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Schwarz Weiß Grau
Mayer war müde. Er war immer müde wenn er aus dem Büro kam. Manchmal glaubte er, seine Augenlider würden ihre Schwere nie verlieren.
Früher, als Mayer noch ein Junge war, hatte er mehr Elan besessen.
Hinter dem Vorort, da, wo die Hunde des Schrotthändlers die Jungen eifrig verbellten, lag der Bolzplatz. Nach der Schule flogen die Ranzen in den Sand.
Die kurzen Lederhosen schützten die Knie kaum, zumindest verhinderten die hochgezogenen Strümpfe Wunden an den Schienbeinen.
„Junge!“, würde seine Mutter später sagen und kopfschüttelnd die grünen Flecken aus den Strümpfen reiben.
Mayer hatte immer gerne Fußball gespielt.
Mit Jürgen und Gunnar aus seinem Jahrgang gegen die Jungs vom Gymnasium.
Bis in den Herbst ging das.
Die Knie waren blau vor Kälte und der alte Ball vollgesogen mit nebliger Feuchtigkeit. Bei jedem Schuss erschien eine Korona aus den Spektralfarben im Licht der niedrigstehenden Sonne.
Blaugefroren waren sie in die Siedlung gelaufen, hinter deren Türen die Kohleöfen schon Wärme schenkten.
Der Vater war grau und in diesem Herbst ließ ihn der trockene Husten nicht mehr los. Der Nebel drückte den Rauch der Brände dicht auf die Erde.
„Die verdammte Kohle lässt mir meine Ruhe nicht.“, ächzte er schwer.
Mutter hatte schon länger verweinte Augen. Im November wusste Mayer endlich warum. Vor lauter Fußball übersah er völlig, dass der Vater immer weniger wurde. Bis zu dem Morgen, an dem er den Doktor schon vor der Schule aus den Federn klingeln musste.
Der Vater saß aufrecht im Bett. Das blaugewürfelte Kissen hatte ihm die Mutter umständlich in den Rücken gestopft. Er hustete und spuckte und spuckte und hustete. Grässlich. Mayer wollte das nicht sehen, er erinnerte sich genau.
„Junge“, sprach der Vater zwischen zwei Hustenanfällen, „Junge, gib auf die Mutter acht!“
Dann schickte ihn der Doktor hinaus.
Den Sommer darauf hatte der Fußball wieder Überhand genommen. Alles wurde zu Ball und Tor, die zerbeulte Konservendose und die Mülltonnen genau wie der Kieselstein und die beiden jungen Birken. Dazu kam das Training im örtlichen FC.
Auf die Mutter war kaum aufzupassen. Sie werkelte in ihrer geblümten Kittelschürze wie immer umher. Besorgte den Garten und das Haus. Einmal in der Woche sang sie im Zechenchor. Bis auf die sonntäglichen Gottesdienste war das alles an Zerstreuung.
Von der kleinen Witwenrente sparte sie sich ein paar Fußballschuhe ab.
Die bekam Mayer mit vierzehn zu Weihnachten. Die Saison darauf machte ihn sein Verein zum Torwart. Er hatte riesige Erfolge. Bekannt dafür, alle Elfmeter zu halten, war er auch ein Grund für den rasanten Aufstieg seiner Mannschaft.
Und Mayer wuchs. „Bald hast du den Vater eingeholt.“, seufzte seine Mutter und ging mit der Hacke zum Friedhof um die magere Erde um das Grab zu lockern.
Mit dem Bus fuhren sie zu den Auswärtsspielen. Die waren interessanter als neunzig Minuten auf dem vereinseigenen Bolzplatz.
Nachher gab es Frikadellen. Mit Senf.
Nach dem 8:3 gegen Borken gab der Trainer sogar ein Kotelett aus. Mayer hatte sich in diesem Spiel besonders gut geschlagen. Trotz Regenwetter hielt er fast jeden Ball.
Das war ein Bier wert. So befand der Trainer.
Es war Samstag und es konnte nicht schaden.
Mayer besoff sich zum ersten Mal. Er kippte das Zeug nur so in sich hinein. Schon nach den ersten Schlücken veränderte sich etwas. Und auf der Heimfahrt, als er vier Flaschen Aktienbräu intus hatte, drehte sich der halbe Mond von der einen Seite des Busses auf die andere.
„Junge!“ sagte die Mutter mit scharfem Ton, als der Trainer Mayer zuhause ablieferte.
„Junge, fang mir nicht das Saufen an.“
Aber Mayer hörte nicht hin. Er lag schon auf dem Sofa. Hinten, im Wohnzimmer, da wo die Tür nach draußen ging. In den Garten. Wo seine Kaninchenställe standen und Vater früher Tauben hielt.
Am Sonntag ging es ihm schlecht und er blieb den ganzen Tag im Bett.
Die Kaninchen hatten nichts zu fressen. Daran dachte er oft. Aber es ging nicht. Er konnte nicht aufstehen und sie füttern.
Als Mutter aus der Kirche kam stellte er sich schlafend. Mayer wusste, sie würde nicht in die Ställe schauen. Die Kaninchen nahm sie erst in die Hand, wenn sie abgezogen auf dem Küchentisch lagen.
Der sonntägliche Bratenduft verursachte ihm Brechreiz.
Er hörte die Mutter alleine unten essen und es tat ihm nicht leid.
Ihm tat plötzlich nichts mehr leid. Die Kaninchen nicht und auch nicht die Mutter.
Am Montag schwänzte er die Schule. Lehrer Krakauer würde der Mutter Meldung machen.
Darum ging er ganz.
Mayer hatte den Mief so satt.
Er packte ein paar Sachen in seine Schultasche und verschwand über die Landstrasse aus dem Vorort.
Bis zur Raststätte war es nicht weit.
Er musste bloß ein wenig Acht geben. Der Nachbar arbeitet hier als Tankwart.
Beim dritten LKW hatte er Glück. Der Wagen hielt und Mayer kletterte umständlich auf den Beifahrersitz.
Bis Livorno ging die Tour. Er staunte in den Bergen und war froh über die italienische Wärme, die er schon seit Verona im Führerhaus spürte. Der Lkw spuckte ihn am Hafen aus.
Da stand er nun. Fünfzehneinhalb war er, trug immer noch kurze Lederhosen und schämte sich ein wenig, als die Mädchen ihm etwas in fremder, melodischer Sprache nachriefen.
Doch Mayer besann sich schnell. Wollte er keine Probleme mit den Behörden bekommen, musste er irgendwo verschwinden.
Noch bevor die Sonne sich in das Meer senkte hatte er einen Job. Als Hilfsarbeiter heuerte er auf einem spanischen Frachter an.
Er hatte einfach Glück. Der zweite Offizier war Deutscher und Mayer lief ihm im Hafen über den Weg. Das Schiff nahm Ladung auf. Am nächsten Tag würde der Frachter ablegen.
Eigentlich fuhr er ja wieder zurück, dachte Mayer. Einmal um Europa rum, zumindest um die Staaten, die man bereisen konnte. Den Ostblock kannte er nur aus Erzählungen. Langweiligen Geburtstagen, wenn die Tanten und Onkels zum hundersten mal von Flucht und Vertreibung erzählten. Aus Städten, deren alte Namen heute auf keiner Karte mehr verzeichnet waren. Seine Mutter war auch geflohen.
Die Kaninchen kamen ihm in den Sinn. Und die Mutter, die sich bestimmt die Augen nach ihm ausheulte.
Seine Koje hatte er im Bauch der „Irma“, neben dem lauten Maschinenraum . Warm war es hier unten. In den Nächten schwitze er, das rhythmische Stampfen der Kolben nebenan wiegte ihn in den Schlaf.
Im Golf von Genua schrubbte er das Deck mit Meerwasser. Eimer für Eimer zog er in der prallen Sonne die Reling hoch. Seine Schultern und Arme verbrannten. Mayer trug nur das weiße Unterhemd zu der Lederhose. Bis der zweite Offizier ihm verlegen eine dünne Baumwollhose schenkte.
Mayer wuchs in dieser Hose. Plötzlich war er kein Junge mehr. Er war Matrose, die „Irma“ war sein Schiff und so behandelte er die alte Dame.
Von früh bis spät war er unterwegs. Führte Aufträge aus, erledigte Botengänge für die Mannschaft. Und er pflegte die „Irma“. Bei gutem Wetter strich er die Reling. Immer über die rostigen Stellen. Dicke, weiße Seemannsfarbe ließ alle rostigen Blasen und die rötlichen Tränenspuren verschwinden.
Sie fuhren in Sichtweite zur Küste. Das Festland war wie eine helle Linie am Horizont. Als sie die goldenen Inseln passierten kamen Mayer fast die Tränen. Er schwang den Pinsel mit der dicken Relingfarbe und konnte den Blick nicht von ihnen lassen.
Das hier war Freiheit. Richtige Freiheit im Vergleich zu dem verstaubten Leben in der Kleinstadt. Der Schule, dem FC.
Die Matrosen schlugen sich manchmal. Mayer wich vor den Kämpfen zurück. Bis auf den zweiten Offizier gab es niemand, der seine Sprache verstand. Mayer lernte ein paar Fetzen Spanisch. Aber es reichte nicht, um die aufgebrachten Unterhaltungen um den Kampf herum zu verstehen.
Nach der Straße von Gibraltar wurde das Wetter schlechter. Die „Irma“ nahm Kurs auf Rotterdam und stampfte die portugiesische Küste hoch. Rau war der Atlantik und Mayer kämpfte gegen die Seekrankheit. Aber er bestand. Breitbeinig stand er auf Deck und schmierte die Winden ab. Gischt umsprühte ihn. Seine dünne Windjacke konnte ihn kaum wärmen.
Der zweite Offizier gab ihm Ölzeug.
„Junge“, sagte er „warum bist du abgehauen? Wir haben einen Funkspruch bekommen, dass ein Bub wie du gesucht wird.“
„Der Vater“, stammelte Mayer . Und er erzählte dem Offizier von dem tristen Vorort, wo alles grau in grau ineinander überging. Dass er Angst habe, eines Tages auch in dieser Gräue zu verschwinden. Wie der Vater. Dass sein Gesicht auch so grau gewesen sei bevor er starb.
Am Horizont versank die rote Sonne im blauen Atlantik und Mayer sog die Farbe in sich auf. Der Offizier verstand ein bisschen, warum der Junge in dem viel zu großem Ölzeug weinte.
„Ich muss zurückfunken. Verstehst du?“
Mayer nickte. Sie hatten ihn.
Zwei Tage noch. Er stand fast durchgängig an der frisch gestrichenen Reling und sog die Weite in sich hinein. Neben dem Frachter sprangen Tümmler aus der Tiefe des blauen Wassers. Das Licht brach sich in den Tropfen und schillerte in allen Farben. Er dachte an die Fußballspiele im Herbst.
Mit dumpfen Tuten liefen sie in den Hafen ein. Das Geräusch der Schiffssirenen dämpfte den Abschied in seinem Kopf.
Der Offizier brachte ihn zum Zug.
„Versprich mir, dass du durchfährst!“
Mayer nickte. Wenn er etwas versprach, hielt er es auch.
Holland war noch grün, aber die Trostlosigkeit der Vorstadt hatte ihn schon kurz hinter der Grenze wieder.
Am Bahnsteig wartete die Mutter. „Junge“, sagte sie und schob ihn durch die Siedlung vor sich her. Sie hatte geweint. Mayer merkte es an dem zerknüllten Taschentuch in ihrem Ärmel. Und die Kaninchen waren gefüttert. Zwischen dem Maschendraht lugten Halme hervor.
Er ging wieder zur Schule. Als wäre nichts gewesen. Keiner sprach von seiner Reise. Nichts berühren was Vergangenheit war. Keine Fragen in die Tiefe. Mayer sah oft die Delphine vor sich, wie sie unvermittelt aus der Schwärze auftauchten. Er trainierte wieder. Waldläufe und Hallenspiele.
Schnell wurde es Herbst. Im nächsten Sommer machte er den Abschluss und bekam zur Freude seiner Mutter eine Anstellung als Buchhalterlehrling in der Zeche.
In seinem neuen, grauen Anzug verschwand er jeden Morgen hinter dem Schreibtisch eines Büros und multiplizierte endlose Zahlenreihen.
Den Fußball hielt er noch diese Saison durch. Als Ersatztorwart fuhr er bei einigen Spielen mit. Aber mit Spass war er nicht mehr dabei.
Lieber stand er am Rand und sah einfach zu.
Das Feld war mit weiß gestrichenen Rohren umzäunt. Wie eine Reling, dachte Mayer und er lehnte sich mit einem heimatlichen Gefühl dagegen.
In der Tiefe des Spielfeldes sah er die Tümmler aufsteigen, wie sie den schwarz-weißen Ball auf ihren Nasen von einer Ecke des Feldes in die Andere schossen.
Die grauen Leiber verdrängten die Spieler und der zertretene Rasenplatz verwandelte sich in das endlose Meer.
Mayer war müde.
@merlinwolf 2004