufen.
Die anderen, das sind die restlichen 98 Einwohner des kleinen Ortes. Und nun kommen sie, aus allen Himmelsrichtungen, die Bauern in ihren verdreckten Hosen, mit ihren schwatzhaften Weibern im Schlepptau, die Alten und die Jungen.
Bürgermeister Heinze baut sich vor mir am Fuße des Sockels auf. „Was soll das, was machst du Nichtsnutz dort oben?“
„Der will wohl die Stelle unseres Freiheitskämpfers einnehmen“, lacht der Wirt und alle fallen ein.
So ist es immer gewesen. Ständig bin ich zum Gespött der Leute geworden.
„Jetzt komm sofort da runter! Oder soll ich zu dir raufkommen?“ Die Stimme des Gesetzes. Winter, der einzige Polizist in der Einhundert-Seelen-Gemeinde, rückt seine Mütze zurecht und plustert sich wichtigtuerisch auf. „Auf geht’s, du Rotzlöffel!“
Mit 25 Jahren als solcher bezeichnet zu werden ist eine Schande. Doch heute prallt alles an mir ab. Heute sitze ich am längeren Hebel.
Langsam, ganz langsam öffne ich meine Jacke. Ein Raunen geht durch die Umstehenden. Dann herrscht absolute Stille.
„Eine Bombe!“ Ich kann nicht ausmachen, wer diese beiden Worte gerufen hat, die Wirtin oder die Frau vom Bürgermeister. Eigentlich egal. Es sind alle beide hysterische Klatschweiber, die den Tod verdient hätten.
„Ja, eine Bombe! Wer mir zu nahe kommt, den nehme ich mit in die Hölle!“
Entsetzt weichen einige zurück.
„Der Bimbo und ein Bombenbastler! Dass ich nicht lach! Er hat doch im Physikunterricht immer geschlafen. Der kriegt nicht mal eine einfache Schaltung hin, von wegen so etwas Kompliziertes. Lasst euch von dem nicht ins Bockshorn jagen! Holt ihn da runter und bringt ihn nach Hause!“
Lehrer Schmidt, wie er leibt und lebt. Vier Jahre lang musste ich seine Schikanen ertragen.
Einige der Dörfler bleiben trotzdem skeptisch. Hat man nicht schon oft gehört, dass es gar nicht so schwer sein soll, eine Bombe zu bauen?
„He, Winter! Walte deines Amtes!“, befiehlt der Bürgermeister. „Schmeiß ihn endlich da runter!“
Vorsichtig kommt dieser näher, bleibt dann aber wieder stehen. „Warum immer ich? Wer garantiert mir, dass das nur eine Attrappe ist?“
Alle sehen sich an.
„Hast du nicht gehört, was Lehrer Schmidt gesagt hat?“, brüllt ihn Heinze an. „Der kann das nicht, der ist eine Null! Los jetzt!“
Doch der Hüter des Gesetzes rührt sich nicht. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Er hat Angst. Angst vor mir. Ich fasse Mut und versuche ihnen ein kleines Bisschen von dem heimzuzahlen, was sie mir mein Leben lang mit Hänseleien und Schikanen angetan haben.
„Ihr traut euch nicht? Habt ihr etwa Schiss, das Ding könnte wirklich losgehen? Vielleicht könnte es den ein oder anderen von euch mit erwischen?“
Sofort drängen die Dörfler zurück. Nur der Bürgermeister bleibt am Fuße des Sockels stehen.
„Ach, du fühlst dich wohl sehr mutig?“ Wo nehme ich nur den Schneid her, so mit dem Mann zu reden? Obwohl, es ist schon alles egal, da ich sowieso nicht mehr lebend aus dieser Sache herauskommen werde. Also, weiter.
„Ihr habt mich nie akzeptiert, habt mich nie in eure Gemeinschaft aufgenommen.“
„Schau mal in den Spiegel, dann weißt du warum!“ Der Sohn des Wirts wagt einen neuen Angriff.
„Vielleicht machst du mal das Gleiche? Sieh dich doch an. Mindestens 30 Kilo Übergewicht, kaum noch Haare auf dem Kopf und x-Beine hattest du schon in der Schule!“
Dieses Mal habe ich die Lacher auf meiner Seite. Der Wirtssohn dreht sich um und schaut wütend in die Menge, die sofort verstummt.
„Aber immerhin weiß ich, wo ich herkomme, habe ein anständiges Zuhause und kenne meinen Vater!“ Höhnisch grinsend wendet er sich wieder an mich.
„Das stimmt!“, mischt sich der Wirt ein. „Meine Frau hat nicht mit jedermann herumgehurt und ist dann mit einem Bankert im Gepäck wieder in ihrem Heimatort aufgetaucht.“
„Bist du dir da so sicher, Wirt, dass du wirklich der Vater bist?“
Ist es wirklich nur die Bombe allein, die mich so mutig macht?
„Das wirst du mir büßen!“ Der Wirt wird jedoch von seiner Frau zurückgehalten.
„Bist du wahnsinnig! Wenn das Ding losgeht!“
Ich verziehe den Mund zu einem Lächeln. Wieder habe ich eine Runde gewonnen.
„Hol doch einer mal seine Mutter! Die soll dem Bastard zur Vernunft bringen!“
„Das kannst du dir sparen, Bürgermeister! Meine Mutter ist gestern Abend gestorben!“
Erstaunt sehen mich die Leute an.
„Ja, habt ihr das denn nicht gewusst? Sonst funktioniert die Buschtrommel doch auch immer wunderbar.“
„Endlich hat sich die Hure vom Acker gemacht!“, ruft der Sohn des Wirtes.
„Woran ist denn deine Mutter gestorben?“, fragt Doktor Müller neugierig und bahnt sich einen Weg durch die Menge.
„Warum … warum sie gestorben ist, so solltest du eher fragen!“, schreie ich ihn an.
Erschrocken weicht der Arzt einen Meter zurück.
„Jetzt, wo meine Mutter elendig zugrunde gegangen ist, jetzt drückt dich dein Gewissen. Als es ihr schlecht ging, hatte der verehrte Doktor ständig andere Termine.“
„Ist doch nicht schade um die!“, keift die Frau Bürgermeister. „Die war sowieso nur ein Schandfleck in unserem Dorf!“
„Und damit der ganze Schandfleck in eurem Ort beseitigt wird, will ich einen Abgang, der jedem von Euch im Gedächtnis bleiben soll!“
Endlich werden die Bewohner aufmerksam auf mich.
„Alles, alles habt ihr mir genommen, meine Kindheit, meine Jugend und meinen Stolz. Jetzt habt ihr auch noch meine Mutter auf dem Gewissen.“
Ich schaue in die Runde und sehe zum Teil bedrückte, in sich gekehrte Gesichter. Aber es ist immer noch der ein oder andere dabei, der grinst. Dieses Grinsen soll ihnen auch noch vergehen.
Langsam hebe ich den rechten Arm und aktiviere den Zeitzünder. Noch zwei Minuten, dann ist alles vorbei.
Erschrocken starren alle auf die leuchtenden Zahlen, die im Sekundentakt blinken. Die ersten haben den Ernst der Lage erfasst und verlassen fluchtartig den Platz. Panik bricht aus.
Nur einer scheint die Situation gelassen zu nehmen. Der Sohn des Wirts steht wie zu Stein erstarrt vor mir und grinst immer noch.
„Bimbo, Bimbo da hast du allen einen schönen Schrecken eingejagt. Das reicht! Komm jetzt runter und geh nach Hause!“
Ich sehe auf die Uhr. Noch eine viertel Minute.
„Hast du nicht schon immer wissen wollen, ob ich innen genauso schwarz bin wie außen?“
Ich lächle, als er in letzter Sekunde versucht, sein Leben zu retten.