Schwarze Vögel
Kurz reißt die Wolkendecke auf, und es erscheint der Vollmond, wie ein großes, bleiches, göttliches Auge, das für einen Moment einen Blick auf die weite, kahle Landschaft wirft, die sich um mich bis in die Unendlichkeit erstreckt. Kurz wird sie von seinem kalten, fahlen Licht erhellt. Dann wird der Mond wieder vom dichten, unerbittlichen Dunst umfangen, und läßt mich wieder in Dunkelheit, fern jeder göttlichen Gnade. Am Firmament bleibt nur ein blasser, gelblich weißer, verschwommener Fleck, die Ahnung seiner entfernten Existenz, wie der Funken Hoffnung in mir, der langsam verglüht, einem glimmenden Docht gleich, genährt vom Wachs aus Lebenswillen.
Durch dieses unheimliche Leuchten hindurch ziehen sie mit ausgebreiteten Schwingen, unruhige Geister, Boten des Vergänglichen - die schwarzen Vögel. Ich höre das dumpfe Knattern ihrer Flügelschläge, spüre, wie die Luft unter ihnen bebt, wie sie mich zu Dutzenden umkreisen, weiß, daß sie warten, auf Nahrung, darauf, daß ich aufgebe. Rauschend schweben sie immer wieder dicht an mir vorüber, und der Luftzug kühlt meine Wangen, läßt mich frösteln. Sie umbranden mich wie ein düsteres Meer, und ihr rauhes Krächzen klingt wie der Sirenengesang, der mich in die Vergessen bringenden Wellen lockt. Aber noch folge ich ihm nicht, noch will ich leben, noch habe ich Kraft, noch schleppe ich mich weiter durch das kalte, monotone Nichts, das mich umgibt.
Doch sie haben Geduld.
Sie warten.
Wieder lichtet sich der Dunst, befreit sich der Mond aus dem finsteren Schleier. Nur noch ein schmaler, schwarzer Wolkenfetzen zieht sich waagerecht über die klare, runde Scheibe, wirkt wie eine Rasierklinge, die in Gottes Augapfel schneidet, und während der Mond gen Horizont sinkt, färbt sich sein Licht rot, ergießt sich wie Blut in die Welt.
Im roten Schein kann ich einige Meter vor mir einen riesigen, toten Baum erkennen, dessen lange, dürre, kahle Äste sich wie Geisterarme nach mir recken. Ich erblicke einen menschlichen Kadaver, der an dem breiten Stamm lehnt. Die schwarzen Vögel lassen sich auf ihm nieder. Ich beobachte, wie sie mit lautem Kreischen um seine Eingeweide kämpfen, zwei von ihnen im Streit um ein langes Stück Darm, ein bizarres Tauziehen, bis ihre Beute zerreißt und beide ihren Teil verschlingen. Ich trete näher, sehe das Gesicht des Toten, unkenntlich, zerfressen, ohne Augen, Nase, Ohren, das dunkle, lange Haar mit dickem Blut und Hirn zu einer klebrigen, schleimigen Masse geronnen. Und doch, mich freundlich willkommen heißend, lächelt der lippenlose Mund. In düsterer Erwartung leuchtend, schauen mich die leeren Augenhöllen an. Ich erkenne, daß es sich bei dem Leichnam um eine Frau handelt.
„Komm mit mir!“, höre ich ihre süße, lockende Stimme in meinem Kopf hallen, „Komm zu mir! Hier gibt es keinen Schmerz, keine Angst. Hier sind nur wir beide. Komm!“
Plötzlich lassen die Vögel von ihrem Fleisch ab, sehen mich an. Ihre tierischen Augen glitzern rot im Mondenschein. Ihre Blicke stechen tief in mein Inneres, wo sie in einem Eisklumpen explodieren. Erschauernd taumele ich zurück, wende mich ab und gehe eilig weiter, versuche, möglichst schnell möglichst viel Distanz zwischen mich und den Baum zu bringen.
„Wo willst du hin? KOMM SCHON!“ Die Stimme der Frau wird laut, schrill und bösartig, ein stechender Schmerz, der meinen Schädel zu sprengen scheint. Doch je weiter ich mich entferne, umso mehr ebbt das Stechen hinter meiner Stirn ab, umso leiser wird die Stimme.
Die Vögel folgen mir weiter.
Sie warten.
Langsam wandert der Mond immer tiefer, und schließlich schiebt sich die leuchtende Scheibe gemächlich hinter den Horizont. Panik steigt in mir auf, Panik, daß auch er mich allein läßt, hier in dieser ewigen Finternis. Ich eile ihm entgegen, versuche, ihn aufzuhalten, renne, versuche, ihn einzuholen. Doch es hat keinen Zweck, er verschwindet, und der letzte Lichtstrahl zerbricht. Mit gewaltiger Wucht schlägt die Dunkelheit über mir zusammen, ich stolpere, falle, bleibe reglos liegen. Ich höre das freudige Krächzen der Vögel, als sie neben mir niedersinken. Der Boden ist frostig. Die Kälte durchdringt meine Kleidung, saugt die Wärme aus mir. Ich friere, will mich wieder erheben, doch meine Glieder sind wie gelähmt.
„Warum wehrst du dich?“, will eine Stimme in meinem Kopf wissen, „Was hat das alles für einen Sinn?“ – Ich frage mich, ob es die Stimme der Frau ist. Oder ist es meine eigene? – „Warum willst du weiterleben? Sieh dich um! Was existiert noch, das dir etwas bedeutet? Da ist nichts, nur eintönige Leere, beängstigende Finsternis, Kälte, in der jedes Gefühl gefriert. Warum willst du weiterleben?“
Mit einmal wird mir klar, wie recht die Stimme hat. Wie sinnlos ist meine Anstrengung, meine Qual. Wär es nicht viel einfacher, wenn ich mich jetzt fallen, wenn ich es einfach geschehen ließe?
„Siehst du, so ist es doch leichter“, krächzt die Stimme.
Ein Blitz zerreißt die Nacht. Vor meinen Augen taucht der Kopf eines Vogels aus dem Dunkeln auf. Ich sehe die funkelnden Augen und den krummen, schwarzen Schnabel. Sein Kopf macht nickende Bewegungen, dann ist er wieder verschwunden. Es donnert. Ich höre, wie dicke Regentropfen auf den Boden prallen. Mir wird noch kälter. Doch ich friere nicht mehr. Eine zweite Kältequelle ist in mir entstanden und breitet sich nun aus, und mit ihr kommt ein Gefühl von wohltuender Ruhe. Schließlich füllt sie mich ganz aus, und ich werde eins mit dem Erdboden, mit der Schwärze der Nacht, mit dem Regen...
Ich spüre nicht mehr, wie die Vögel sich auf mir niederlassen und meine Kleidung zerreißen, um an das wohlschmeckende, noch warme Fleisch zu gelangen.
Sie haben lang genug gewartet.